Wer mit Hilfe einer Ei- oder Samenspende zur Welt gekommen ist, musste bis vor kurzem noch zum Privatdetektiv werden, um seine biologische Familie zu finden. Das Gesetz war darauf ausgelegt, die Identität von Eltern und Spendern zu schützen. Doch zumindest in Großbritannien hat sich die Einstellung zu genetischer Verwandtschaft radikal gewandelt. Kommenden Monat tritt dort ein mit zahlreichen Ergänzungen befrachtetes neues Gesetz in Kraft (Human Fertilisation and Embryology Act), das es durch Ei- oder Samenspenden gezeugten Menschen ab dem 18. Lebensjahr ermöglicht, in Erfahrung zu bringen, ob sie noch Geschwister haben und wer diese sind. Jeder, der bereit ist, seine Daten auf einer neu angelegten Geschwisterdatenbank zu speichern, hat nun die Möglichkeit, et
Die Frage nach dem Woher
Abstammung Was passiert, wenn Kinder aus Samen- oder Eizellenspenden nach ihrer Herkunft fragen? Die Observer-Autorin Kati Whitaker hat mit Eltern, Kindern und Spendern gesprochen
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Kati Whitaker, The Observer
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The Guardian
e Daten auf einer neu angelegten Geschwisterdatenbank zu speichern, hat nun die Möglichkeit, etwas über eventuell vorhandene Brüder und Schwestern herauszufinden, die mit denselben Spermien oder Eizellen gezeugt wurden – vorausgesetzt, beide Seiten sind einverstanden.Das im Adoptionsrecht bereits anerkannte und berücksichtigte Bedürfnis der Betroffenen, etwas über ihre Vergangenheit zu erfahren, führte 1991 im Vereinigten Königreich zu einer grundlegenden Revision des Gesetzes. Infolge wurde die Human Fertilisation and Embryology Authority ins Leben gerufen, um ein Register aller Keimzellen-Spenden anzulegen. Nun konnte jeder, der nach 1991 mithilfe einer Ei- oder Samenspende zur Welt gekommen ist, bestimmte Informationen wie Haar- oder Augenfarbe, Größe oder ethnische Zugehörigkeit über Spendervater oder Spendermutter erhalten, aber nichts, was ihn oder sie identifizieren könnte. Ei- und Samenspendern wurde Anonymität garantiert. Mit Ablauf dieses Jahres wird der erste nach 1991 mit einer Ei- oder Samenspende gezeugte Mensch sein 18. Lebensjahr vollenden und möglicherweise der erste von vielen sein, die mehr über ihre bis dato unbekannten Eltern erfahren wollen.Diese Veränderungen bringen die Probleme in den Blick, die aus durch Spenderzellen ermöglichte Schwangerschaften entstehen: Eltern, die ihren Kindern vielleicht lieber weiter verschweigen würden, dass sie nicht genetisch verwandt sind, müssen das Recht ihres Kindes akzeptieren, seine biologischen Wurzeln kennen zu lernen. Neue Ei- oder Samenspender, deren Identität nun ihrem Nachwuchs offenbart werden darf, müssen nun wohl etwas intensiver darüber nachdenken, welche Rolle sie bei der Schaffung eines neuen menschlichen Wesens spielen. Und für die Spender-Kinder selbst eröffnet die Möglichkeit, ihre biologischen Verwandten ausfindig zu machen, eine völlig neue Vorstellung, dessen, was Familie bedeutet.Durch Samenspende gezeugte Geschwister:Shirley Brailey, 59 und David Gollancz, 53Als Shirley Brailey an einem kalten Märzmorgen des Jahres 2004 einen kleinen weißen Umschlag öffnete, tanzte sie euphorisch in ihrem Zimmer umher. Der Brief enthielt das erste positive Ergebnis einer ganzen Reihe von DNA-Tests, die sie in der Londoner Mary Barton Fruchtbarkeitsklinik hatte durchführen lassen: Sie hat eine Halbschwester. „Schon mein ganzes Leben lang hatte ich das Gefühl, dass ein Teil von mir fehlte. Als mir klar wurde, dass es mir vielleicht möglich sein würde, Angehörige meiner biologischen Familie in Erfahrung zu bringen, war diese Leere mit einem Mal weg. Ich war völlig außer mir.