Informationsfreiheit Ein Treffen mit Julian Assange. Der WikiLeaks-Gründer wird nun von den Zeitungen kritisiert, die mit ihm zusammen gearbeitet haben
Die ganze Nacht hat Julian Assange durchgemacht, um auf seiner WikiLeaks-Website Depeschen und Dokumente des US-Außenministeriums einzustellen, welche für die Ereignisse in Ägypten relevant sind, und sie sind in der Tat eine bemerkenswerte Lektüre.
Amerikanische Diplomaten erläutern in den Assange zugespielten Depeschen viele Hintergründe des Aufstands in Ägypten: Sie berichten über erpresste Geständnisse von gefolterten Regimekritikern, aber auch von gewöhnlichen Kriminellen, über weit verbreitete Angst und Unterdrückung und – dies sollte WikiLeaks-Leser besonders interessieren – von Zeichen des an Bedeutung gewinnenden Internetaktivismus, Blogs der Opposition und vom Online-Austausch mit demokratischen Bewegungen inne
ungen innerhalb und außerhalb des Landes. Wie immer sind die diplomatischen Berichte, publiziert von WikiLeaks in einem Akt der Informationsverbreitung, der Assange längst zum Staatsfeind Nr. 1 gemacht hat, ironischerweise auch Zeugnisse der Professionalität und Klarheit der Worte des US-amerikanischen Außenministeriums. Assange räumt ein, die Berichte seien von einer „relativen Ehrlichkeit und Direktheit“ geprägt.Der Aufstand in Ägypten ist genau die Art von Ereignis, für die WikiLeaks eine Daseinsberechtigung beansprucht: ein Ereignis, zu dem die Website sogar beigetragen haben könnte, wie Assange reklamiert, "weil eine Grundhaltung hin zur freien Meinungsäußerung geschaffen wurde" und weil sich unter den Ägyptern selbst auch WikiLeaks-Leser befinden. Doch Assange beschäftigen derzeit noch andere Dinge.Ein Buch erscheint in diesen Tagen, von dem Assange behauptet, es sei ein Angriff auf ihn. Die Autoren sind Journalisten, mit denen er einst eng für den Guardian zusammenarbeitete. Inzwischen sprechen weder der Guardian noch Assange mit besonderer Wertschätzung von einander. Nebenan liegt die International Herald Tribune, deren Titelseite mit einem beißenden Artikel von rekordverdächtiger Länge aufmacht. Darin zeichnet Bill Keller, Chefredakteur der New York Times, seine odysseehaften Erfahrungen mit einem schwierigen Mann nach, mit deren Abschluss eine „Zeit intensiver Zusammenarbeit und regelmäßigen Kontakts mit unserem Informanten“ zu Ende ging. Kellers Beschreibung scheine durchdacht, sage ich zu Assange, der mir nur entgegnet, er fände sie „grotesk“.In etwa einer Woche wird sich Assange einer Anhörung über den laufenden Auslieferungsantrag der schwedischen Behörden stellen müssen, die dem WikiLeaks-Gründer mutmaßliche Sexualdelikte vorwerfen. „Während der Anhörung wird BBC Panorama eine Schmierkampagne gegen WikiLeaks senden“, sagt Assange, „irgendwie müssen sie ihre Rolle in all dem ja rechtfertigen, statt sich der Aufgabe zu stellen, selbst über Informationen und Depeschen zu berichten.“ Das sei nicht immer so gewesen, bemerkt Assange.Ich traf Julian Assange zum ersten Mal im Spätsommer 2010, um darüber zu debattieren, welches Dokument die bis dahin bedeutendste Veröffentlichung von Regierungsinformationen über den Krieg im Irak darstellte. Zusammen mit Iraq Body Count hatte WikiLeaks durch den Guardian und andere Plattformen seiner Wahl aufdecken können, dass im Zeitraum zwischen Januar 2004 und Ende 2009 16.000 zivile Todesopfer zu beklagen waren, die offiziell nie verzeichnet wurden. Tausende auf WikiLeaks veröffentlichte Berichte der US-Armee bestätigten dies.Assange machte damals, neben vielen anderen interessanten Anmerkungen, eine überzeugende Beobachtung über den Krieg: „Diese Dokumente zeigen, dass sich der Großteil der zivilen Todesopfer aus den 'Autounfällen' des Kriegs aufsummiert, nicht aus den 'Busunglücken‘, denen die Medien Beachtung schenken. Die unglaubliche Zahl der Opfer erhöht sich schleichend, durch Situationen, in denen ein, zwei oder drei Menschen sterben und über die nicht berichtet wird, ganz im Gegensatz zu Ereignissen mit 20 oder mehr Todesopfern, welche ihren Weg in die Berichterstattung finden. Die Zahl der 'geringfügigen Tötungen‘ ist überwältigend – eine Familie hier, ein Kind da, ein Hausbewohner, ein ins Kreuzfeuer geratener Zivilist. In diesem alltäglichen Elend des Kriegs sterben die meisten Opfer.