Vor 15 Jahren schrieb sich ein junger, blasser Mann aus Irland an der Universität von Edinburgh ein, um dort „Künstliche Intelligenz und Computerwissenschaften“ zu studieren. Für das Projekt seiner Abschlussarbeit schuf Ian Clarke ein „dezentrales Informationsspeicher- und -abrufsystem“. Es war nichts weniger, als eine neue, revolutionäre Methode, das Internet zu nutzen, ohne Spuren zu hinterlassen. Mit Hilfe von Clarkes Software, die er ursprünglich kostenlos zur Verfügung stellen wollte, war es jedem möglich, nahezu völlig anonym im Netz zu chatten, zu lesen, eine Webseite einzurichten oder Dateien zu tauschen.
„Es schien so offensichtlich, dass dies die eigentliche Bestimmung des Internets ist – die Möglichkeit, frei und ohne Angst zu kommunizieren“, sagt Clarke heute. „Aber damals in den späten Neunzigern war dies schlicht nicht möglich. Das Internet konnte schneller und umfassender überwacht werden als ältere Kommunikationssysteme wie die Post.“ Seine Software sollte dies ändern. Seine Dozenten konnte er allerdings nicht so recht von seiner Idee überzeugen. „Ich würde sagen, ihre Begeisterung hielt sich in Grenzen. Sie gaben mir eine Zwei. Das Projekt kam ihnen wohl etwas skurril vor. Sie sagten, ich hätte nicht genügend vorangegangene Arbeiten zitiert.“
Clarke ließ sich aber nicht beirren und veröffentlichte seine Software im Jahr 2000 unter dem Namen Freenet. (Nicht zu verwechseln mit dem deutschen Internetprovider gleichen Namens.) Zehn Jahre später hat Clarke den Überblick darüber verloren, wie viele Leute seine Software benutzen: „Von der Webseite wurde das Programm mindestens zwei Millionen Mal heruntergeladen, vor allem in Europa und den USA. Da die Seite in autoritär regierten Ländern gesperrt wird, müssen die Leute sich Freenet dort über Freunde im Ausland besorgen.“ 2008 brachte Clarke eine verbesserte Version heraus: Sie unterdrückt nicht nur die Identität der Freenet-User, sondern auch die Tatsache, dass überhaupt jemand Freenet benutzt – egal, in welcher Online-Umgebung man sich bewegt.
Eine verschlossene Welt
Die Installation der Software dauert kaum länger als ein paar Minuten und erfordert nur minimale Computerkenntnisse. Man geht auf die Seite freenetproject.org, liest ein paar Anweisungen und beantworten einige Fragen („Wie hoch ist Ihr Sicherheitsbedarf?“ „NORMAL: Ich lebe in einem relativ freien Land.“ Oder „MAXIMUM: Ich habe vor, auf Informationen zuzugreifen, die zu meiner Verhaftung, Inhaftierung oder Schlimmerem führen könnten“) Und schon betritt man eine zuvor verschlossene Online-Welt. In einer zweckmäßigen Schrift und einfachen Beschreibungen listet ein offizieller Freenet-Index hunderte zugänglicher „Freesites“ auf.
Da findet man etwa: „Iran News“, „Horny Kate“, „The Terrorist’s Handbook: A practical guide to explosives and other things of interest to terrorists“, „How to Spot a Paedophile“ oder auch „Freenet Warez Portal“: Die Seite für Raubkopien von Büchern, Spielen, Filmen, Musik, Software, Fernsehserien und mehr. Es gibt Texte in Russisch, Spanisch, Niederländisch, Polnisch, Deutsch. Es gibt englischsprachiges Material aus den USA und aus Thailand, aus Argentinien und aus Japan. Man findet wirre Blogeinträge („Willkommen auf meiner Freenet-Seite. Ich bin nicht wegen albernem Pornozeug hier ... Aber möglichweise poste ich dennoch ein paar Bilder von nackten Frauen.“) Und man findet politische Texte, die wohl auch in vielen demokratischen Staaten als verfassungsfeindlich verboten wären. Das ganze wuselige Geschehen des Netzes, nur alles ein bisschen verrückter und intensiver. Oder wie es einer der Freenet-Blogger zusammenfasst: „Wenn Sie das lesen, haben Sie die dunkle Seite des Netzes betreten.“
Das Internet wird wegen seiner weltumspannenden Reichweite, der Möglichkeiten, die Zensur zu umgehen und seiner vermeintlich alles erfassenden Suchmaschinen oft für ein Wunder an Offenheit gehalten. „Sehr viele User glauben, sie bekämen alle Seiten des Netzes, wenn sie die Suchmaschine von Google benutzen“, sagt Anand Rajaraman, Mitbegründer von Kosmix, einer von vielen Suchmaschinen der Nach-Google-Generation.
