„Die großen Demokratien sind auch Diktaturen“

Porträt Éric Cantona hatte einen Großvater, der gegen Franco kämpfte. Dass die Menschheit aus der Geschichte lernt, glaubt er nicht
Ausgabe 02/2020

Nachdem er bei einem Spiel zwischen seinem Verein Manchester United und Crystal Palace im März 1995 einen vulgären Fan mit einem Karate-Tritt niedergestreckt hatte, wurde Éric Cantona für acht Monate gesperrt. Auf der Pressekonferenz sagte er in drolligem Englisch mit starkem französischen Akzent einen einzigen Satz: „Wenn Möwen dem Fischkutter folgen, dann, weil sie hoffen, dass Sardinen von Bord geschmissen werden.“ Und als die UEFA ihn fast ein Vierteljahrhundert später mit dem President’s Award auszeichnete, zitierte er frei aus Shakespeares Theaterstück König Lear: „Was Fliegen sind den müß’gen Knaben, das sind wir den Göttern.“ Cristiano Ronaldo und Lionel Messi, die im Publikum saßen, verstanden die Welt kurz nicht mehr.

Für jemanden wie Éric Cantona, der seine Sätze gerne mit Gleichnissen ausschmückt, sind es geradezu schlichte Worte, mit denen er sich an einen wichtigen Moment seines Lebens erinnert. Er stand gemeinsam mit seiner Mutter und seiner Tante da und blickte in die Augen seines verstorbenen Großvaters. „Es war etwas ...“, sagt er mit seiner unverwechselbar tiefen Stimme und langsamen Art, zu reden, „... tief Emotionales.“ Das ist alles. „Es ist die Geschichte meiner Familie, also ist es meine“, sagt er dann noch.

Und die Geschichte ist einigermaßen verrückt: 2007 wurde in einem Haus in Mexico City ein Koffer des Fotografen Robert Capa entdeckt, der fast 70 Jahre lang dort versteckt gewesen war. Darin fand man 126 alte Filmrollen mit 4.500 Negativen, die jahrzehntelang vermisst waren. Und man fand einen Teil von Cantona. Die meisten der Bilder hatte der Fotojournalist Robert Capa während der letzten Monate des Spanischen Bürgerkriegs gemacht. Sie wurden aus Frankreich hinausgeschmuggelt, als die Nazis kamen. Der Fotograf war mit seiner Kamera auch in einem Flüchtlingslager in Argelès-sur-Mer gewesen, wo 100.000 Menschen, die aus Spanien fliehen wollten, festgehalten wurden. Unter ihnen der 28-jährige Pedro Raurich und seine 18-jährige Freundin Paquita Farnòs. Pedro war Cantonas Großvater. Als die verloren gegangenen Fotos zum ersten Mal in New York gezeigt wurden, nahm Cantona sich vor, nach ihm zu suchen. „Es war eine Capa-Ausstellung über den Bürgerkrieg. Also ging ich hin. Es waren viele Bilder“, erzählt er, während er sich vorbeugt, mit seinem Vollbart und den tiefgründigen Augen.

Wir treffen uns in Lissabon, auf einem kleinen Tisch im Zimmer steht ein Glas Rotwein – als er mit einer Schiebermütze auf dem Kopf angekommenist, hat er es hereingetragen. „Es gab Negative zu sehen, und ein paar zwei, drei Meter große Abzüge. Manche waren sehr klein, man musste sie mit der Lupe betrachten. Ich sagte zu Rachida, meiner Frau: ‚Ich bin sicher, wir finden ein Bild meiner Großeltern.‘ Und dann war es da.“ Das Foto zeigt Cantonas Großvater, während er die Pyrenäen überquert. Ein junger Mann auf der Flucht. „Meine Großeltern haben nicht viel darüber gesprochen. Sie wollten es nicht, daher stellten wir keine Fragen. Als ich das Foto sah, dachte ich sofort an Mutter. Aber das Foto im Ausstellungskatalog, das ich ihr zeigte, war sehr klein. Als dann die Ausstellung nach Arles in Südfrankreich kam, fuhr ich mit meiner Mutter und ihrer Schwester hin. Mein Großvater war jung auf dem Foto und ich kannte ihn in diesem Alter ja nicht. ‚Ist er das?‘ Da stellte sich heraus, dass auch meine Mutter kein Foto von ihm aus dieser Zeit kannte. Auch mit ihr hat er nie darüber gesprochen. Aber er war es, das hat sie sehr gerührt.“

