Die Eiserne Lady

Gesundheit Margaret Chan ist Generaldirektorin der WHO. Geboren im Jahr des Schweins, führt sie den Kampf gegen die Schweinegrippe an. Doch das ist nicht ihr einziges Thema

Margaret Chan würde zweifelsohne darauf bestehen: Die richtige Bezeichnung für die Schweinegrippe lautet H1N1. Umso reizender ist es, dass die Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation gerade ein umgefallenes Papierschwein vorsichtig wieder aufstellt, als ich ihr Büro betrete. Das rosa-goldene Tierchen ist ein Überbleibsel der chinesischen Neujahrsfeier 2007, dem Jahr des Schweins. Es sei so süß, sagt Chan. Sie könne es jetzt doch nicht einfach wegwerfen.

Ein Jahr zuvor war Chan, Überraschungskandidatin bei einer Überraschungswahl (ihr Vorgänger war im Amt gestorben), als erste chinesische Staatsbürgerin auf den Leitungsposten einer großen UN-Behörde gewählt worden, und zwar mit einer klaren Mehrheit. Nun ist sie die mächtigste Gesundheits-Beauftragte aller Zeiten.

"Ich nenne die Dinge beim Namen"

Die winzige Frau trägt diese Autorität nicht unbedingt mit Leichtigkeit, aber ganz natürlich. In der für ihren umständlichen Sprachgebrauch bekannten Organisation kommt sie erfrischend direkt daher. Eine Stärke, der sie sich sehr wohl bewusst ist: „Ich habe den Ruf Klartext zu sprechen. Ich nenne die Dinge beim Namen.“

Am 11. Juni 2009 fand sie sich dann in der Situation, die erste WHO-Chefin seit 41 Jahren zu sein, die der Welt erklären musste, dass ein neues Virus pandemische Ausmaße angenommen habe. Bis zur letzten Minute hatten Wissenschaftler sie davor gewarnt, die Warnstufe so hoch anzusetzen. Doch nach der Definition, der zufolge eine Pandemie eine neue Krankheit ist, die sich unkontrolliert in mehreren Ländern verbreitet, war ihre Entscheidung absolut gerechtfertigt. Am 11. Juni war die Schweinegrippe in 74 Ländern registriert worden. Bei unserem Treffen in Genf vier Wochen später sind es bereits 140 Länder.

Im Jahr des Schweins

Vor 62 Jahren in einem anderen Jahr des Schweines geboren, begann Chan ihre berufliche Laufbahn als High-School-Lehrerin für Hauswirtschaftslehre, Chinesisch und Englisch. Als ihr Freund nach Kanada ging, um Medizin zu studieren, folgte sie ihm nach. Da sie ihn aber trotzdem nur sehr selten sah, schrieb sie sich ebenfalls für ein Medizinstudium ein. Nach ihrem Abschluss kehrten die beiden dann nach Hongkong zurück, wo Chan 1994 zur Gesundheitsdirektorin mit 7.000 Mitarbeitern ernannt wurde. Drei Jahre später kam der große Ausbruch der Vogelgrippe.

Damals lernte Chan, dass klare Kommunikation von allergrößter Wichtigkeit ist. Und dass zu viel Bemühen, ein Gefühl der Sicherheit zu verbreiten genauso schlecht sein kann, wie gar keins. Als sie versuchte, den Menschen in Hongkong zu vermitteln, dass der Genuss von Hühnerfleisch noch immer sicher sei, wurde sie gefragt, ob sie selbst noch Huhn esse. Die Antwort „Ja, jeden Tag“ sollte sie bereuen. Sie machte alle ihre vorherigen Bemühungen zunichte. Was ihre Kritiker nicht wussten, war, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Chan aß damals tatsächlich jeden Tag Huhn, genau wie sie in den fünf Jahren, die sie inzwischen in Genf ist, jeden Mittag (mit Ausnahme offizieller Anlässe) Thunfisch-Sandwich isst. Ihr Job sei so gewaltig, so unvorhersehbar, dass sie solche Fixpunkte brauche, „um bei Verstand zu bleiben“.

