Als die Polizei von Dallas nach dem Mord an fünf Polizisten noch wenig darüber wusste, wer für die Taten verantwortlich war, hielt eine Bewegung den Atem an. Demonstranten und Aktivisten im ganzen Land stellten sich die Frage, wer die Schützen waren, die bei einem eigentlich friedlichen Protestmarsch sieben weitere Beamte und zwei Zivilisten verletzt hatten. Und was der Vorfall für die Zukunft von Black Lives Matter (BLM/Schwarze Leben zählen) bedeuten würde. Am besten fasst vielleicht ein Tweet des Schriftstellers Ijeoma Oluo Erschrecken, Furcht und Sorgen zusammen, wie sie vielen dunkelhäutigen Amerikanern nur allzu vertraut sind. „Wir sind alle wach und warten auf Nachrichten, denn wir wissen: Wenn der Schütze weiß ist, wird er bezahlen. Ist er schwarz, bezahlt unsere gesamte Bewegung.“
Brinsleys Handfeuerwaffen
Als schließlich der 25-jährige afroamerikanische Kriegsveteran Micah Johnson als Schütze identifiziert war, ließ sich spüren, wie diese Angst weiter um sich griff. Und als die Behörden bekannt gaben, Johnson habe, während er sich verschanzt hatte, der Polizei mitgeteilt, er sei wütend auf Black Lives Matter und wolle Weiße – besonders weiße Polizisten – töten, nahm sie sogar noch zu. Es war klar, wenn Johnson Black Lives Matter erwähnt, wird das die Debatte entfachen: Appellieren die Aktivisten lediglich an die Polizei, die Rechte schwarzer Bürger zu respektieren und Gewalttäter in ihren Reihen zur Verantwortung zu ziehen, oder ruft die Bewegung zu Gewalt, zu Straftaten und – laut einer New Yorker Boulevardzeitung – zum „Bürgerkrieg“ auf?
Für die vielen Führer von Black Lives Matter ist die Antwort darauf natürlich klar. Nach einer Woche, in der tödliche Schüsse von Polizisten in Baton Rouge, Minneapolis und Houston die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erneut auf exzessive Polizeigewalt gelenkt haben, darf es kein Zögern geben, den Polizistenmörder von Dallas zu verurteilen. Dies sollte man entschieden tun und dann versuchen, zum unverzichtbaren Anliegen der Proteste zurückzukehren.
„Wir können Gerechtigkeit nicht durch Gewalt herbeiführen“, meint Reverend Jeff Hood, der die Proteste in Dallas mitorganisiert hat. „Wir werden weiter das tun, was wir bisher immer getan haben: Wir lehren die Menschen, einander zu lieben und nach Gerechtigkeit zu streben.“ Seit Black Lives Matter aus der Rebellion von Ferguson im Jahr 2014 hervorging, wird das Netzwerk regelmäßig mit dem Vorwurf konfrontiert, allzu polizeikritische Positionen zu vertreten und zur Gewalt gegen Beamte anzustacheln. Vergangene Woche zeigte sich der ehemalige Kongressabgeordnete Joe Walsh genau davon überzeugt. Er äußerte sich auf Twitter, bevor irgendetwas über den Polizistenmörder von Dallas bekannt war. „Nehmt euch in Acht, ihr Gesindel von Black Lives Matter. Das echte Amerika ist hinter euch her!“ Der Tweet wurde mittlerweile gelöscht und Walsh erklärte, er habe nicht zu Gewalt aufrufen, vielmehr seine Auffassung bekräftigen wollen, dass „die Taten von BLM dazu geführt haben, Polizisten zu töten“. Die Organisation reagierte umgehend und bezeichnete diese Verleumdung als „gefährlich und respektlos“. Woher nehme Walsh das Recht, eine ganze Bewegung für die Tat eines Einzelnen verantwortlich zu machen?