“Shirley war zwölf, am Rande des Erwachsenwerdens, als ein Freund der Familie ihr beibrachte, dass sie mithilfe einer Samenspende gezeugt worden war. Er verglich das mit der Art und Weise, wie die Besamung von Kühen vonstatten geht. „Ich erinnere mich daran, wie ich die Treppe hoch gerannt bin und mich aufs Bett geworfen habe. Den Schock musste ich erst einmal verkraften. Ich hatte das Gefühl, kein Mensch mehr zu sein, sondern vom Teufel abzustammen.“Trotz eines Schreibens an die Fruchtbarkeitsklinik konnte Shirley fast nichts über ihren Vater in Erfahrung bringen. Damals war Spendern noch Anonymität garantiert worden und die Klinik behauptete, man habe alle Unterlagen verbrannt. Shirleys Mutter erzählte ihr nur, die Klinik habe zur Voraussetzung gemacht, dass der Spender bereits drei gesunde Kinder hatte. Also wusste sie von Anfang an, dass sie drei Halbgeschwister hatte. „Als ich älter wurde, überlegte ich, wie oft er wohl noch Samen gespendet hatte. Ich fing an, mir die Leute in der U-Bahn genauer anzusehen, um zu erkennen, ob wir uns vielleicht ähnlich sahen. Ich hing dem Tagtraum nach, wir könnten uns einmal alle in einem großen Saal treffen, gleich aussehen und eine wundervolle große Familie bilden.“Lange blieb dies eine bloße Phantasie. Doch dann stieß sie neun Jahre später auf einen Artikel, der von Leuten geschrieben war, die in derselben Klinik wie sie gezeugt worden waren. Auch sie hatten nach ihrem Spender-Vater gesucht und herausgefunden, dass er bereits verstorben war. Das war allerdings noch nicht das Ende der Geschichte. Die Gruppe wurde von dem ganz besonders hartnäckigen Barry Stevens angeführt. Sie alle ließen ihre sowie die DNA der offiziellen Kinder von Shirleys Vater untersuchen, die Barry ausfindig gemacht hatte. Im Laufe der folgenden Jahre kamen immer mehr Leute hinzu. Shirley fand heraus, dass sie mindestens 13 Halbgeschwister hat – eines von ihnen ist Barry. Und es könnten noch Hunderte mehr sein.Sie erinnert sich daran, wie sie einen von ihnen traf, der gleich bei ihr in London um die Ecke lebte. „Ich dachte, er sieht mir überhaupt nicht ähnlich. Aber ich mochte ihn gleich von Anfang an. David hat so etwas Familiäres. Ich habe in ihm und den anderen eine Geisteshaltung und Energie wahrgenommen, die wir gemeinsam haben.“ Die meisten der Halbgeschwister bleiben miteinander in Kontakt, obwohl sie in verschiedenen Teilen des Landes leben. Sie treffen sich zu Einkäufen, zu Museumsbesuchen oder telefonieren miteinander. „Wir sind nicht Brüder und Schwester im herkömmlichen Sinne, denn wir haben keine gemeinsame Geschichte. Wir sind aber auch keine Freunde. Es gibt da eine unergründliche Verbindung.“Ein freiwilliges Geschwister-Register hätte ihr viel Herzklopfen und Mühe erspart, meint Shirley. „Es ist unheimlich wichtig, etwas über seine biologische Familie herausfinden zu können. Wenn man mithilfe von Ei- oder Samenspenden gezeugt wurde, ist das größte Problem, das man hat, die Unsicherheit darüber, wer man ist. Ich werde mich nie in dem Maße vollständig fühlen wie jemand, der seinen Vater gefunden hat, aber Verwandte zu finden bringt schon ziemlich viel.