Des Friedensnobelpreises unwürdig

Äthiopien Der andauernde Krieg von Premier Abiy Ahmed gegen die Region Tigray führt zu Mord, Hunger und Vertreibung
Ausgabe 06/2021
Ein Kämpfer der Amhara-Miliz. An seinem Posten weht eine äthiopische Flagge
Ein Kämpfer der Amhara-Miliz. An seinem Posten weht eine äthiopische Flagge

Foto: Eduardo Soteras/AFP/Getty Images

Seyoum Mesfin, lange Zeit Außenminister Äthiopiens, galt als einer der bedeutendsten afrikanischen Diplomaten seiner Generation. Im Dezember wurde er in Tigray vermutlich von Soldaten eines weniger großen Mannes niedergeschossen – denen von Premierminister und Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed. Mancher macht mit Abiy verbündete eritreische Militärs verantwortlich, obwohl deren Präsenz in Tigray offiziell geleugnet wird. Die genauen Umstände von Seyoums Tod bleiben im Dunkeln, wie das auf viele Fälle von Mord und Totschlag in der Krisenprovinz zutrifft.

Als Abiy Anfang November den Angriff auf die nach Autonomie strebende Region befahl, sperrte er den Zugang zum Internet und verwehrte dem Roten Kreuz wie Journalisten den Zutritt. Inzwischen wurde der offene zum verdeckten Krieg, von dem die Außenwelt wenig weiß. Nachdem Mitte Januar endlich humanitäre Helfer einen begrenzten Zugang erhielten, schätzten sie die Zahl derer, die in Tigray sofort Nahrungsmittel benötigen, auf vier der sechs Millionen Einwohner. Hunderttausende seien vom Hungertod bedroht, auch eritreische Flüchtlinge in den Lagern Mai Aini und Adi Harush, die zudem von Banden schikaniert würden, ohne dass Addis Abeba eingreife, hieß es. UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi sprach von „konkreten Hinweisen darauf, dass Völkerrecht gebrochen wird“.

Dieses Urteil deckt sich mit Berichten über Massaker und Vergewaltigungen wie über die Zerstörung jahrhundertealter Manuskripte und Kunstwerke. Racheakte nehmen ihren verhängnisvollen Lauf und richten sich gegen die Bevölkerungsgruppe der Tigray als Titularnation der Provinz. Die Täter sind häufig Milizen der Amharen, der staatstragenden Ethnie des Landes. Vor Tagen berichtete die belgische NGO EEPA von einem Massaker an 750 Menschen in der Kirche der Heiligen Maria von Zion in Axum, die von der UNESCO zum Weltkulturerbe gezählt wird. Für das Blutbad werden äthiopische Truppen und Milizen gleichsam verantwortlich gemacht. Von unabhängiger Seite bestätigt ist das bisher nicht. Wenn Abiy erklärt, der Krieg gegen die einstige Regionalregierung der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) sei vorbei und habe Zivilisten weitgehend verschont, wird das allein von den 50.000 Menschen widerlegt, die in den Sudan geflohen sind. Ganz zu schweigen von noch mehr Obdachlosen, die in Höhlen Schutz suchen, seit der Krieg ihre Behausungen geschleift hat.

Rekruten aus Somalia

Offiziell bestreiten die Führungen Äthiopiens wie Eritreas, dass in Tigray auch eritreische Truppen kämpfen. Berichte von Augenzeugen sprechen für das Gegenteil, zumal der eritreische Diktator Isayas Afewerki und Abiy offenbar Zweckverbündete sind. Kurz vor dem Angriff auf Tigray am 5. November trafen sich beide Regierungschefs in Addis Abeba, um eine „regionale Zusammenarbeit“ zu vereinbaren. Staatschef Isayas Afewerki, der für sein Land ein autoritäres Regime bevorzugt, ist ein alter Feind Abiys, doch teilt er dessen Abscheu gegenüber Tigrays bisherigen politischen Führern von der TPLF. Diese hatten die Regierung des früheren Premiers Meles Zenawi dominiert, als Äthiopien in einem 20 Jahre dauernden Grenzkrieg gegen Eritrea stand. Abiy, der als Oromo zu einer der größten Ethnien Äthiopiens gehört, schloss 2018 Frieden mit dem Nachbarland und verdrängte die Rivalen in Tigray aus ihrem Machtreservat. Hinweise auf einen weiteren Alliierten kommen aus Mogadischu. Bei den Gefechten im November sollen auch 2.500 somalische Rekruten beteiligt gewesen sein. Zur Ausbildung nach Eritrea geschickt, sahen sie sich über Nacht an die Tigray-Front versetzt.

Internationale Reaktionen auf Abiys Unterwerfung Tigrays blieben bisher eher aus. Allein die EU sperrte Hilfsgelder für Addis Abeba in Höhe von 88 Millionen Euro auf unbestimmte Zeit. Freilich könnte der schockierende Mord an Ex-Außenminister Seyoum Mesfin die Passivität beenden. Dieser war ein anerkannter Vermittler, der sich einst als Friedensstifter um Ruanda und den Sudan verdient gemacht hat. Ihm war es maßgeblich zu verdanken, dass Äthiopien seit den 1990er Jahren auf dem eigenen Kontinent wieder an Ansehen gewinnen konnte. Wie sonst wäre es möglich gewesen, dass Abiy 2019 der Friedensnobelpreis verliehen wurde, weil die Aussöhnung mit Eritrea gelang. Nun aber scheint er die Kontrolle über Ereignisse verloren zu haben, die mit seiner Strafaktion gegen den Rivalen Volksbefreiungsfront ausgelöst wurden. Die von Abiy in der Tigray-Kapitale Mekele eingesetzte Marionettenregierung ist nicht Herr der Lage, marodierende Milizen plündern und vergewaltigen. Zu Abiys großer Schande geht das Gespenst einer Hungersnot um im Norden Äthiopiens. Er sollte seinen Nobelpreis zurückgeben und wegen des Vorgehens in Tigray zur Verantwortung gezogen werden.

Simon Tisdall ist Kommentator und Reporter des Guardian

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Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Simon Tisdall | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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