Die Geächteten

Tabu Vergewaltigung ist eine schreckliche Kriegswaffe. Auch Männer werden Opfer. Nicht nur in Uganda sind sie zum Schweigen verdammt

Von allen Geheimnissen des Krieges wird eines so gut gehütet, dass es eigentlich nur als Gerücht existiert. Meist wird es von Tätern wie von Opfern geleugnet. Regierungen, Hilfsorganisationen und die Verteidiger der Menschenrechte bei der UNO erkennen es selbst als Möglichkeit kaum an. Hin und wieder kommt es aber doch vor, dass jemand all seinen Mut zusammennimmt, um darüber zu berichten. An einem ganz gewöhnlichen Nachmittag im Büro der freundlichen und bedächtigen Eunice Owiny im ugandischen Kampala zum Beispiel. Seit vier Jahren arbeitete sie für das Refugee Law Project (RLP) der Makerere-Universität, um Vertriebenen aus ganz Afrika dabei zu helfen, die erlittenen Traumata zu bewältigen. Dieser eine Fall allerdings gab ihr Rätsel auf. Eine Klientin berichtete über Probleme in ihrer Ehe. Sie klagte: „Mein Mann kann keinen Sex haben. Er fühlt sich sehr schlecht deswegen. Ich bin mir sicher, dass er etwas vor mir verbirgt.“

Owiny lud das Ehepaar ein. Zunächst führte das Gespräch zu nichts. Dann bat Owiny die Frau, den Raum zu verlassen. Da murmelte der Mann: „Es ist mir passiert.“ Ein Schauer überlief Owiny. Der Mann zog eine alte Damenbinde aus der Tasche. „Mama Eunice“, sagt er dann. „Ich habe Schmerzen. Ich muss das hier benutzen.“

Er legte die eitrige Binde vor sich auf den Tisch und gab sein Geheimnis preis. Während der Flucht vor dem Bürgerkrieg im benachbarten Kongo war er von seiner Frau getrennt und von Rebellen entführt worden. Die Männer vergewaltigten ihn. Drei Mal täglich. Jeden Tag. Drei Jahre lang. Er war nicht der Einzige. Er sah mit an, wie ein Mann nach dem anderen gefasst und vergewaltigt wurde. Einem wurden so schlimme Verletzungen zugefügt, dass er vor seinen Augen in der Zelle starb. „Damit konnte ich nur schwer umgehen“, sagte Owiny. „Es gibt Dinge, von denen man einfach nicht glaubt, dass sie einem Mann zustoßen können, verstehen Sie? Inzwischen weiß ich aber, das sexuelle Gewalt gegen Männer ein großes Problem ist. Jeder kennt die Geschichten der Frauen. Aber niemand die der Männer.“

Nicht nur in Ostafrika bleiben diese Geschichten ungehört. Zu den wenigen Akademikern, die sich ausführlich mit dem Thema beschäftigt haben, gehört Lara Stemple vom Health and Human Rights Law Project der Universität Kalifornien. In ihrer Studie Male Rape and Human Rights heißt es, sexuelle Gewalt gegen Männer würde in Ländern wie Chile, Griechenland, Kroatien, Iran, Kuwait, der ehemaligen Sowjetunion und dem ehemaligen Jugoslawien als Mittel von Kriegen oder politischer Aggression eingesetzt. 21 Prozent der Männer aus Sri Lanka, die in einem Londoner Zentrum zur Behandlung von Folteropfern betreut wurden, berichteten von sexuellem Missbrauch während ihrer Haft. 76 Prozent von männlichen politischen Gefangenen aus El Salvador, die in den 80ern befragt wurden, beschrieben zumindest einen Vorfall sexueller Folter. In einer Umfrage unter 6.000 ehemaligen Insassen von Lagern im Bosnienkrieg gaben 80 Prozent der Männer an, vergewaltigt worden zu sein.

Ich bin nach Kampala gekommen, um die Geschichten einiger weniger mutiger Männer zu hören, die bereit waren, über dieses kontroverse und tabubeladene Thema zu reden. In Uganda droht den Überlebenden die Festnahme durch die Polizei, da sie als Homosexuelle eingestuft werden. Das ist dort, wie in 38 von 53 anderen afrikanischen Ländern, ein Verbrechen. Würden sie sich an ihre Freunde oder Familien wenden oder an Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen, die dafür ausgebildet sind, Frauen zu helfen, würden sie gemieden oder sogar verstoßen. Owiny: „Sie sind Geächtete.“

Männer müssen stark sein

Aber immer mehr sind bereit zu erzählen. Das ist vor allem dem Leiter des RLP, dem Briten Chris Dolan, zu verdanken. Der hörte Ende der Neunziger im Norden Ugandas erstmals von sexueller Kriegsgewalt gegen Männer. Er ahnte, dass das Problem dramatisch unterschätzt wurde. Er wollte mehr erfahren, also hängte er im Juni 2009 überall in Kampala Plakate auf, die einen „Workshop“ zum Thema ankündigten. 150 Männer kamen. Bald sprach sich unter den 200.000 in Uganda lebenden Flüchtlingen herum, das das RLP vergewaltigten Männern hilft. Allmählich meldeten sich immer mehr Opfer.