“Die Empfängereltern:Walter Merricks, 64 und Olivia Montuschi, 62„Ich habe drei Kinder, von denen keines genetisch mit mir verwandt ist. Aber hey, wir sind eine Familie“, sagt Walter Merricks. Es ist nun beinahe 30 Jahre her, dass ihm und seiner Frau klar wurde, dass sie keine Kinder bekommen können, weil Walter unfruchtbar ist. Sie versuchten es mit einem Samenspender. „So würde das Kind zumindest mit einem von uns genetisch verbunden sein – das schien uns ein logischer Schritt, mit dem ich mich recht gut arrangieren konnte“, sagt Walter, der bald seine Arbeit als oberster Finanz-Obudsmann Großbritanniens beenden und in Rente gehen wird.So kamen der heute 26-jährige William und die 23-jährige Susanne zur Welt. Beide stammen von verschiedenen Samenspender ab. Walter war damals bereits der Stiefvater von Olivias Sohn Daniel, den sie aus erster Ehe mitgebracht hatte, also fühlte er sich gut vorbereitet darauf, der Vater eines Kindes zu sein, mit dem er nicht genetisch verwandt ist. „Eine Frage ging mir lange durch den Kopf: Ob es im Teenager-Alter wohl irgendwann mal Streit geben und sie sagen würden, ich sei ja nicht einmal ihr richtiger Vater? Aber das ist nie geschehen."Für Susanne ist klar, dass Walter ihr Vater ist. „Darüber gab es nie den geringsten Zweifel. Vaterschaft ist viel mehr als eine genetische Verbindung. Am Ende kommt es auf die Beziehung an, die man miteinander hat“, sagt sie.Für sie besteht ein Grund, dass sie ein so entspanntes Verhältnis zu ihrer Abstammungt hat, darin, dass ihre Eltern so offen und ehrlich mit der Sache umgegangen sind. Eine ihrer frühesten Erinnerungen gehört einem Buch, das sie von ihren Eltern bekam. Es stammt von der Organisation Donor Conception Network, die Walter und Olivia gegründet haben, um Kindern zu erklären, was eine durch eine Keimzellenspende entstandene Familie ist. „Zunächst habe ich das nicht verstanden. Als ich dann sieben oder acht war, begann ich zu begreifen, dass ich anders bin. Ich habe das ziemlich genossen und rede auch heute noch immer gern darüber.“Vor zwanzig Jahren konnte bei weitem nicht jeder so offen mit dem Thema umgehen wie Walter und Olivia. Unfurchtbarkeit war immer noch ein Tabuthema und die Klinken ermutigen die Eltern nicht, ihre Kinder in Kenntnis zu setzen. „Von den Ärzten bekam man damals nur den Rat, die Sache unter den Teppich zu kehren. Es herrschte die Meinung vor, dass Männer über so etwas nicht reden. Wir konnten das aber nicht mit einem liebevollen und offenen Verhältnis zu unseren Kindern vereinbaren. Ihnen eine derart wichtige Information über sie vorzuenthalten, schien uns völlig verkehrt zu sein,“ berichtet Walter.Das novellierte Gesetz spiegelt seiner Meinung nach die veränderte Haltung gegenüber den Rechten von Kindern wider. „Es gibt da eine gewaltige Veränderung. Bis vor kurzem war man sich zwar einig, das die Interessen der Kinder wichtig sind, die meisten gesetzlichen Regelungen waren aber dem Elternschutz gewidmet und gaben ihnen und den Spendern eine absolute Vertraulichkeitsgarantie.“Susanne gibt zu, dass sie ihren leiblichen Vater und mögliche Geschwister eines Tages gerne sehen würde, weshalb sie die Einführung eines freiwilligen Geschwister-Registers begrüßt. Das sei aber in keiner Weise bestimmend für ihr Leben. „Ich verspüre kein emotionales Bedürfnis, meinen Vater oder etwaige Halbbrüder und –schwestern ausfindig zu machen. Ich habe alles, was ich brauche – eine Familie, einen Vater, eine Mutter und Geschwister, warum sollte ich noch mehr brauchen?