Die menschliche Spezies unterscheidet sich von anderen Lebewesen auf der Erde in vielerlei: Sprache, Intelligenz, soziale Organisation. Der britische Biologe Mark Pagel glaubt, dass erst die Entwicklung von Kultur dem Menschen seinen beispiellosen Aufstieg ermöglichte. Und er hat eine sehr spezielle Vorstellung davon, auf welche Weise Kultur diesen Einfluss genommen hat.
Ian Tucker: Übt Kultur Kontrolle über uns aus?
Mark Pagel
: Manche Leute halten die Kultur für ein Virus, das unseren Verstand befällt und ihn in ihrem Sinne kontrolliert. Ich bin da etwas anderer Auffassung. Kultur dient uns. Wir nehmen Kulturen an und gestehen ihnen im Gegenzug für das Wohlergehen und den Schutz, den sie uns bieten, einen gewissen Grad an Kontrolle zu.
Warum wurde Kultur wichtig?
Vor etwa 200.000 Jahren begann der Mensch, Wissen, Erfahrung und Fertigkeiten an seinesgleichen weiterzugeben. Es war der Beginn einer neuen Form der Evolution – die Evolution der Ideen. Anders als Gene können Ideen von einem Verstand zum anderen springen. Das bedeutete, dass Kulturen sich viel schneller anpassen als Eigenschaften, die durch Gene vermittelt werden. Als die Menschen von Afrika in die Wüsten Saudi Arabiens zogen, mussten sie deshalb nicht erst auf die Evolution von Genen warten, die ihnen das Leben in der Wüste erleichterten. Sie konnten einander beibringen wie sie Hütten bauen, nach Wasser graben und Kamele zähmen.
Unsere Fähigkeit, uns kulturell anzupassen, lässt sich dabei betrachten wie die Anpassung auf genetischer Ebene. Bei beiden handelt es sich um Informationsflüsse, die über Generationen weitergegeben werden. Der Unterschied ist, dass die eine Anpassung wenige hundert oder tausend Jahre benötigt, während es bei der anderen Hunderttausende von Jahren sind.
Würden Sie sagen, Kultur sei der erfolgreichste Weg für das Wachstum einer Bevölkerung?
Keine andere Spezies hat es vermocht, ihre Zahl über einen so langen Zeitraum hinweg zu vergrößern. Die meisten Tiere vermehren sich, bis ihr Lebensraum erschöpft ist. Dann ist Schluss, denn Tiere sind beschränkt auf die Umgebung, an die ihre Gene angepasst sind. Ein Gnu kann nicht auf Bäume klettern, um an Früchte heranzukommen. Wir hingegen sind durch Kultur in der Lage, uns an verschiedene Umgebungen anzupassen. Heute müssen sich die meisten Arten eher an uns anpassen als an die Umwelt, weil wir die Welt verändert haben.
Wenn die besten kulturellen Ideen jene sind, die uns den größten Nutzen bringen, warum können wir uns der schlechten, die etwa unsere Umwelt zerstören, nicht erwehren?
Wir beide wären wahrscheinlich nicht hier, wenn unsere Vorfahren keine Barbaren gewesen wären. Heute sehen wir, dass ihre Strategie nicht nachhaltig ist. Das stellt unsere Spezies vor ihre bislang größte Herausforderung. Und alle bisherigen Versuche sie zu meistern, sind jämmerlich gescheitert. Wir sollte aber daran denken, dass unsere Neigung zur Kooperation ein wenig Anlass zur Hoffnung gibt. Wir werden eine Welt schaffen müssen, in der wir alle im selben Boot sitzen. Bis wir alle der Tatsache Rechnung tragen, dass unsere Schicksale unlösbar miteinander zusammenhängen, gibt es wenig Perspektive.
Sie sagen, wir haben ein Immunsystem, um schlechte Ideen abzuwehren.
Ideen wie der Zölibat, Drogenkonsum oder Selbstmordattentate, die sich gegen unsere Reproduktionsinteressen richten, sind deshalb nicht sehr weit verbreitet. Solche Ideen können sich nicht so leicht unseres Verstandes bemächtigen. Ich glaube, dass wir analog zum Immunsystem unseres Körpers eine Art Immunsystem gegen schlechte Ideen entwickelt haben. Auch wenn Krankheitserreger uns gelegentlich eins auswischen, haben sie damit nicht gewonnen, weil unser Immunsystem sich in Echtzeit anpasst. Ich denke, dass wir uns auch ein kognitives Immunsystem angeeignet haben, um Ideen auf ihre Nützlichkeit hin zu überprüfen. Ich habe zwar nicht den geringsten Beleg dafür; man hat niemals kognitive Immunzellen gefunden, die in unserem Gehirn zirkulieren. Aber unser Verhalten legt nahe, dass deshalb nur wenige von uns für Suizidkulte, Drogenmissbrauch und so weiter empfänglich sind.
Denken Sie, dass kulturelle Identität wie ein Gen über Generationen weitergegeben wird?
Ja. Die Genauigkeit, mit der genetische Informationen übermittelt werden, ist zwar viel größer als die Genauigkeit kultureller Übermittlung. Trotzdem ist sie beeindruckend. Sie und ich können zum Beispiel die Texte von Geoffrey Chaucer aus der Mitte des 14. Jahrhunderts lesen, obwohl mehrere hundert Jahre kultureller Überlieferung dazwischen liegen. Es ist wirklich erstaunlich, wie zuverlässig das funktioniert. Und die Zuverlässigkeit kultureller Überlieferung lehrt uns noch etwas: Dass unser gemeinsames kulturelles Wissen unser Überleben und unser Wohlergehen entscheidend befördert haben. Wäre dem nicht so, hätten wir nicht so viele Formen der Übermittlung gefunden. Das macht es möglich, dass wir als Babys nach Tasmanien gebracht und als Tasmanen erzogen werden und schließlich Tasmanen sein können.
Wenn ich als Baby in KwaZulu-Natal abgesetzt worden wäre, hätte ich ein Zulu werden können?
Man hätte vielleicht ein fremdes Omen in Ihnen gesehen, weil sie nicht wie ein Zulu aussehen. Davon abgesehen wären Sie aber sicher ein guter Zulu geworden.
Wenn ich Sie aber in der tibetischen Hochebene ausgesetzt hätte, wäre das schwieriger geworden, denn die Menschen dort haben ein Gen, das ihnen erlaubt, genug Sauerstoff aus der dünnen Luft aufzunehmen. Der Unterschied ist nicht absolut: Wenn Sie Urlaub in Tibet machen, werden Sie sich anfangs jeden Tag übergeben müssen. Dann produziert ihr Körper mehr Blutfarbstoff, damit er mehr Sauerstoff aufnimmt. Sie würden aber nie ein so guter Hochlandtibeter werden wie die eingeborenen.
Mark Pagel leitet das Evolution Laboratory der University of Reading. Sein Studium der Evolution und Kulturen hat ihn um die ganze Welt geführt. In Wired for Culture: The Natural History of Human Cooperation stellt er die These auf, die menschliche Kultur sei für die Frage, wer wir sind und wie wir leben entscheidender als unsere Gene. Das Gespräch führte Ian Tucker vom britischen Guardian
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