Jean Paul treffe ich auf dem heißen, staubigen Dach des Hauptquartiers des RLP in Kampalas Altstadt. Er trägt ein scharlachrotes, hochgeknöpftes Hemd. Sein Nacken ist gebeugt, seine Augen blicken zu Boden, als wolle er sich für seine beeindruckende Größe entschuldigen.

Jean Paul studierte im Kongo Elektroingenieurswissenschaften, als sein Vater, ein wohlhabender Geschäftsmann, von der Armee der Feindeshilfe bezichtigt und erschossen wurde. Auf seiner Flucht im Januar 2009 wurde er von Rebellen entführt. Zusammen mit sechs weiteren Männern und sechs Frauen wurde er zu Fuß in den Wald des Virunga-Nationalparks verschleppt.

Dort trafen sie auf weitere Rebellen und Gefangene. Während die Frauen weggeschickt wurden, um Essen und Kaffee zuzubereiten, umzingelten zwölf bewaffnete Kämpfer die Männer. Der Kommandeur war ungefähr 50 Jahre alt und trug eine Militäruniform. „Ihr seid alle Spione“, sagte er. „ Ich werde euch zeigen, wie wir Spione bestrafen.“ Dann deutete er auf Jean Paul: „Leg die Kleidung ab und nimm eine Position ein wie ein Moslem.“

Zwei Rebellen hielten ihn auf Knien, seinen Kopf gegen den Boden gedrückt. Der Kommandeur fing an, elf weitere Rebellen standen Schlange und vergewaltigten Jean Paul, einer nach dem anderen. Als er sich nicht mehr halten konnte, schlang ihm der nächste, der dran war, den Arm um die Hüften und hielt ihn so hoch. Er blutete ihn Strömen. Jeder der männlichen Gefangenen wurde in dieser und in jeder folgenden Nacht elf Mal vergewaltigt.

Am neunten Tag entdeckte Jean Paul bei der Feuerholzsuche einen großen Baum mit Wurzeln, die eine dunkle Höhle bildeten. Er kroch hinein und beobachtete zitternd, wie die Rebellen nach ihm suchten. Nach zwölf Stunden hörte er, wie sie beschlossen, eine Gewehrsalve abzufeuern und dem Kommandeur zu sagen, sie hätten Jean Paul getötet. Schließlich wagte er sich hervor, nur in Unterhosen kroch er durch das Unterholz zurück in die Stadt.

Obwohl er im Krankenhaus behandelt wurde, blutet Jean Paul heute noch immer beim Laufen. Immer wieder fragt sein Bruder ihn, was geschehen ist, doch Jean Paul will ihm nicht antworten. „Ich habe Angst, dass er sagen wird: ‚Mein Bruder ist kein Mann mehr.‘“

Deshalb gehen Täter und Opfer einen Pakt des Schweigens ein, und deshalb verlieren die Überlebenden oft die Unterstützung ihrer Umwelt. In den patriarchalen Gesellschaften vieler Entwicklungsländer sind die Geschlechterrollen eng gefasst.

„In Afrika darf ein Mann nicht verletzlich sein“, erklärt Salome Atim, die beim RLP für Geschlechterfragen zuständig ist. „Sie müssen männlich und stark sein. Sie dürfen niemals zusammenbrechen oder weinen. Ein Mann muss vorangehen und die Familie versorgen. Entspricht er dem nicht, meint die Gesellschaft, dass mit ihm etwas nicht stimmt.“

Oft verließen die Frauen ihre Männer, wenn sie herausfänden, dass diese vergewaltigt worden sind: „Sie fragen mich: ‚Wie soll ich jetzt mit ihm leben? Als was? Ist das noch ein Ehemann? Ist das eine Frau?‘ Sie fragen: „Wenn er vergewaltigt werden kann, wer beschützt mich dann?“

Atim hat so viele Männer gesehen, die eine Vergewaltigung oder eine andere Formen des sexuellen Missbrauchs erlitten haben, dass sie sie inzwischen oft schon erkennt, wenn sie sich hinsetzen. Da so wenig über die Vergewaltigung von Männern in Kriegen geforscht wird, lässt sich über die Gründe und die Häufigkeit nichts Genaues sagen. In einer der wenigen Studien, die 2010 im Journal of the American Medical Association veröffentlicht wurde, hieß es, dass 22 Prozent der Männer und 30 Prozent der Frauen in Ostkongo von sexueller Kriegsgewalt berichteten.

