Es waren sieben turbulente Wochen damals. Sie begannen mit dem Tod des ehemaligen KP-Generalsekretärs und geschassten Reformers Hu Yaobang am 15. April 1989 – sie endeten mit der gewaltsamen Niederschlagung der Demokratie-Bewegung am 4. Juni 1989, die erst an ihrem Anfang stand, teils widersprüchlich und politisch wirr erschien, aber für Millionen von Chinesen das Leben so veränderte, dass nie wieder etwas so sein sollte, wie es bis dahin war.
Vor einer Woche war ich Zuhörerin, als sich ein Mann von einer Last befreite, die er zwei Jahrzehnte lang mit sich herumgetragen hatte. Er war Studentenführer in einer großen Provinzstadt und trotz seiner Verhaftung Mitte Juni 1989 nach einem Monat wieder auf freiem Fuß gekommen. In dieser Zeit hatte er Geständnisse abgelegt. Nach seiner Haft zog er in eine andere Stadt und machte Karriere. Doch 20 Jahre lang belasteten ihn die am 4. Juni 1989 zerstörten Träume. Es war teils Angst, teils Depression, teils Wut, was er verspürte.
Last der Erinnerung
Einige der Demonstranten von damals sind noch immer im Gefängnis. Ein paar kämpfen offen dafür, dass die Kommunistische Partei ihr Urteil zurücknimmt, die Bewegung sei das Werk „einer kleinen Clique von Konterrevolutionären“ gewesen, die nichts anderes vorhatten, als das sozialistische System zu stürzen. Hinter den wenigen bekannten Aktivisten und Dissidenten steht die große Menge derer, die immer noch Erinnerungen hegen, die zu sehr schmerzen, um ausgesprochen zu werden.
Es ist zwei Jahrzehnte her, dass jener Demonstrant ganz allein einer Panzerkolonne auf einer Straße in Peking die Stirn bot, um dann zu verschwinden. Er wurde nie identifiziert. Seither ist China wirtschaftlich aufgeblüht. Die Partei hat sich bereitwillig mit dem Markt eingelassen und das sozialistische System gegen die Annehmlichkeiten des Reichtums eingetauscht. Jüngere Generationen wissen nicht viel über die Bewegung von 1989, die bis heute öffentlich nicht diskutiert oder kommentiert werden darf.
Vor vier Jahren sorgte eine verhaltene offizielle Feier des Gedenkens an Hu Yaobang für Hoffnung, die Ereignisse von Tiananmen würden endlich neu bewertet. Seitdem zögert die Partei die Sache hinaus. Vielleicht wartet man den Tod der Haupttäter und Nutznießer ab, bevor ein andere Blick auch zu einer anderen Deutung der Ereignisse vor 20 Jahren führt.
Trotziger Nationalismus
Tiananmen markiert den Moment, in dem die Kommunistische Partei Chinas von ihrem ideologischen Anspruch abließ, sich die Loyalität der Bevölkerung durch eine ideelle Mission zu sichern. Danach war ihre Botschaft eine rein materielle: Solange die Bürger zufrieden damit sind, die Politik der Partei zu überlassen, sorgt die für Wohlstand. Oberflächlich betrachtet, hat das funktioniert. Und die Ideen, die 1989 so leidenschaftlich diskutiert wurden, sind dem trotzigen Nationalismus der neuen Generationen gewichen.
Doch in der chinesischen Kultur werden die Toten geehrt. Millionen gedenken im Stillen der Opfer von Tiananmen. Erst wenn die Demokratie-Bewegung von 1989 als das anerkannt wird, was sie war – ein gewaltiger Ausdruck der Forderung des Volkes nach einer Regierung, die ihrer Bevölkerung gegenüber rechenschaftspflichtig ist –, werden die Geister der Toten zur Ruhe kommen und die Alpträume der Lebenden vergessen.
Es gibt Zeitzeugen, die befragt werden können und sich erinnern, was in jenen Tagen vor 20 Jahren geschah. Wuer Kaixi zum Beispiel, heute 41 Jahre alt, gehörte zu den Führern der Studentenproteste und war die Nr. 2 auf der Liste der Personen, nach denen die chinesische Regierung am meisten suchte. Nach dem 4. Juni 1989 floh er zunächst nach Frankreich, wo er die Föderation für ein demokratisches China gründete, inzwischen lebt er in Taiwan.