Der Hass des Hundes

Auf dem Tisch in Cantonas Wohnzimmer liegt eine Ausgabe von George Orwells Kriegserfahrungsbericht Mein Katalonien, er habe es kürzlich geschenkt bekommen. Weder hat er es gelesen, noch hat ihn die Geschichte seines Großvaters veranlasst, sich andere Bücher über den Spanischen Bürgerkrieg anzuschauen. Es sei mehr ein tiefes Gefühl, sagt er, Teil seines Wesens, seiner selbst, was immer er auch sei.

Fußballer, Schauspieler, Künstler, Philanthrop, Politiker? „Mensch“, antwortet er, „mit all seinen Paradoxien und Widersprüchlichkeiten.“ Nicht alles lasse sich da rational erklären. Beispielsweise werde ihm bei einer bestimmten Farbe immer schlecht, weil sie ihn an eine Krankheit in seiner Kindheit erinnere. „Manchmal ist es einfach eine Energie. Manchmal hat man eine Erklärung, manchmal auch nicht.“ Er macht eine Pause, grinst. „Es ist natürlich besser, wenn man eine hat. In jedem Fall versucht man zu verstehen. Darum ist das Leben ein großes Abenteuer, die Suche nach uns selbst ist ein großes Abenteuer.“

Cantona ist überzeugt, dass die Erfahrungen seines Großvaters, festgehalten auf Capas Foto, auch in ihm sind. Er würde das Foto gerne kaufen. Nach Hause bringen. „Es ist in meiner DNA und der meiner Brüder festgeschrieben.“ Er saß mal für die Rolle in einem Film auf einem Pferd: „Plötzlich griff ein Hund das Pferd an. Ein Mann erklärte mir, dass es vor 200 Jahren die Aufgabe dieser Hunderasse war, Pferde anzugreifen. Sie wissen nicht, warum, und müssen es auch nicht wissen, es ist einfach da. Genau so ist die Kriegserfahrung in uns“, sagt er.

„Meine Großeltern sprachen nicht viel, aber manchmal ist Stille für Kinder wichtiger, auf gute oder schlechte Weise. Wenn sie nichts sagen, denkt man sich selbst eine eigene Geschichte aus. Wir fühlten uns ihnen immer sehr nah. Das ist die Seite meiner Mutter. Die Familie meines Vaters dagegen kommt aus Sardinien.“ Sie flohen 1911 vor der Armut, kamen nach Marseille.

Als Cantona Ende der 1990er Jahre seine aktive Fußballerkarriere beendete, ging er nach Barcelona. „Ich bin 1966 geboren, und meine Großeltern durften 25 Jahre lang nicht zurück. Ich wollte ihren Ort besuchen.“ Er besitze jetzt Land auf Sardinien, suche Nähe zum anderen Teil der Familie. „Wir werden von unseren Ursprüngen angezogen“, sagt er. „Je mehr man versucht, uns von ihnen wegzubringen, desto stärker wollen wir dahin zurück. In Frankreich wollen sie manchmal, dass man seine Ursprünge vergisst, und ich glaube, das ist ein Fehler. Nur weil man seine Wurzeln kennt oder die Sprache spricht, heißt das ja nicht, dass man das Land, in dem man lebt, nicht liebt oder nicht Französisch lernen wird.“

