Die Galerien der Banlieue

Moderne Kunst Wer in Paris nach einer lebendigen Underground-Kunstszene sucht, muss sich schon aus der Stadt herausbewegen: Eine Spurensuche in St.Denis und anderen Vororten

In Paris selbst gibt es schlicht wenig Bedarf für einen Untergrund. Dank den Chamapagner-Sozialisten im Rathaus hatte die Stadt immer schon genügend Förderung, Raum und Öffentlichkeit für die Künste – wer braucht da noch einen am Hungertuch nagenden Künstler? Wer heute durch die Galerien latscht und sich einen Eindruck von den zahlreichen öffentlich geförderten Events macht, dürfte allerdings wenig beeindruckt sein. Es gibt nicht den Wettbewerb und deswegen vielleicht auch nicht die Aufregung wie in London oder New York. Selbst berühmte Kunst-Squads wie Les Frigos im dreizehnten Arrondissement werden mittlerweile von der Stadt gefördert. Soviel zu der vermeintlichen Staatsferne und –feindschaft der Kunst ...

Es empfiehlt sich einen Blick über die Périphérique – den Autobahnring, der die Stadt umschließt – hinaus in die Weiten der Vorstädte, die als Banlieues bekannt sind. Hier gibt es nämlich eine florierende, aufgrund ihres Ortes im wörtlichen Sinne randständige Kunstszene.

Einrichtungen wie das Musée d'Art Contemporain du Val-de-Marne (MAC/VAL) zum Beispiel , wo schon seit geraumer Zeit mit das Beste an zeitgenössischer Kunst-, Tanz- und Video-Projekten in ganz Frankreich entsteht. Es befindet sich in Vitry-sur-Seine südlich von Paris und war das erste Museum für zeitgenössische Kunst in den Banlieues. Obwohl nur eine kurze Fahrt mit Metro und Bus vom Zentrum entfernt, hat es einen ausschließlich lokalen Bezug. Von üppigen Gärten umgeben, bieten die weißen Gemäuer und hohen Decken einen beschaulichen und intimen Raum für den Auftritt sowohl der neuesten zeitgenössischen Künstler wie auch für etablierte Namen wie Gilles Barbier, Jesús Rafael Soto und Christian Boltanski.

Laboratorien

Anders als die oft kurzlebigen kleinen Off-Gallerien in London oder New York, ist das MAC/VAL eine etablierte Größe und residiert in einem modernisierten und sanierten Gebäude. Das Museum erhält Fördergelder von der Gemeindeverwaltung in Val-de-Marne und hat keine finanziellen Schwierigkeiten.

Auch in den wegen der dortigen Ausschreitungen berüchtigten Vororten St. Denis und Aubervilliers gibt es phantastische Programme und Einrichtungen. In Les Laboratoires d'Aubervilliers werden die Künstler angehalten, mit allen möglichen Medien und Formen – mit Performances, Visual Art, Sound- und Videokunst - zu experimentieren. Im vergangenen Jahr wurden Arbeiten aus Les Laboratoires an einem der prestigeträchtigsten Veranstaltungsorte für zeitgenössische Kunst gezeigt – dem Jeu de Paume .
Zunehmend werden die Einrichtungen, die junge Talente in den Banlieues fördern, auch als Möglichkeit gesehen, Netzwerke und Kontakte in die Pariser „Kernstadt“ zu knüpfen. So bestehen mittlerweile Kontakte zwischen all den genannten Gruppen und dem schwergewichtigen Palais de Tokyo, dem am Kanal gelegenen Point Ephémère und dem Main d'Oueuvres in Saint Ouen zu al. Auf alle drei schielen jungen kreativen Kunsthochschulabsolventen, die es auf einen kreativen Raum im Stadtinneren abgesehen haben.

Weitere Unterstützung kommt von der nationalen Vereinigung Maison des Artistes, die Künstlern allerhand Vergünstigungen zuteil werden lässt, inklusive subventionierter Atelierräume, Steuervergünstigungen und kostenlosem Zutritt zu vielen Kunsteinrichtungen. Warum sollte ein Künstler unter diesen Umständen noch im Underground arbeiten?

Neue Kundschaft

Erst im vergangenen Jahr eröffnete die Stadt das schon lange erwartete CentQuatre im 19. Arrondisement am Rande der Stadt, das schnell zu einer Brücke zwischen dem Zentrum und der Banlieues wurde. Der riesige, nahezu 35.000 Quadratmeter umfassende Gebäudekomplex wurde errichtet, um einen Dialog zwischen der Kunstwelt und der Öffentlichkeit in Gang zu bringen und die Trennung der beiden zu überwinden – insbesondere in der heruntergekommenen Gegend, in der er erbaut wurde. Die Einrichtung hat ein umfängliches Residenz-Programm ins Leben gerufen, nach dem jedem Stipendiaten ordentliche 1.500 Euro zur Verfügung gestellt werden sollen.

Die Künstler sollen der Öffentlichkeit dabei möglichst einen Einblick in die Entstehung ihrer Arbeiten gewähren. Die Bars und Restaurants im Umfeld des CentQuatre bekamen eine ganze Gruppe neuer Kunden, von denen die meisten mit ihren dunkel-berandeten Brillen aussehen, als seien sie gerade einem Katalog des französischen Szene-Labels The Kooples entsprungen. Sie treffen sich hier, um etwas zu unternehmen oder einfach nur abzuhängen. Die Einrichtung beherbergte im vergangenen Jahr schon die kleine Schwester der Fiac, die Slick, eine aufstrebene Messe für Gegenwartskunst, die viele gutbetuchte Sammler wahrscheinlich zum ersten Mal in deren Leben ins 19. Arrondisement brachte.

Die Pariser sollten die weiße Flagge hissen und anerkennen, dass sich Paris schon seit einer ganzen Weile weit über die peripherique hinaus erstreckt. Dankenswerter Weise gibt es ein Programm namens Tram, mit dessen Hilfe diejenigen, die sich die Sache gerne einmal anschauen möchten, vor Ort gebracht werden sollen. Tram, oder Le réseau art contemporain Paris/Ile-de-France9 hat seinen Sitz im zehnten Arronidsement und bietet einen Fahrdienst zu Events und Performances in dreißig Einrichtungen auf dem gesamten Arreal der Ile-de-France. Und an einem Samstag im Monat gibt es eine Tour, auf der die neuesten Angebote der verschiedenen Einrichtungen bestaunt werden können. Das ganze kostet fünf Euro, also ungefähr neunzig Prozent weniger als eine Taxifahrt. Wenn sie also bereit sind, über den Tellerrand von Paris hinauszusehen, werden sie mit Arbeiten belohnt, die zum Spannendsten zählen, was die „Hauptstadt so zu bieten hat.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

IVY Paris, The Guardian | The Guardian

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