"Die Kittel der Ärzte waren nicht mehr weiß"
Wuer Kaixi wechselt ständig zwischen der Gegenwarts- und Vergangenheitsform, wenn er über jene Juninacht spricht. Noch immer schluckt und zögert er. „Die Panzer waren so laut ... Kugeln flogen durch die Luft. Man konnte das Blut riechen wie die Angst und Wut der Menschen. Die Kittel der Ärzte in den Krankenhäusern waren nicht mehr weiß.“ Äußerlich verbindet Wuer nur noch wenig mit dem zornigen jungen Mann, der durch seine Kritik am damaligen Premierminister Li Peng weltberühmt wurde. In seiner Freizeit schreibt er heute politische Kommentare. Seine Eltern, die China nicht verlassen dürfen, hat er seit 20 Jahren nicht gesehen. Kaixi ist mit einer Taiwanesin verheiratet und hat zwei Kinder. „Ich habe mehr Glück als andere Exilanten“, sagt er. „Ich habe ein Zuhause.“
Wie viele der Demonstranten war Wuer vor dem Frühjahr 89 nicht politisch aktiv. Doch spürte er als Erstsemester an der Peking-Universität, wie sich eine gedrückte Stimmung ausbreitete. Wegen einer sich einschleichenden sozialen Ungleichheit flaute die anfängliche Begeisterung für die ökonomischen Reformen zusehends ab. Eine erste studentische Protestbewegung im Jahr 1986 hatte lediglich zum Sturz des beliebten reformorientierten KP-Generalsekretärs Hu Yaobang geführt. Die Nachricht seines Todes drei Jahre später habe wie ein „ins Pulverfass geworfener Funke“ gewirkt, erinnert sich Wuer. Als sich Studenten aus dem Campus versammelten, habe er sich zum Hungerstreik entschlossen und wurde daraufhin ins Hospital verfrachtet, begab sich aber zurück auf den Platz des Himmlischen Friedens, als er erfuhr, dass sich dort ein Regierungsmitglied an die Studenten wenden wolle.
Wer schließlich kam, war Premier Li Peng, dem Wuer noch in seinem Krankenhauskittel begegnete. Die Bilder von seinem Streitgespräch mit Li gingen um die Welt. Wuer Kaixi meint, es habe sich damals keinesfalls um eine Alibi-Veranstaltung gehandelt. „Die Kameras richteten sich auf den scheinbar nie endenden Monolog Li Pengs. Das Ganze erinnerte an das Muster, ein älterer Mann belehrte Jugendliche, die Ärger machten. Ich sagte: Es ist vielleicht ein wenig unhöflich, aber wir haben keine Zeit, so weiterzumachen. Li entschuldigte sich für seine Verspätung und beschuldigte die Studenten, den Verkehr blockiert zu haben. Ich entgegnete: Sie haben sich nicht um zehn Minuten verspätet, sondern um einen ganzen Monat.“
Der Anfang eines Scheiterns
Den Journalisten sei es zu verdanken gewesen, meint Kaixi, dass die Nation die Aufnahmen über diese Debatte zu sehen bekamen. Wie in den Fluten von Briefen, die Kaixi in den folgenden Tagen erhielt, habe sich in diesem journalistischen Engagement eine breite Unterstützung gespiegelt. Doch wie viele andere Aktivisten, die von Anfang an dabei waren, ist Wuer Kaixi bis heute bestürzt über die Entwicklung, die die Proteste nahmen, weil zunehmend radikalere Stimmen laut wurden und die Menge beeinflussten. „Wir hatten keine Kontrolle mehr über die Massen auf dem Tiananmen-Platz. Es fühlte sich an wie der Anfang eines Scheiterns“, erinnert er sich.
Das ändert jedoch nichts daran, dass Wuer Kaixi auch 20 Jahre danach noch stolz ist auf „eine der rationalsten und bemerkenswertesten Bewegungen aller Zeiten“. Er hat wenig Verständnis für die Kritiker. „Ich werde zeit meines Lebens die Opfer dieser Tage und Nächte bedauern. Wir waren die Anführer der Studenten, und wir haben überlebt – andere nicht. Und niemand hat sich davor gedrückt, über das nachzudenken, was wir seinerzeit getan haben. Wenn jemandem etwas vorzuwerfen ist, dann der chinesischen Regierung.“
Isabell Hilton ist Herausgeberin des Online-Magazines Chinadialogue.
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