Lob für Chans Effizienz

Gleichwohl war der Schaden in Hongkong geschehen. Schließlich orderte Chan die Keulung aller 1,5 Millionen Hühner im Land an. Als dann 2003 die Sars-Epidemie auftauchte, war sie erfahren und tough genug, sich den Spitznamen „Eiserne Lady“ zu verdienen. Obwohl in Hongkong 299 Menschen starben und Kritiker ihr vorwarfen, zu langsam reagiert zu haben (sie hielt dagegen, es sei schwer gewesen, genaue Informationen vom chinesischen Festland zu bekommen), lobten die meisten Experten ihre Effizienz. Schließlich wurde sie gebeten, die Reaktionsfähigkeit der WHO auf die Bedrohung durch Infektionskrankheiten zu verbessern. Sie sei „die Einzige sei, die schon Krisen gemanagt habe“, sagte der damalige Generaldirektor ihr. Er habe „viele Sessel-Experten. Ich brauche Generäle“.

Der Krieg, den Chan zu kämpfen hat, präsentiert sich mit aller Härte. Nach Schätzungen des WHO-Berichts A Safer Future von 2007 könnten von einer Grippe-Pandemie 1,5 Milliarden Menschen oder ein Viertel der Erdbevölkerung betroffen sein. Wird die Schweinegrippe solche Ausmaße annehmen? „Nicht unwahrscheinlich. Aber eher nicht mit einem Mal. Sie würde wohl in zwei oder drei großen Wellen zurückkehren.“

Auf Todesfälle gefasst

Wie schätzt Chan die Dimension im Vergleich zu anderen Pandemien ein? „Gemessen Anzahl der betroffenen Länder und infizierten Menschen ist dies wohl die größte.“ Größer als die vom 1918? „Gemessen an der Sterberate sieht es anders aus. Da ist die von 1918 die größte. Ich möchte keine Vorhersagen machen. Wir sollten uns aber auf mehr Infektionen und mehr ernsthafte Verläufe und sogar Todesfälle gefasst machen.“

In wohlhabenden Ländern wie Großbritannien sei die Krankheit „selbstbegrenzend“. „Einige Erkrankte genesen sogar ohne Medikamente. Aber wird es in Ländern mit hoher HIV-Infektionsrate, chronischer Mangelernährung oder Diabetes auch so sein?“ Zu den gefährdetsten Gruppen gehören schwangere Frauen. Zudem trifft H1N1 anders als die saisonale Grippe vornehmlich gesunde Menschen zwischen 30 und 50 Jahren – Entwicklungsländer haben häufig große, junge Bevölkerungen und viele Menschen leben dort eng zusammen. Zudem verfügen diese Länder häufig nicht über geeignete Diagnosemöglichkeiten und oft sind auch antivirale Medikamente wie Tamiflu nur äußert schwer, oder beinahe überhaupt nicht erhältlich. „Ist es gerecht“, fragt Chan rhetorisch, “dass diese Länder der Pandemie mit leeren Händen gegenüber stehen?“ Also hat sie sich an die Herstellerfirmen gewandt: Gerade hat Roche 5,6 Millionen kostenlose Dosen antiviraler Medikamente bereitgestellt, die Chan an Entwicklungsländer gegeben hat. Nun hofft sie auf weitere 5 bis 6 Millionen Dosen.

Das Rennen um einen Impfstoff

„Mit den Impfstoffen ist es aufgrund der eingeschränkten Produktionskapazitäten sehr viel schwieriger“, erzählt sie. Europäische und nordamerikanische, sowie ein paar asiatische Hersteller liefern sich ein Rennen um einen Impfstoff gegen die neue Krankheit. „Im August sollte eine erhältlich sein. Doch ein erhältlicher Impfstoff ist nicht dasselbe, wie ein erwiesenermaßen sicherer. Klinische Daten werden wir erst in zwei oder drei Monaten haben.“

Das Bemühen um einen Impfstoff hat sie auch viel über gesundheitliche Ungleichheit gelehrt: „Ein Großteil der Produktionskapazitäten ist bereits von den reichen Ländern ausgebucht. Wieder muss ich fragen, ob es gerecht ist, dass die Entwicklungsländer als letzte dran sind. So werden sie erst in einem halben Jahr Impfstoffe haben.“ Deshalb versucht Chan die Hersteller zu überzeugen, einen Teil ihrer Produktionskapazitäten für Entwicklungsländer zur Verfügung zu stellen – zehn Prozent, so lautet ihre bescheidene Forderung.

Nun existiert auch der Einwand, die Schweinegrippe sei „bisher mild“ verlaufen. Viele Länder werden vielleicht gar nicht impfen oder zumindest keine Impfpflicht einführen. Chan weiß, dass die Krankheit sich von selbst erledigen könnte, ohne großen Schaden anzurichten. Sie könnte sich aber ebenso gut irgendwann mit einer sehr viel virulenteren und tödlicheren Mutation konfrontiert sehen.