Auch die Zahlen sprechen gegen Walshs Behauptungen. Laut Angaben des FBI haben Überfälle auf Polizeibeamte seit dem Entstehen von BLM und der neuen Protestwelle gegen Polizeiübergriffe nicht signifikant zugenommen. Das könnte sich freilich schnell ändern, denkt man an die Schüsse, die in den zurückliegenden Tagen auf einem Highway in Tennessee, in Ballwin (Missouri) sowie in Valdosta (Georgia) auf Polizisten abgegeben wurden – von denen jedoch keiner tödliche Folgen hatte. Der Berufsverband der US-Polizisten fragt: „Wie viele Angriffe und wie viele tote Beamte braucht es noch, bis endlich etwas getan wird?“ Bislang müssen einige wenige isolierte Vorfälle als Begründung für die Anschuldigungen herhalten, BLM schüre die Wut, die zu einem „Krieg gegen Polizisten“ führe; zum Beispiel die Morde an den New Yorker Cops Wenjian Liu und Rafael Ramos im Dezember 2014. Die Beamten saßen in ihrem Streifenwagen, als sie ohne Vorwarnung von Ismaaiyl Brinsley erschossen wurden, der in den Stunden vor dem Mord unter anderem das Bild einer Handfeuerwaffe ins Netz gestellt und daneben die Ankündigung platziert hatte, er werde „den Schweinen heute Beine machen“.
Ein weiterer Vorfall, für den BLM verantwortlich gemacht wurde, war der Mord am texanischen Sheriff Darren Goforth Mitte August 2015. Täter war Shannon Miles, ein Schwarzer, „dessen Motiv“ – so später das Büro des Sheriffs – „allein darin bestand, dass Darren eine Polizeiuniform trug“. Wegen einer ärztlich bestätigten psychischen Erkrankung musste sich Miles im Februar nicht vor Gericht verantworten.
Dabei hatten weder Miles noch Brinsley etwas mit BLM zu tun und nie nachweislich an irgendwelchen Demonstrationen der Bürgerrechtler teilgenommen. Die informelle Struktur von BLM macht es allerdings schwer, immer genau zu sagen, wer genau der Gruppe angehört und wer nicht. Die Organisation ist auf jeden Fall mehr als die Summe ihrer landesweiten Ortsgruppen. Der Slogan Black Lives Matter dient als Ruf der Ermutigung auf Meetings und Märschen. Er nimmt in der öffentlichen Debatte um institutionalisierten Rassismus bei der Polizei einen wichtigen Platz ein. Black Lives Matter steht für eine Bewegung, aber was diese will, das muss innerhalb und außerhalb dieser Bewegung nicht immer das Gleiche sein.
Nicht viel oder nichts
Während die Behörden noch damit beschäftigt sind, die Hintergründe und Motive des Amokläufers Micah Johnson in Erfahrung zu bringen (auch was genau er meinte, als er BLM erwähnte), ist ersichtlich, dass die Anführer der Bewegung – nicht zuletzt in Dallas – weiter auf friedlichen Straßenprotest setzen. „Gestern gab es Dutzende von Demonstrationen im ganzen Land, alle verliefen friedlich, bis auf eine“, meinte Brittany Packnett am Tag nach den Schüssen. Sie lebt in Baton Rouge, wo gerade Alton Sterling von Polizisten erschossen wurde. Packnett: „Die Frage lautet daher, ob sich Amerika mit dem Anliegen einer ganzen Bewegung auseinandersetzt oder mit der Tat eines Einzelnen.“
Packnett ist Mitbegründerin von We the Protesters und seit den Unruhen in Ferguson ein äußerst sichtbares Mitglied der BLM-Bewegung. „Mir geht es darum, weiterhin das zu tun, was wir von Anfang an getan haben: zivilen Ungehorsam zu leisten und auf eine systemische Veränderung hinzuwirken.“
Die Washingtoner Aktivistin Lauren Allen macht sich keine Sorgen, dass BLM in Verruf geraten könnte. „Black Lives Matter ist das einfachste Bekenntnis, das man sich vorstellen kann. Wer mit diesem Satz ein Problem hat, der kann doch nur der Meinung sein, das Leben eines Schwarzen zählt eben nicht viel oder es zählt nichts. Was in Dallas passiert ist, ändert daran nicht das Geringste.“
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