„Wenn die Leute hören, meine Eltern waren Künstler, denken sie immer an Boheme. Aber wir waren so kleinbürgerlich wie alle anderen in unserer Kleinbürgersiedlung“
Bild: Stuart Wilson / Getty Images
Kaum ein Journalist kann sich den Hinweis darauf verkneifen, dass David Mitchell die ersten fünf Jahre seines Lebens kein einziges Wort über die Lippen kam. Dann wuchs er zu einem stotternden Teenager heran, bevor er als Autor hochkomplexer und verschachtelter Romane bekannt wurde, unter anderem von Cloud Atlas. Inzwischen hat der 45-Jährige sechs Bücher geschrieben und gilt vielen als der beste Schriftsteller seiner Generation. Nun wendet Mitchell seine mittlerweile beachtliche Eloquenz auf die „am radikalsten beschränkte“ Form der Kommunikation an, die es seiner Meinung nach gibt: auf Twitter.
Der Kurznachrichtendienst im Internet passe perfekt zum Protagonisten seiner neuen Kurzgeschichte, so Mitchell – einem kleinen Jungen, der seiner Mutter da
er seiner Mutter das Valium klaut, weil es das „Durcheinander der Welt auf überschaubare, mundgerechte Impulse“ reduziere. Der Junge denke und empfinde also in gewisser Weise in Tweets.Mit seiner Geschichte The Right Sort hat Mitchell jedenfalls den Beweis erbracht, dass man auf Twitter ernsthafte Literatur verfassen kann und das Medium sich nicht nur für Spielereien eignet. Ist seine getwitterte Erzählung ein faszinierendes Projekt für sich, so fungiert sie gleichzeitig als Aperitif für seinen sechsten Roman, der in ein paar Wochen erscheinen soll. The Bone Clocks nimmt seinen Ausgang 1984 im Großbritannien Margaret Thatchers und handelt von der großspurigen Teenagerin Holly Skyes, die als eine Art Medium für parapsychologische Phänomene fungiert.Mitchell wurde im Nordwesten Englands geboren, lebt aber mittlerweile mit seiner Frau und ihren beiden Kindern in Irland. Die künstlerischen Berufe seiner Eltern hat er stets mit der traditionellen – wenn nicht gar obligatorischen – britischen Selbstironie heruntergespielt: „Wenn sie hören, dass meine Eltern Künstler waren, denken die Leute immer an Boheme, aber wir waren genauso kleinbürgerlich wie alle anderen in unserer Kleinbürgersiedlung.“Es war für die Eltern keine Überraschung, dass ihr bibliophiler Sohn sich in Kent für Vergleichende Literaturwissenschaften einschrieb. Als er bei seiner Professorin, Jan Montefiore, als Babysitter arbeitete, schrieb er ihren Söhnen Gutenachtgeschichten, in denen zum Beispiel ein Adler vorkam, der in Chaucerischen Paarreimen sprach. Als Montefiore das sah, war sie so angetan, dass sie prophezeite, eines Tages werde sie damit angeben können, dass er bei ihr studiert habe.Zehn Jahre später war es dann so weit. Als Mitchell Ghostwritten veröffentlichte, wurde das Buch von vielen als bester Debütroman des Jahres gelobt. Dabei handelte es sich in Wahrheit gar nicht um einen Erstling. Nach der Uni unterrichtete Mitchell in mehreren Ländern rund um den Globus Englisch als Fremdsprache und während er sich in Hiroshima aufhielt, schrieb er The Old Moon, ein ausuferndes Werk mit 365 Kapiteln, mit jeder Menge Figuren und Handlungssträngen.Die Literaturagenten lehnten sein Manuskript ab, auch Mike Shaw. Es sei „ein heilloses, völlig überladenes Durcheinander ohne jede Ordnung“. Da Shaw aber spürte, dass Mitchell Talent hatte, bat er ihn, sich zu melden, wenn er wieder etwas geschrieben habe. Als Shaw Ghostwritten las, war er erstaunt, welche Fortschritte Mitchell gemacht hatte.Seitdem ist Mitchells Ruf mit jedem seiner Romane weiter gewachsen. Im Jahr 2004 veröffentlichte er Cloud Atlas, eine Sammlung von ineinander verschachtelten Geschichten, die vom 19. Jahrhundert im Südpazifik bis hin zu einer in Korea spielenden dystopischen Zukunft reichen. Aus „dieser acht Jahre alten Matroschka von einem Roman eines Briten, von dem noch nie jemand etwas gehört hat“, wie er selbst es formulierte, wurde 2012 ein 100-Millionen-Dollar-Film gemacht, bei dem die Wachowski-Brüder und Tom Tykwer Regie führten und jede Menge Stars wie Halle Berry, Tom Hanks, Susan Sarandon, Ben Wishaw, Jim Broadbent oder Hugh Grant mitspielten.Leider war der Film auch in jeder anderen Hinsicht ziemlich überladen. Der Kritiker, der beklagte, der Film wirke „wie ein gewaltiger Trailer für einen Film, der erst noch gedreht werden muss“, war nicht der Einzige, der sich an zu viel Bombast und Effekthascherei störte und die emotionalen Nuancen vermisste.Mitchell hingegen verteidigte den Film im Wall Street Journal: „Verfilmungen sind eine Art von Übersetzungen und beim Übersetzen gibt es immer auch Stellen und Aspekte, die nicht übersetzbar sind.“ Die Verkaufszahlen schossen jedenfalls in die Höhe. Auf einmal sah dieser freundliche Engländer, wie sein dichter, komplexer und fantasievoller Roman auf den Bestsellerlisten mit Büchern wie Fifty Shades of Grey konkurrierte.Sein Freund und Kollege Hari Kunzru sagt über Mitchell, was ihn auszeichne, sei „eine Art unbeschreibliches Gefühl für die kosmische Verbundenheit von allem“. „Ich weiß zwar nicht, wohin das führt – er scheint mit Vorstellungen von Reinkarnation und transzendentalem Bewusstsein zu liebäugeln –, es ermöglicht ihm aber, sich frei in künftigen und vergangenen Fantasiewelten zu bewegen, was für den Leser sehr unterhaltsam ist.“In The Bone Clocks erklärt ein Teenager: „Manchmal habe ich so sehr das Bedürfnis, überall zugleich zu sein, dass ich, dass ich ...“ Er imitiert, wie eine Bombe in einer Brust explodiert. Es fällt schwer, dies nicht als Selbstauskunft eines Autors zu lesen, dessen Prosa eben diesen Zaubertrick beherrscht: überall zugleich zu sein.
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