Die Autokratie ist die neue Normalität

Türkei Erdoğans Wiederwahl ist nicht das Ergebnis, das Europa sich erhofft haben dürfte. Angewiesen bleibt es auf den unversöhnlichen Sieger trotzdem
Guckguck, ich bin wieder da
Guckguck, ich bin wieder da

Foto: Bulent Kilic/AFP/Getty Images

Dadurch, dass er gleich in der ersten Runde der türkischen Präsidentschaftswahlen die absolute Mehrheit erringen konnte, ist Recep Tayyip Erdoğan in die vorderste Reihe von Machthabern im Stile Wladimir Putins, Chinas Xi Jinping und Ägyptens Abdel Fatah al-Sisi aufgestiegen. Seine kaum noch zu kontrollierende Herrschaft dürfte allerdings den Beginn eines neuen dunklen Zeitalters für die türkische Demokratie markieren.

In seiner triumphierend-aggressiven Dankesrede vom Balkon der Zentrale seiner neo-islamischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) schlug Erdogan einen Ton an, der für die Zukunft nichts Gutes erahnen lässt. Er ließ verlauten, weiter entschieden gegen diejenigen im In- und Ausland zu kämpfen, in denen er Feinde der Türkei vermutet.

„Wir werden uns niemals jemand anderem unterwerfen als Gott“, erklärte er. Für seine unterlegenen Herausforderer hatte Erdoğan keine versöhnlichen Worte übrig. Er hielt den grob 47% der Wähler, die ihn oder seine von der AKP geführte parlamentarische Allianz nicht unterstützt hatten, keine Olivenzweige entgegen. Angesichts seiner beängstigenden Bilanz seit 2003 haben die Unterlegenen durchaus Grund, seine politische Rache zu fürchten, sobald der Staub sich erst einmal gelegt hat. Denn wenn es um Rache geht, ist Erdoğan in seinem Metier.

Sie zu üben dürfte ihm noch leichter fallen, da er nun als Präsident quasi diktatorische Vollmachten erhält – wie im vergangenen Jahr eine knappe Referendumsmehrheit entschied. Durch den Entscheid erlangt er jetzt die Macht, Minister zu ernennen und zu beurlauben, das Parlament aufzulösen, Dekrete zu erlassen, Richter zu ernennen, die Streitkräfte zu führen und Krieg zu erklären.

Auch wenn Erdoğan versprochen hat, den Ausnahmezustand aufzuheben, den er 2016 nach dem gescheiterten Putsch verhängte, ist es unwahrscheinlich, dass die Tausenden von inhaftierten kurdischen Aktivisten und Abgeordneten, Anwälte, Beamte, Richter und Journalisten auf baldige Freilassung hoffen dürfen. An die 160.000 Menschen wurden im Jahr nach dem Staatsstreich verhaftet oder entlassen.

Die Wahl vor der Wahl

Wie schon bei vergangenen Wahlen gab es auch bei der jüngsten den Verdacht auf Wahlbetrug, insbesondere hinsichtlich des unerwartet guten Abschneidens von Erdoğans Koalitionspartner, Devlet Bahçelis Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). Die stärkste Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), beschwerte sich darüber, dass bereits vor dem Ende der Auszählung Ergebnisse veröffentlicht wurden.

Ein regierungsfreundlicher Fernsehsender hatte aus Versehen bereits drei Tage vor der Wahl am gestrigen Sonntag „Ergebnisse“ veröffentlicht, die einen Sieg Erdoğans zeigten. Ein Bericht der Nachrichtenseite Oda TV behauptete, der Sender habe Zahlen veröffentlicht, die vermutlich von der staatlichen Nachrichtenagentur bereitgestellt worden seien. Erdoğan erhielt dabei 53% der Stimmen und sein Herausforderer von der CHP, Muharrem Ince, 26%. Bei der „echten“ Wahl wich das offizielle Ergebnis davon nur geringfügig ab: 53% für Erdoğan und 31% für Ince.

Bereits vor dem Urnengang beschuldigten nicht namentlich genannte Quellen aus dem türkischen Sicherheitsapparat die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die Wahlbeobachter entsandt hatte, sie habe geplant, den Prozess in ein anrüchiges Licht zu tünchen. Einige europäische Beobachter wurden erst gar nicht zugelassen.