“Das Frappierende an diesem Befund war die weniger journalistisch als vielmehr wissenschaftlich anmutende Art und Weise, wie Assange zu dieser Schlussfolgerung gekommen war. Er erinnerte mich daran, stets im Hinterkopf zu behalten, dass er vor allem ein Computerhacker und Spezialist für Quantenmechanik sei. Er sei fasziniert von der „Ökonomie des medialen Informationsflusses“. Schnell wird vernachlässigt, dass Assange sich gleichermaßen für Physik und Ideologie interessiert und dass sich ein großer Teil seiner Arbeit damit beschäftigt, die Gesetze der Mechanik auf den Informationsfluss zu übertragen. Während dieses ersten Treffens nahm er ein Buch vom Regal und beschrieb ausführlich, welche Triebkräfte und Interessen es dorthin gebracht hatten – „eine Vielzahl von Gründen, warum das Buch auf diesem Regal gelandet ist“. Er erklärte, es gäbe „ein Miasma der Interessen, welches die Informationsverbreitung anleitet und bestimmt, warum eine Information jemanden erreicht.“Das waren noch Zeiten, als Assange einen Diskussionspartner zum erneuten Gespräch einladen würde, wenn ihm bezüglich eines Diskussionspunktes noch mehr eingefallen war. Das war vor Einzelhaft und Schwärmen von Fernsehkameras, bevor ihm Fragen über Kellers Artikel ungenehm waren und sie seine Gedanken vom Wesentlichen ablenken konnten, bevor sich Assange von den Medien betrogen und zum Bösewicht stilisiert fühlte.Eines der gewichtigsten Probleme, die in Kellers Artikel zur Sprache kommen, ist der Drahtseilakt, den der Umgang mit WikiLeaks-Material der Zeitung abverlangte. Er manifestiert sich als ein „Wertekonflikt“ zwischen ihrer Selbstverpflichtung zum Publizieren von relevanten Informationen für die Öffentlichkeit und der „großen und persönlichen Beteiligung der Belegschaft an der Sicherheit des Landes“ und der Loyalität zu den USA, besonders in Zeiten des Terrorismus, der sich „nicht nur gegen unser Volk und unsere Gebäude, sondern auch gegen unsere Werte richtet“.Andernorts gibt es Behauptungen, nach denen die WikiLeaks-Informationen Feinde der USA mit neuer Munition versorgen und das Leben derer in Gefahr bringen, die durch das veröffentlichte Material identifizierbar geworden sind – Identitäten, die Kellers Zeitung zu schützen wusste.„Wie greift man eine Organisation am besten an?“, fragt Assange rhetorisch. Erstens, „man greift ihre Leitung an...mit Dutzenden erfundener Geschichten über mich – etwa dass ich ein Luxusleben in Südafrika führen würde. Ich war noch nie in Südafrika“. Zweitens, „man sabotiert den Geldfluss“: Assange erzählt von den „außergesetzlichen“ Maßnahmen von Visa, MasterCard, PayPal und anderen, welche WikiLeaks „90 Prozent der Einkünfte gekostet haben“. Dann „verunglimpft man unser moralisches Ansehen. Angeblich sollen wir Menschen getötet haben. Niemand ist unfehlbar, aber in zwei wichtigen Aspekten haben wir eine absolut weiße Weste. Zum einen lagen wir in vier Jahren des Veröffentlichens nicht ein Mal daneben. Wir haben noch nie etwas veröffentlicht, das falsch war und von dem wir behauptet haben, es sei wahr. Zum anderen ist trotz der Veröffentlichung von hochbrisantem Material über mehr als 100 Länder noch nie jemand zu Schaden gekommen; konkrete Behauptungen gibt es auch keine.“Allerdings sitzen derzeit zwei WikiLeaks-Informanten in Haft: Bradley Manning, mutmaßliche Quelle der veröffentlichten Soldatenaufzeichnungen, und Rudi Elmer, der ehemalige Schweizer Banker, der Assange vor zwei Wochen in London mit zwei CDs versorgte, die angeblich geheime Finanzdaten enthalten. Elmer wurde in Zürich festgenommen und sitzt momentan ohne Anklage in Einzelhaft. „Über unsere Informanten kann ich nicht sprechen“, sagt Assange, „aber ich kann Ihnen sagen, was mit ihnen geschieht. Manning, über 240 Tage in Isolationshaft, brutale Einzelhaftbedingungen, und immer noch kein Verfahren.“ In beiden Fällen gab es „die sofortige Entscheidung, einen Sündenbock ausfindig zu machen statt nach den eigentlichen Verbrechern zu fahnden. Ein Fall von ‚wahre das Gesicht oder verliere die Kontrolle’.