Die Katastrophe ist kein Schicksal

UN-Klimakonferenz Ist der Klimawandel überhaupt noch aufzuhalten? Ja! Ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte zeigt, dass rasante gesellschaftliche Veränderung möglich ist
US-Präsident Franklin D. Roosevelt inspiziert ein Geschenk der US-Armee: einen riesigen Globus, auf dem alle Truppeneinsätze markiert sind (1942)
US-Präsident Franklin D. Roosevelt inspiziert ein Geschenk der US-Armee: einen riesigen Globus, auf dem alle Truppeneinsätze markiert sind (1942)

Foto: Hulton Archive/Getty Images

Fatalismus setzt sich in unseren Bewegungen fest wie Rost. In Gesprächen mit Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen höre ich immer wieder das Gleiche: „Wir sind nicht zu retten.“ Die Pläne der Regierung reichen nicht aus und kommen zu spät. Sie können wahrscheinlich nicht verhindern, dass die Ökosysteme der Erde in neue Stadien übergehen, die für die Menschheit und viele andere Arten feindlicher Natur sind.

Für eine echte Chance zur Stabilisierung unserer lebenserhaltenden Systeme brauchen wir keinen langsamen und schrittweisen Wandel, sondern schnelles und drastisches Handeln. Aber ein solches wird weitverbreitet für unmöglich gehalten: Es gibt kein Geld, die Regierungen sind machtlos und die Menschen werden nichts Ambitionierteres tolerieren als die lauwarmen Maßnahmen, die aktuell vorgeschlagen werden. Zumindest wird uns das erzählt. Es ist ein Paradebeispiel für eine allgemeine Regel: Politisches Versagen ist im Grunde ein Versagen der Vorstellungskraft.

Die offensichtlichen Lektionen der Corona-Pandemie – als der magische Geldbaum wie durch ein Wunder in voller Blüte stand, entdeckten Regierungen, dass sie regieren können (wenn auch mit unterschiedlicher großer Kompetenz) und dass die Leute bereit waren, ihr Verhalten radikal zu ändern – wollen wir hier mal beiseite lassen. Denn es gibt noch ein viel besseres und mächtigeres Beispiel. Es handelt vom Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg.

Eine Erhöhung um das 42-fache in vier Jahren

In Umweltkreisen lösen militärische Analogien häufig Unbehagen aus. Aber der Krieg gehört zu den wenigen Präzedenzfällen und Metaphern, die alle sofort begreifen. Und wir wären dumm, nichts aus dieser bemerkenswerten Lektion zu lernen. Bereits bevor die USA den Krieg erklärten, hatte US-Präsident Franklin Roosevelt begonnen, Truppen einzuziehen und sein „Arsenal der Demokratie“ aufzubauen: Kriegsmaterial, mit dem er die alliierten Streitkräfte unterstützte. Um „Hitler zu überflügeln“, rief er zur Steigerung der Produktion auf ein Niveau auf, das allgemein für unmöglich gehalten wurden. Aber nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 geschah das Unmögliche.


Am Tag nach dem Angriff forderte und erhielt Roosevelt vom Kongress eine Kriegserklärung. Dann begann er sofort damit, nicht nur die Regierung neu zu organisieren, sondern die gesamte Nation. Er gründete eine Reihe von Behörden, die wenig überwacht wurden, aber durch einfache und effektive Maßnahmen wie den „kontrollierten Produktionsplan für Material“ organisiert wurden.

Erstmals in der Geschichte der USA führte er eine allgemeine Bundeseinkommenssteuer ein. Die Regierung erhöhte den Spitzensteuersatz rasch, bis er 1944 94 Prozent erreichte. Sie gab Kriegsanleihen aus und nahm massiv Kredite auf. Zwischen 1940 und 1945 stiegen die staatlichen Gesamtausgaben um rund das Zehnfache. Erstaunlicherweise gab die US-Regierung zwischen 1942 und 1945 mehr Geld aus (in heutigen Dollarwerten) als zwischen 1789 und 1941. Von 1940 bis 1944 stieg der Militärhaushalt um das 42-fache und übertraf damit den von Deutschland, Japan und Großbritannien zusammen.

Zivile Industrien wurden komplett für den Krieg umgerüstet. Als die Autoindustrie angewiesen wurde, auf Militärproduktion umzustellen, baute sie ihre enormen Anlagen sofort ab und ersetzte sie in wenigen Wochen durch neue Maschinen. General Motors begann, Panzer, Flugzeugmaschinen, Kampfjets, Kanonen und Maschinengewehre zu produzieren. Oldsmobile begann, Artilleriegranaten herzustellen; Pontiac Flieger-Abwehrgeschütze. Bis 1944 fertigte Ford fast jede Stunde einen Langstreckenbomber. Während ihrer drei Kriegsjahre stellten die USA 87.000 Marineschiffe, inklusive 27 Flugzeugträger, 300.000 Flugzeuge, 100.000 Tanker und Panzerwagen sowie 44 Milliarden Munitionsladungen her. Roosevelt bezeichnete das als „Produktionswunder“. Aber es war kein Wunder. Es war die Umsetzung eines gut angelegten Plans.

