Die Hand am Abzug

Hindukusch Die Feindschaft zwischen den beiden Regionalmächten über­schatten die Abzugspläne der US-Armee in Afghanistan

Experten sprechen von einem Stellvertreterkrieg und warnen vor einer Eskalation. Indien und Pakistan könnten sich animiert fühlen, ein mögliches Machtvakuum zu füllen, das NATO-Kontingente und US-Truppen hinterlassen, sollten sie dem fragilen Staat am Hindukusch den Rücken kehren. Als Barack Obama im Herbst 2009 zu verstehen gab, er wolle seine Truppen Mitte 2011 aus Afghanistan auf eine Schiene in Richtung Heimat setzen, quittierte Delhi diese Absicht mit Sorgen und Bedenken. Indien sei eben doch nicht von weitreichender strategischer Bedeutung – die Regierung von Ministerpräsident Singh schien enttäuscht statt erfreut.

M.K. Bhadrakumar, einst Indiens Botschafter in Kabul, beschreibt das Unbehagen in der Asia Times. Die politische Klasse seines Landes sei „zutiefst beunruhigt“ darüber, dass die USA den Krieg mit reintegrierten und ausgesöhnten Taliban beenden wollten. „Unsere Eliten vertreten die Meinung, die Kämpfe müssen fortgesetzt werden, bis die Taliban ausgeblutet und vom Erdboden verschwunden sind.“ Das indische Ressentiment gegenüber Friedensverhandlungen mit den Gotteskriegern resultiert aus der Überzeugung, es handle sich bei den wichtigsten Taliban-Gruppen in Afghanistan um Werkzeuge des pakistanischen Geheimdienstes Inter Service Intelligence (ISI). Man unterstellt Kontakte zu den Taliban, die mit Beziehungen vergleichbar seien, wie sie der ISI zu den Lakshar-e-Toiba in Punjab unterhalte, denen die Gräueltaten in Mumbai von November 2008 sowie viele Anschläge im indischen Teil Kaschmirs zur Last gelegt werden.

Nachdem der einzige Überlebende des Infernos von Mumbai, ein Pakistani, von einem indischen Gericht gerade erst schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt wurde, ließ Innenminister Palaniappan Chidambaram keinen Zweifel, wer für das Massaker politisch verantwortlich sei: „Das Urteil selbst ist eine Botschaft an Pakistan, keinen Terrorismus mehr nach Indien zu exportieren.“

Indien hinausdrängen

Inbrünstiger denn je versuchen die beiden Erzfeinde, sich in Afghanistan zu stellen. Indien wehrt jedes Manöver pakistanischer Diplomaten oder Militärs ab, wenn es darauf zielt, seinen Einfluss in Kabul zu kappen. Immerhin hat man seit 2001 1,3 Milliarden Dollar in Hilfsprojekte investiert und Bombenanschläge auf die eigene Botschaft hinnehmen müssen Fast jedes Mal führte die Spur der Täter nach Pakistan. „Indien befürchtet, unser Land will den Boden für pro-pakistanische Elemente innerhalb der Taliban bereiten, sobald die zu Verhandlungen geladen sind. Das wäre ein entscheidender Schritt, Indien aus Afghanistan hinauszudrängen, sobald die US-Streitkräfte verschwinden“, meint der pakistanische Schriftsteller Ahmed Rashid. Bei einem Treffen mit Premier Singh in Dehli soll Hamid Karsai versichert haben, die Wiedereingliederung der Taliban solle transparent sein und mit „Besonnenheit und Vorsicht“ gesteuert werden.

Auch wenn sich die US-Regierung die indischen Bedenken und Klagen gern anhört, so sind Barack Obama und Hillary Clinton doch willens, sowohl die pakistanische Generalität als auch Hamid Karsai bei Laune zu halten, nachdem man sich zwölf lange Monate über gegenseitig für Rückschläge bei Militäroperationen verantwortlich gemacht hat.

Pakistan umzingeln

Mit der anstehenden Sommeroffensive in der Provinz Kandahar ist der Fokus der Amerikaner darauf gerichtet, die Taliban im Süden zurückzudrängen und sicherzustellen, dass eine „Afghanisierung“ des Krieges voranschreitet und Exit-Pläne nichts Utopisches mehr haben. Niemand kann es den Indern verübeln, wenn sie bei den Amerikanern um Verständnis für ihre Sicht der Dinge werben – niemand kann es denen wiederum verwehren, dies zu ignorieren. Die Amerikaner hören sich lieber die Befürchtungen der pakistanischen Seite an, mit ihrem Afghanistan-Engagement würden die Inder Vorkehrungen treffen, Pakistan heimlich zu umzingeln.

Durch derartige Spannungen in der Region, bei denen auch China, Russland und Iran eine Rolle spielen, wächst die Gefahr, dass Rangeleien um eine Hegemonie in Afghanistan die Hoffnungen der NATO auf baldigen Abzug zunichte machen. Schließlich schwindet mit dem Herannahen von Obamas Exit 2011 die Möglichkeit, Druck auf die Gegenseite auszuüben. „In den Augen der Nachbarn sind die Amerikaner schon so gut wie weg. Wenn keine Lösung gefunden wird, die indischen und pakistanischen Interessen in Afghanistan zu versöhnen, könnte es erneut zu terroristischen Anschlägen auf indische Staatsbürger in Kabul kommen“, so Ahmed Raschid. Das hört sich ­weniger nach einem Ende des Afghanistankrieges an als nach dem Beginn eines Waf­fen­gangs, der die ganze Region erfasst.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Simon Tisdall | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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