“Ein weiterer Kritikpunkt befasst sich mit der Art und Weise, in der WikiLeaks Informationen ans Tageslicht befördert, und der Gefahr, die Einrichtung immer größerer Informationsdämme und noch mächtigerer Institutionen so voranzutreiben. Mit anderen Worten: mehr, nicht weniger Geheimhaltung. „Als WikiLeaks 2006 gegründet wurde, haben wir intensiv über die Reaktionen großer Unternehmen und Regierungen auf eine erhebliche Ausweitung der Informationen, die öffentlich zugänglich sind, nachgedacht“, erklärt Assange. Die Vorstellung, dass mächtige Institutionen in solchem Maße „undokumentiert“ agieren, sei abstrus. Letztlich sei es immer möglich, ihre Machenschaften anhand von internen Aufzeichnungen aufzudecken. „Als ich zum Beispiel die Richtlinien zur Standard Operating Procedure in Guantánamo Bay las, hat es mich überrascht, dass nicht nur viele unmenschliche Praktiken aufgelistet waren, sondern auch das Wachpersonal zum Fälschen von Daten gegenüber dem Roten Kreuz angehalten wurde. Will sich das Zentrum einer Organisation auf das fehlerlose Erfüllen von Anweisungen durch seine peripheren Elemente verlassen können, ...gibt es einen eindeutigen, autorisierten Pfad der Dokumentation. Jede Form des großflächig angelegten Missbrauchs ist systematisiert.“ Die Beschaffung dieser Dokumente sei die Grundlage zur Aufdeckung des Missbrauchs.In einer solchen Situation haben Institutionen zwei Handlungsoptionen, erklärt Assange. Eine Möglichkeit ist es, „sich so zu verhalten, dass die Öffentlichkeit die Aktivitäten der Institution unterstützt, sollten diese veröffentlicht werden“. Sie muss also keine Angst vor Transparenz haben. Die andere Option besteht darin, „zusätzlich Ressourcen einzusetzen, um Aktivitäten geheim zu halten“. Der letztere, gemeinhin verbreitetere Ansatz fordert seinen Tribut von der ökonomischen Aufstellung der Institution, den Assange als „Geheimhaltungssteuer“ beschreibt. „Wenn in einer Einrichtung viel Heimlichtuerei herrscht, verringert sich die interne Effizienz, weil sich Informationen nicht schnell verbreiten können. Das ist eine weitere Form der Geheimhaltungssteuer“, erörtert Assange, der bekräftigt, es brauche Transparenz, um als Organisation effizient zu sein. Ich stelle ihm anheim, dass all dies in die richtige Richtung gehe, was den Versuch betrifft, Organisationen von den Vorzügen der Transparenz zu überzeugen. „Das ist kein Optimismus“, ruft ein plötzlich sehr lebhafter Assange, „das ist Teil des Plans!“Von den Tausenden Berichten über WikiLeaks haben wenige den Diskurs so sehr geöffnet wie der von David Rieff in The New Republic vom Dezember 2010. Rieff stellt darin einen Vergleich an zwischen der WikiLeaks-Saga und den rechtlichen wie gesellschaftlichen Anklagen, denen sich Microsoft bezüglich seiner Ablehnung der „universal connectivity“, der universellen Kompatibilität seiner Produkte stellen muss. Rieff schreibt: „Der Staat ist wie Microsoft mit seiner Closed-Source-Technologie, während WikiLeaks die Open-Source-Alternative darstellt.“ Assange bemerkt: „Wir haben enthüllt, wie viel „universal connectivity“ das politische System nach dem Kalten Krieg wirklich zulassen will.“ Er spricht von einer „ungewöhnlichen Allianz“ während des Kalten Kriegs zwischen Liberalismus und der „Sphäre aus Militär, Geheimdienst und Diplomatie“, welche beide um die Ausstellung von Meinungsfreiheit bemüht waren und dabei „unsere kulturellen Werte unterstrichen, indem sie auf die fehlende Freiheit in der Sowjetunion hinwiesen“.Doch das Ende des Kalten Kriegs koinzidierte mit dem Aufkommen einer „neuen Technologie, die es erlaubte, mehr und billiger zu publizieren und eine größere Öffentlichkeit zu erreichen“, sodass es zum „Zusammenprall zwischen der oberflächlichen Ideologie und dem wahren, darunter liegenden Eigennutz“ kam; ein Konflikt zwischen „dem Aufkommen des Internet einerseits...und andererseits dem natürlichen Bedürfnis der Regierung, so wenig wie möglich Widerspruch zuzulassen“. Und so würde Assange weiter reden, wenn er nicht so abgelenkt wäre von dem, was er von dem bevorstehenden Hagel von Büchern und TV-Sendungen über ihn hält, und der Geschwindigkeit, mit der er zum Reizthema der angloamerikanischen Medien gerät.Assange weist darauf hin, dass ihn Medien außerhalb des angloamerikanischen Raums zum großen Teil unterstützen. Er bezieht sich dabei auf einen Leitartikel in der spanischen El País, auf ein deutsches Buch mit dem Titel Staatsfeind WikiLeaks und die Tatsache, dass die französische Le Monde ihn zum Mann des Jahres wählte. Doch auch diese Diskussion muss heute jäh unterbrochen werden, als Assanges Assistent in den Raum stürmt – „schnell, schnell! Die Menschen haben Alexandria eingenommen!“, – und Assange trotz Schlafentzugs aus seinem Sessel schnellt.Erleichtert, so scheint es, nimmt er seinen Laptop, arrangiert sich auf dem Fußboden und lässt aufgeregt seine Finger über die Tasten tanzen.
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