Ein Erahnen von Ewigkeit

Die Einsichten und philosophischen Weisheiten des Éric Cantona sind Fans des britischen Arthouse-Kinos längst bekannt: In Ken Loachs Looking for Eric (2009) spielt Cantona sich selbst als Fußballer, der seinem Fan Eric Bishop, einem Postboten aus Bristol, der sich in einer Lebenskrise befindet, allerhand gute Ratschlägeerteilt. Auch die vergleichende Rimbaud-Forschung weiß seine Einsichten zu schätzen: „Beide sind die Realisierung des Schönen, das uns berührt und erahnen lässt, was Ewigkeit bedeutet“ (über Rimbaud und Pelé). Éric Daniel Pierre Cantona, 1996in Marseille geboren, holte mit Olympique Marseille zweimal die Meisterschaft, Kultstatus erlangte er aber erst als Spieler in der Mannschaft von Manchester United, mit der er viermal Meister wurde und 82 Tore in 185 Spielen schoss.

Sinnfälliger Ausdruck seiner Art, zu spielen und zu agieren, war der stets hochgestellte Kragen seines Trikots. Nach England hatte Cantona ausweichen müssen, weil den streitlustigen (Schiedsrichter, Vereinsführung, Trainer, Verband) Stürmer in Frankreich kein Club mehr einstellen wollte. 1997 trater als Profifußballer zurück. Da war der Spanische Bürgerkrieg 58 Jahre beendet. Heute engagiert sich Cantona unter anderem für Flüchtlinge, was er auch mit der Fluchterfahrung seiner Großeltern mütterlicherseits erklärt. Die waren katalanische Widerstandskämpfer und damit dem Diktator Franco ein Dorn im Auge. Franco gewann 1939 den Bürgerkrieg und hob die Autonomie Kataloniens auf. Über die Pyrenäen flohen viele Katalanen in das zweigeteilte Nordkatalonien, das zur Hälfte zu Frankreich gehört. Frankreich wieder-um blieb gegenüber Francos Spanien neutral.

Cantona zeigt auf seine Frau, die neben seinem Bruder Jean-Marie und seinem Sohn Raphael auf dem Sofa sitzt. „Meine Frau hat algerische Wurzeln. Sie spricht perfekt Französisch und Arabisch. Und das ist gut. Ich bitte sie darum, mit unserem Sohn und unserer Tochter Arabisch zu sprechen. Sie gibt damit etwas weiter.“

Cantonas Großeltern stammen aus Spanien und Sardinien. „Und wir? Wir haben einfach nur Glück. Ich bin in der zweiten Generation Franzose. Aber ich möchte nicht, dass Menschen sich als was Besseres empfinden, weil sie aus diesem oder jenem Land kommen. Ich respektiere alle. Ich empfinde es als ein großes Glück, dass es verschiedene Kulturen gibt, dass man sich mit Leuten unterhalten kann, reisen, ihre Kultur respektieren“, erklärt Cantona. Aber es gebe eine Rückwärtsbewegung; zunehmenden Nationalismus, eine immigrationsfeindliche Agenda.

„Die großen Demokratien gehen in Länder, in denen es Jahrtausende von Traditionen und Kultur gibt, und wollen den Menschen dort vorschreiben, so zu leben, wie sie es wollen“, kritisiert er. „Dabei ist das nur ihre Vision. Für mich ist das eine Art Terrorismus. Ein ökonomischer Terrorismus. Innen drin sind die großen Demokratien in gewisser Weise Diktaturen, weil sie anderen ihre Werte aufdrücken wollen.“

Letztlich sei es eine ökonomische Frage, betont er noch einmal. Dabei scheine die Menschheit nicht aus der Geschichte zu lernen. „1929 war die Weltwirtschaftskrise, und dann kam der Faschismus in Italien und in Deutschland. Es scheint sich etwas zu wiederholen.“ Hat er Angst, dass es zu einem neuen Krieg kommen könnte? „Schauen Sie sich an, was in der Welt passiert, wie stark die Rechtsextremen geworden sind. Ich hoffe nicht, dass es Krieg gibt. Aber in manchen Ländern ist es bereits so weit wie damals. Es ist dieselbe Geschichte, aber es kümmert uns nicht: So als bräuchten wir es. Millionen Menschen getötet, aber egal. Die Wirtschaft komplett zerstört: Dann fangen wir eben wieder bei null an.“