“Die Spenderin:Laura Witjens, 44Die Entscheidung, ihre Eizellen zu spenden, war für die 36-jährige Geschäftsfrau und Mutter kleiner Zwillinge leicht. „Ich dachte nicht an die sechs Wochen andauernden Unannehmlichkeiten, die mit dem Spende-Prozess einhergehen. Ich dachte nur daran, dass da draußen eine Frau ist, die keine Kinder bekommen kann und ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie mein Leben ohne Kinder aussehen würde.“2000 spendete sie Eizellen. Zu dieser Zeit war sie noch nicht verpflichtet, ihre Identität preiszugeben. Zwei Dinge aber veranlassten sie, ihre Einstellung zu ändern. Als ihre Zwillinge ein Jahr alt waren, ließ sie sich von ihrem Mann scheiden. Als die Kinder drei waren, heiratete sie wieder. (Heute sind die Zwillinge 11 Jahre alt.) „Ich konnte bei meinem Sohn bestimmte Persönlichkeitszüge und Gesichtsausdrücke erkennen, die er eindeutig von seinem Vater hatte. Andere Dinge hatten sie von ihrem Stiefvater aufgeschnappt. Dadurch konnte ich nachvollziehen, dass mithilfe von Eizellenspenden gezeugte Kinder Bescheid wissen wollen.“Sie begann auch zu begreifen, dass ihre eigenen Kinder von dem sich verändernden Klima und der wachsenden Offenheit gegenüber genetischer Abstammung betroffen sein könnten. „Man weiß, dass viele Menschen, die durch eine Ei- oder Samenspende gezeugt wurden, begieriger sind, etwas über ihre Halbgeschwister zu erfahren, als über den Spender oder die Spenderin. Sie wären also nicht hinter mir her, sondern hinter meinen Kindern.Also unternahm Laura den ungewöhnlichen Schritt, Details über ihre Person schon im Vorhinein bei der HFEA registrieren zu lassen, um jedem der Kinder, die durch ihre Spende geboren wurden, zu ermöglichen, nach ihrem achtzehnten Geburtstag etwas über sie zu erfahren oder mit ihr in Kontakt zu treten. Sie gibt zu, dass auch sie nicht weiß, wie sie sich fühlen wird, wenn eines Tages eine fremde Person an ihre Tür klopft, und behauptet, ihr Kind zu sein: „Ich würde versuchen, ihnen dabei zu helfen, 'Missing Links' zu finden. Aber ich würde mich nicht von ihnen Mutter nennen lassen, denn das bin ich nicht. Meinen Kindern gegenüber sage ich ganz klar, dass ich nur einen Sohn und eine Tochter habe, und dass es zwar Leute geben mag, die genetisch gesehen ein bisschen von ihrer Mutti in sich tragen, es sich dabei aber nicht um meine Kinder handelt.“Heute können in Großbritannien nicht nur künstlich gezeugte Kinder herausfinden, wer ihre biologischen Eltern sind. Auch die Spender und Spenderinnen haben neuerdings per Gesetz das Recht auf anonymisierte Informationen über ihre genetischen Nachfahren. Laura ihrerseits hat nie versucht herauszufinden, ob aus einem der dreizehn Eier, die sie gespendet hat, ein Kind geboren wurde. „Ich wäre bitter enttäuscht, wenn daraus kein Kind entstanden wäre, deshalb wage ich nicht, da nachzuforschen.“Sie ist sich bewusst, dass Samen- oder Eizellenspender eine gewisse Distanz brauchen: "Das Komische am Spendersein ist, dass man mitfühlend genug sein muss, es zu tun, aber eben nicht so mitfühlend, dass man wissen möchte, wie es mit dem Kind weitergeht. Finge man an, darüber nachzudenken, dass es das eigene Kind ist und es jetzt eigentlich in die Schule kommen müsste und so weiter, würde man nur verrückt werden.“
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