Die rechtliche Lücke

Die bereits erwähnte Studie des Health and Human Rights Law Projects zeigt nicht nur, dass sexuelle Gewalt gegen Männer weltweit als Mittel der Kriegsführung eingesetzt wird. Sie kommt auch zu dem Schluss, dass die internationalen Hilfsorganisationen die männlichen Opfer nicht annähernd ausreichend berücksichtigen. Laut der Studie erwähnen nur drei Prozent der gut 4.000 Nichtregierungsorganisationen, die sich mit sexueller Gewalt in Kriegen befasst haben, in ihren Berichten Männer als Opfer. „Meist ist es nur ein flüchtiger Hinweis“, sagt Lara Stemple.

Chris Dolan, der Leiter des Refugee Law Projects (RLP), ist von den Ergebnissen nicht überrascht. „Das Thema wird systematisch totgeschwiegen“, sagt er. Um dem entgegenzuarbeiten, produzierte das RLP 2010 unter anderem eine Dokumentation mit dem Titel „Gender Against Men“. Als diese im Fernsehen gezeigt werden sollte, habe es Versuche gegeben, die Ausstrahlung zu verhindern, erzählt Dolan. Dahinter hätten einige Leute aus bekannten internationalen Hilfsorganisationen gesteckt. Denn die Mittel seien begrenzt und die Konkurrenz sei hart. „Die Leute, die dahinterstanden, bestanden darauf, dass Vergewaltigung in der Definition auf Frauen beschränkt wurde“, erzählt er.

Margot Wallström, UNO-Sondergesandte für sexuelle Gewalt in Konflikten, beteuert in einer Stellungnahme, die Angebote des ­UNHCR erstrecken sich auf beide Geschlechter. Sie räumt allerdings ein, dass das „große Stigma“, das Männern drohe, darauf schließen lasse, dass die Zahl der tatsächlichen Opfer höher sei als dokumentiert. Das Hauptaugenmerk liege weiterhin auf Frauen, so Walström weiter, da diese die „überwältigende Mehrzahl der Opfer darstellten. Man wisse aber, fügt sie hinzu, „von vielen Fällen, in denen Männer und Jungen vergewaltigt wurden.“

Stemple sagt auf Nachfrage per E-Mail, es sei immer zu hören, „dass Frauen die Vergewaltigungsopfer sind“, und beschreibt ein Milieu, in dem Männer als „monolithische Täterklasse“ behandelt werden. „Die internationalen Menschenrechtsgesetze übergehen Männer in Hinsicht auf fast jedes Instrument zum Umgang mit sexueller Gewalt“, fährt sie fort. „Die Resolution 1325 des Weltsicherheitsrates aus dem Jahr 2000 behandelt sexuelle Kriegsgewalt als etwas, das nur Frauen und Mädchen betrifft. US-Außenministerin Hillary Clinton hat gerade 44 Millionen Dollar zur Implementierung dieser Resolution angekündigt. Da der Fokus beinahe ausschließlich auf den weiblichen Opfern liegt, scheint es unwahrscheinlich, dass von diesen neuen Mitteln etwas bei den Tausenden von Männern und Jungen ankommen wird, die diese Form des Missbrauchs erlebt haben. Die Vergewaltigung von Männern zu ignorieren, bedeutet nicht nur, die Männer zu vernachlässigen, sondern schadet auch den Frauen, weil die Sichtweise gestützt wird, Frau zu sein sei gleichbedeutend damit, Opfer zu sein. Dadurch werden wir daran gehindert, Frauen als stark zu sehen. Ebenso verstärkt das Schweigen über männliche Opfer ungesunde Erwartungen an Männer und deren vermeintliche Unverwundbarkeit.“

Als ich Uganda verlasse, muss ich immer wieder an eine Sache denken, die mir in Kampala erzählt wurde. Einer der Männer war, bevor er Hilfe vom RLP erhielt, zu seinem Arzt vor Ort gegangen. Er berichtete ihm, dass er viermal vergewaltigt worden war, verletzt und depressiv sei und seine Frau damit drohe, ihn zu verlassen. Der Arzt gab ihm Paracetamol.

Will Storr ist freier Reporter und Fotograf mit Schwerpunkt in Asien und Afrika. Er weist darauf hin, dass die Namen aller Opfer geändert und ihre Identitäten verschleiert wurden.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Will Storr | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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