Am Sonntag erklärte die wiederholten und anhaltenden Repressalien ausgesetzte Tagezeitung Cumhuriet, es habe einen unerklärlichen „Denial of service“-Angriff auf ihre Internetseite gegeben. Doch auch wenn Ince die Wahl als unfair und die Berichterstattung in den staatlichen Medien als parteiisch kritisierte, wirkt der Protest der unterlegenen Opposition nur halbherzig.

Keine offizielle Untersuchung wegen des Betrugsverdachts wird erwartet – oder ist überhaupt möglich –, solange Erdoğan sie nicht selbst anordnet. Er dürfte eh kaum nachhaltig Notiz von irgendetwas nehmen, das die OSZE-Beobachter zu berichten haben. Stattdessen warnte er seine Kritiker nachhaltig davor, die Ergebnisse infrage zu stellen.

Erfreulich für das Anti-Erdoğan-Lager ist allerdings der Erfolg der prokurdischen HDP, die die 10%-Hürde übersprungen hat und erneut ins Parlament einziehen wird, obwohl ihr eigentlicher Vorsitzender, Selahattin Demirtaş, seinen Wahlkampf aus einer Gefängniszelle heraus führen musste. Der AKP wurden des Weiteren ihre parlamentarischen Flügel gestutzt. Für eine Mehrheit wird sie auf Bahçelis MHP angewiesen sein – eine Vernunftehe, die nicht unbedingt die ganzen nächsten fünf Jahre bestehen bleiben muss.

Ein moderner osmanischer Sultan

Erdoğans Wiedergeburt als moderner osmanischer Sultan wird in der Region und in Europa sicherlich mit Sorge beobachtet. Putin hingegen dürfte zufrieden sein. Trotz bilateraler Spannungen, die es während des Syrienkrieges gibt und gegeben hat, sind sich Moskau und Ankara mittlerweile wieder nähergekommen – befördert durch den Verkauf moderner russischer Raketen und einem gemeinsamen Programm zum Bau eines Atomkraftwerks.

Syriens Präsident Baschar al-Assad dürfte ebenfalls nicht völlig unglücklich über das Wahlergebnis sein. Obwohl Erdoğan schon kurz nach Ausbruch des Krieges 2011 mit ihm gebrochen hatte, liegt seine Priorität in Syrien mittlerweile darauf, den Einfluss syrisch- und irakisch-kurdischer Kräfte entlang der gemeinsamen Grenze einzudämmen – und nicht mehr in einem Regime-Wechsel zu Kosten al-Assads. Erdoğan dürfte sein Bündnis mit Russland und Iran weiterführen, auch wenn die USA und die NATO das nicht gerne sehen.

In seiner Dankesrede signalisierte er auch einen erneuten militärischen Vorstoß gegen militante Kurden im Südosten der Türkei. Damit droht eine Wiederholung der blutigen Ereignisse, die auf die Wahlen im Juni 2015 folgten. Ebenso wird Erdoğan seine obsessive Fehde mit der „Terror-Organisation“ seines Angstgegners, dem im Exil lebenden Prediger Fethullah Gülen, fortsetzen.

Seine Wiederwahl ist nicht das Ergebnis, das die meisten europäischen Länder sich erhofft haben dürften. Sie beklagen Menschenrechtsverletzungen, die Aushöhlung demokratischer Institutionen sowie Versuche, die säkulare Tradition der Türkei zunichte zu machen. Doch Europa ist auf die Unterstützung der Türkei in Sachen Flüchtende und Terrorismus angewiesen und wird deshalb wohl im gros still halten. Eine Ausnahme stellt Ungarns Premier Viktor Orbán dar. Er war der erste ausländische Regierungschef, der Erdogan seine Glückwünsche zukommen ließ.

Menschen wie Orbán, Putin – und Donald Trump – sehen in Erdoğan einen skrupellosen Machthaber wie sie es selbst sind: ultra-nationalistisch, unilateralistisch – und absolut skrupellos. Die Autokratie ist die neue Normalität.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Simon Tisdall | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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