Das dunkle Netz, das Netz jenseits der Oberfläche oder auch „Deep Web“– diese Metaphern allein lassen das Internet auf einen Schlag unergründlicher und geheimnisvoller erscheinen. Unter den Eingeweihten zirkulieren noch weitere Bezeichnungen. Nicht alle diese Begriffe bezeichnen dasselbe. Während etwa „Darknet“ ein anderes Online-Netzwerk wie Freenet bezeichnet, das für Nicht-Eingeweihte unzugänglich ist und das Potential für Gesetzesüberschreitungen birgt, besteht das „Deep Web“, so gespenstisch sich dies auch anhören mag, aus unbedeutenden Verbraucherdaten und Forschungsergebnissen, die von Suchmaschinen nur nicht erfasst werden. Der Begriff „Dark Address Space“ meint hingegen häufig nur Internet-Adressen, die aus rein technischen Gründen nicht mehr zugänglich sind.
Und dennoch haben all diese Begriffe und Metaphernn etwas gemeinsam: Jenseits des Blickfeldes der meisten Online-Nutzer gibt es noch ein weiteres, sehr weiträumiges Internet, das von Millionen Menschen genutzt wird, von den Medien aber weitgehend ignoriert wird und nur von wenigen Computerwissenschaftlern vollständig verstanden wird. Wie ist es entstanden? Was genau geht in ihm vor? Und repräsentiert es die Zukunft des Netzes oder vielmehr seine Vergangenheit?
Der amerikanische Wissenschaftler und Unternehmer Michael K. Bergman, gehört zu den führenden Experten für dieses andere Internet. In den späten Neunzigern versuchte er herauszufinden, wie groß es wirklich ist. „Ich habe zu meinen Leuten gesagt, es sei wahrscheinlich zwei- oder dreimal größer als das reguläre Web. Aber die Ausmaße des Deep Web raubten mir vollständig den Atem.“ 2001 veröffentlichte er eine Arbeit über das Deep Web, die noch heute regelmäßig zitiert wird: „Das Deep Web ist gegenwärtig 400 bis 550 Mal größer als das gewöhnliche World Wide Web. Das Deep Web ist der Teil des Netzes, der im Hinblick auf neue Informationen am schnellsten wächst ... Der Wert der Inhalte des Deep Web ist unschätzbar ... Internetsuchen erfassen lediglich 0,03 Prozent aller zugänglichen Seiten“, heißt es in Bergmanns Arbeit.
In den neun Jahren, die seit der Untersuchung vergangen sind, hat sich der Gebrauch des Internets in vielerlei Hinsicht verändert, aber Verbesserungen der Suchtechnologie bei Google, Kosmix und anderen haben eben erst begonnen, das Deep Web zu ergründen. „Eine Suchmaschine, die alles, auch die Seiten des verborgenen Netzes erfassen würde, wäre nicht besonders zweckdienlich“, sagt Juliana Freire, Professorin an der Universität Utah, die ein Projekt für die Suche im Deep Web namens Deep Peep leitet. „Es ist nicht machbar, alle Netzinhalte anzuzeigen. Es gibt einfach zu viele Daten.“
Doch das schiere Ausmaß stellt nicht das einzige Problem bei der Erfassung dar. „Bei der Suche nach einigen Seiten wurden wir gesperrt“, sagt Freire. „Es gibt schließlich Möglichkeiten zu verhindern, dass jemand auf all deine Daten zugreifen kann.“ Manchmal liegt dem ein kommerzielles Interesse zugrunde: „Die Leute haben viel Zeit und Geld investiert, um beispielsweise eine Datenbank für den Verkauf von Gebrauchtwagen zu erstellen und wollen nicht, dass diese jeder kopieren kann.“
Manchmal hat das Bedürfnis nach Privatheit aber auch andere Gründe. „Es gibt ein bekanntes Verbrecher-Syndikat. Man nennt es das Russian Business Network (RBN)“, sagt Craig Labovitz, der wissenschaftliche Leiter von Arbor Networks, einem der führenden Unternehmen für Online-Sicherheit. „Sie sind immer im Netz unterwegs und schnappen sich hier und da nicht-genutzte Adressen, die sie dann zur Versendung von Millionen von Spam-Mails verwenden, um sich danach schnell wieder auszuloggen.“
Das RBN verleiht auch zeitlich befristet Internetseiten an andere Kriminelle zum Zweck des Identitätsdiebstahls, der Verbreitung von Kinderpornographie und der Verbreitung von Computer-Viren. Seit seinen Anfangszeiten ist das Netz für derlei Machenschaften berüchtigt. Aber bis vor kurzem hat man kaum begriffen, wie die immer komplexere Geographie des Internets diese unterstützt hat. „Im Jahr 2000 war Dark Address Space noch recht neu“, sagt Labovitz. „Heute ist es ein fester Bestandteil des Netzes.“
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