Wie ließe sich die Entwicklung aufhalten? „Man muss etwas sagen, etwas tun.“ Der Fußball könnte dabei eine Rolle spielen, meint Cantona. Aber er sieht auch die andere Seite. „Manche Fußballer unterstützen die Rechtsextremen, etwa in Brasilien. Außerdem haben wir auf der ganzen Welt immer mehr rassistische Fans, die den Fußball für ihre Zwecke benutzen. Und wir tun nichts dagegen.“ Wie wurde er für solche Dinge sensibilisiert? „Ich hatte eine gute Erziehung: Respektiere dich selbst, respektiere andere Leute, selbst wenn es schwerfällt. Ich versuche, frei zu sein. Aber nicht ohne Grenzen. Wenn ich alles sagen würde, was ich denke ...“ Er lächelt und relativiert sofort: „Mir reicht, was ich an Freiheit habe.“ Dabei gehört es zu seinem Image, dass er genau sagt, was er denkt – auch wenn es vielleicht dechiffriert werden muss. „Manchmal denke ich auch, was ich sage“, grinst er. „Und ich glaube, ich sage mehr als die meisten Menschen.“ Vor allem mehr als die meisten Fußballer.

„Ich weiß nicht, warum. Wir fordern von Fußballern, dass sie gut spielen. Aber selbst wenn sie sich nicht öffentlich äußern, ist es wichtig, dass sie ein Auge auf die Gesellschaft haben, wachsam sind und wissen, was um sie herum geschieht. Für viele von uns ist Fußball von klein auf eine Passion, ein Traum, und vielleicht haben einige Fußballer keinen anderen. Aber viele von ihnen sind interessiert. Ich glaube auch nicht, dass es an fehlender Intelligenz liegt. Vor allem, wer sind wir, dass wir beurteilen könnten, wer intelligent ist und wer nicht? Und was ist Intelligenz überhaupt? Um auf dem höchsten Niveau zu spielen, braucht man eine gewisse Intelligenz, die nicht weniger wichtig ist als die eines Philosophen.“

Kicker hinterm Tellerrand

Éric Cantona wünscht sich, dass Fußball häufiger dafür genutzt wird, etwas positiv zu verändern – so wie es die Bewegung „Common Goal“ tut, bei der Fußballprofis und Trainer ein Prozent ihres Gehalts an die Organisation Streetfootballworld spenden, die weltweit soziale Projekte unterstützt. Als deren Mentor wird Cantona kurz nach unserem Treffen auf einer Bühne in Lissabon vor 10.000 Menschen reden. Er wird eine Geschichte erzählen, die er in Kolumbien erlebt hat: „In Cartagena besuchte ich ein sehr, sehr armes Wohngebiet, in dem rund 50.000 Menschen leben, die von der linken Rebellengruppe FARC vertrieben wurden“, erzählt er. „Es gibt keine Häuser, aber sie haben einen Fußballplatz gebaut, weil sie Fußball lieben. Um dort zu spielen, muss man zur Schule gehen und arbeiten. Vielleicht wird aus keinem von ihnen ein professioneller Spieler. Aber sie sind zur Schule gegangen – und das hilft ihnen für den Rest ihres Lebens.“

Weil „alle Fußball lieben“, sollten viel mehr Fußballer und Ex-Fußballer ihren Einfluss nutzen: „Es ist wichtig, auch die Kicker zu ermutigen, über den Tellerrand zu blicken. Wenn sie nichts sagen wollen, sondern sich nur auf ihr Spiel konzentrieren – kein Problem. Aber sie sollten Bescheid wissen, was um sie herum passiert. Am Ende tun sie vielleicht etwas. Aber mir begegnet immer wieder Unwissen, und das ist eine Schande, weil viele Spieler genau aus solchen ärmeren Gegenden stammen. Manche vergessen das.“

Sid Lowe lebt in Madrid und ist Guardian-Autor

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Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Sid Lowe | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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