Die Kriegsanstrengungen der USA mobilisierten viele Millionen Menschen. Zwischen 1940 und dem Ende des Krieges stieg die Zahl der amerikanischen Truppen um das 26-fache, während die Zahl der zivilen Arbeitskräfte um zehn Millionen zunahm. Viele der neuen Arbeitskräfte waren Frauen.

Von 1942 bis 1945 war die Produktion von Autos verboten. Das Gleiche galt für neue Haushaltsgeräte und sogar den Bau neuer Häuser. Reifen und Benzin waren streng rationiert; Fleisch, Butter, Zucker, Kleidung und Schuhe waren ebenfalls nur beschränkt erhältlich. Rationierung wurde als fairer eingeschätzt, als rare Güter zu besteuern: Sie sollte sicherstellen, dass jeder seinen gerechten Anteil bekam. Auch wurde eine nationale Geschwindigkeitsbegrenzung auf 35 Meilen (56,3 Kilometer) pro Stunde eingeführt, um Treibstoff zu sparen.

Plakate warnten die Leute: „Wer allein fährt, fährt für Hitler! Treten Sie noch HEUTE einem Car-Sharing-Club bei“. Auf anderen wurde die Frage gestellt: „Ist diese Fahrt wirklich notwendig?“. Oder es hieß: „Verschwendung hilft dem Feind: Verschwenden Sie keine Wertstoffe“. Die Amerikaner:innen wurden gedrängt, den „Consumer’s Victory Pledge“, in etwa „Siegesversprechen des Verbrauchers“, zu unterzeichnen: „Ich kaufe mit Bedacht ein; ich gebe gut auf die Dinge acht, die ich habe; ich verschwende nichts.“ Jeder denkbare Wertstoff – Kaugummipapier, Gummibänder, gebrauchtes Kochfett – wurde wiederverwertet.

Mobilisierung muss zuerst kommen

Was also hält die Welt davon ab, mit der gleichen entschiedenen Kraft auf die größte Krise zu reagieren, vor der die Menschheit je gestanden hat? Es fehlt nicht an Geld oder Fähigkeit oder Technologie. Wenn überhaupt, würde die Digitalisierung eine solche Transformation schneller und einfacher machen. Es ist eine Problem, vor dem Roosevelt bis Pearl Harbor stand: fehlender politischer Wille. Heute, genau wie damals, überwiegen öffentliche Ablehnung und Gleichgültigkeit, unterstützt von den bestehenden Industriebranchen (heute vor allem fossile Treibstoffe, Transport, Infrastruktur, Fleisch und Medien) gegenüber der Notwendigkeit, tätig zu werden.

Der Unterschied zwischen 1941 und 2021 besteht darin, dass heute die Mobilisierung zuerst kommen muss. Wir müssen Bürgerbewegungen aufbauen, die so groß sind, dass den Regierungen keine andere Wahl bleibt, als auf sie einzugehen, wenn sie im Amt bleiben wollen. Wir müssen den Politiker:innen klarmachen, dass das Überleben von Leben auf der Erde wichtiger ist als ihr ideologisches Festhalten an einer begrenzten Regierung. Wenn wir verhindern wollen, dass die Ökosysteme der Erde umkippen, müssen wir die bestehenden politischen Systeme verändern.

Wann also ist unser Pearl Harbor-Moment? Wie wäre es mit jetzt? Schließlich wurden die Pazifikküsten der USA kürzlich von einem nie dagewesenen klimatischen Angriff getroffen – um die Analogie einmal weiterzudenken. Die Hitzewellen, die Dürren und die Brände in diesem Jahr müssten eigentlich ausreichen, um wirklich jeden aus dem Isolationismus zu reißen. Aber die nicht geschlossene Lücke zwischen diesen Ereignissen und dem Verständnis ihrer Ursachen ist vielleicht das größte öffentliche Aufklärungsversagen der Menschheitsgeschichte. Wir brauchen Institutionen, die ein Äquivalent zu Roosevelts Büro für Kriegsinformationen sind und die Menschen ständig daran erinnern, was auf dem Spiel steht.

Die US-Mobilisierung hat gezeigt: Wenn Regierungen und Gesellschaften sich entscheiden, kompetent zu sein, können sie Dinge erreichen, die zu anderen Zeiten als unmöglich galten. Die Katastrophe ist keine Frage des Schicksals, sondern eine Frage der Entscheidung.

George Monbiot ist Kolumnist des Guardian

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Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

George Monbiot | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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