Klimawandel und Ernäherungssicherheit

Die käme dann zu den unzähligen anderen Krankheiten und Krisen hinzu, die derzeit die Aufmerksamkeit der Honkongerin beanspruchen. Die immensen Auswirkungen des Klimawandels beispielsweise, die sie für „das bestimmende Thema des 21. Jahrhunderts“ hält. Ein anderes Problem ist die steigende Ernährungsunsicherheit, die Chans Prognose nach zu einer Zunahme der Todesopfer in Folge von Mangelernährung, Durchfall oder gar Kriegen führen wird. Mehr Überflutungen werden mehr Wasserverschmutzung und Probleme im Zusammenhang mit der Wassersicherheit, sowie einen Anstieg der Todesfälle durch Verletzungen oder Ertrinken mit sich bringen. Eine Zunahme wasserreicher Gegenden in Kombination mit Temperaturveränderungen würde einen drastischen Anstieg der von Erregern übertragenen Krankheiten wie Malaria oder dem Dengue-Fieber bedeuten.

„Aller Voraussicht nach wird die Nahrungsmittelproduktion in Afrika in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren um 50 Prozent zurückgehen. Wie viel mehr Menschen werden dann hungern? Man darf nicht vergessen, dass mangelernährte, in ihrer Entwicklung gehemmte Kinder nicht ihr volles Bildungspotential entfalten können. Das wird auch enorme soziale und wirtschaftliche Konsequenzen haben.“

Lifestyle-Krankheiten auch in Entwicklungsländern

Mit Sorge betrachtet Chan auch den enormen Anstieg nicht ansteckender Krankheiten wie Krebs und Diabetes oder durch Rauchen verursachte Folgeerkrankungen außerhalb ihrer bislang herkömmlichen Verbreitungsgebiete in westlichen Wohlstandsländern. Besonders problematisch sei, dass für diese Erkrankungen bei weitem nicht so viele Finanzmittel bereitgestellt würden, wie zum Beispiel für Malaria, Polio oder HIV/AIDS: „60 bis 80 Prozent der Krankheitslast in Entwicklungsländern geht inzwischen auf so genannte Lifestyle-Krankheiten zurück.“ Trotzdem standen für nicht ansteckende Krankheiten bis vor zwei Jahren, als die Bloomberg- und Gates-Stiftungen die Initiative ergriffen, kaum Gelder zur Verfügung.

Und natürlich gehen auch die Schlachten weiter, die ohnehin immer laufen: Gegen Malaria (mindestens sieben afrikanische Regionen haben die Todesopferzahlen um die Hälfte reduziert), Polio, Masern, HIV. Und gegen die Tuberkulose, die eine weitere globale Gefahr darstellt: „Die große Herausforderung ist die medikamentenresistente Tuberkulose“, warnt Chan. „Sollte die außer Kontrolle geraten, wird uns das in die Zeiten vor dem Antibiotika zurückversetzen.“

Urlaub? Nicht während einer Pandemie

Und so fangen ihre Tage um sieben Uhr morgens an und enden spätabends über ihren Akten. Das Hauptquartier der WHO ist fünf Minuten Fußweg von ihrer Wohnung entfernt. Sie fährt kein Auto und spricht so wenig Französisch, dass sie nach ihrer Ankunft beim Einkaufen noch nicht einmal einen Dosenöffner finden konnte. Ihr Mann ist nicht mit nach Genf gezogen. Dreißig Jahre lang hatte er für sie gekocht, sie selbst hatte es in der Zwischenzeit verlernt – nach eineinhalb Jahren erkrankte sie an Anämie. Das Leben ohne ihren Gatten fordert seinen Tribut.

Doch ihre Amtszeit ist auf weitere zweieinhalb Jahre befristet. Bis dahin heißt es: fliegen. Am Tag nach unserem Treffen reist sie ins ägyptische Sharm-el-Sheikh, um vor den Ehefrauen internationaler Staatschefs über Sterblichkeitsraten von Müttern zu sprechen. Ein Zwischenstopp auf dem Weg nach Hong Kong, wo sie ein paar Wochen Urlaub verbringen wird. Obwohl man „bei einer Pandemie nicht wirklich Urlaub machen kann“.

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Gekürzte Fassung. Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Aida Edemariam, The Guardian | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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