Die kleinen Ticks der Lügner

LA Noire Die Macher von Grand Theft Auto revolutionieren das Computerspiel, indem sie das Genre der Noir-Krimis erkunden. Das Ziel dort: Kriminelle verhören – nicht töten

Zwei Polizisten platzen in ein schmutziges Apartment. Eine Frau kauert auf dem Boden inmitten umgeworfener Möbel, während eine Gruppe bezahlter Schläger jede Schublade und jeden Schrank durchsucht. Ein Faustkampf folgt, die schweren Jungs werden erledigt und den Beamten bleibt es überlassen, das traumatisierte Opfer zu befragen.

Wie fangen sie die Vernehmung an? Wie können sie erkennen, ob sie die Wahrheit sagt? Nun, das ist Ihr Problem. Sie sind der Bulle in einer völlig neuen Art von Videospiel.

LA Noire ist das jüngste Angebot aus dem Hause Rockstar Games, allgemein bekannt für Grand Theft Auto und den letztjährigen brillanten Westernshooter Red Dead Redemption. Die Handlung ist im düsteren LA der späten Vierziger angesiedelt, in dem Kriminalität allgegenwärtig ist; den vertrauten Jagdgründen von Raymond Chandler, James Ellroy und Dashiell Hammett – die alle großen Einfluss auf Brendan McNamara, den Entwickler des Spiels, ausübten. Der Spieler übernimmt die Rolle des Polizeianfängers Cole Phelps, der in einer Serie von Entführungen und Morden ermittelt und dabei Tatorte untersucht, Zeugen befragt und Verdächtige verhört. Die Gamer können den Ton jeder Frage-und-Antwort-Runde bestimmen, sie können freundlich sein und behutsam vorgehen oder jedes Wort anzweifeln, das das Subjekt äußert. Wichtig ist, dass Fortschritte erzielt werden, indem man beobachtet, wie die Figuren stottern und sich winden und dabei urteilt, ob sie lügen oder verängstigt sind; die Leute werden nicht getötet, sie werden studiert.

Nach einer Drohung knickt er ein

Der Realismus dieser virtuellen Menschen ist unglaublich. In einer Szene muss der Gamer eine Schauspielerin befragen, die bei einem vereitelten Mordversuch unter Drogen gesetzt, auf den Rücksitz eines Wagens gestopft und eine Böschung herunter gerollt wurde. Ihre Augen huschen hin und her, sie windet sich, ihre Stirn ist vor Aufregung gerunzelt – sie verbirgt etwas. Die Gesichtsausdrücke kommen nicht als die groben Karikaturen daher, die wir aus Videospielen gewöhnt sind; sie sind subtil und natürlich. Später spricht der Gamer mit dem hinterhältigen Besitzer einer schäbigen Fikmproduktionsfirma, der als Betreiber einer zwielichtigen Castingcouch erwischt wurde. Er knurrt sich durch die Befragung, aber nach einigen Drohungen knickt er ein, sein Ausdruck ermattet. Zuweilen ist das fast fotografisch.

LA Noire repräsentiert eine neue Ära der interaktiven Unterhaltung. In den vergangenen 30 Jahren basierten Games darauf, die Hand-Augen-Koordination des Spielers herauszufordern – die Fähigkeit, mit einem Controller schnell zu reagieren. Aber die wesentliche Fähigkeit, die für LA Noire benötigt wird, ist die emotionale Auffassungsgabe, die Fähigkeit, Körpersprache und Gesichts-„Nachrichten“ einzuschätzen – die kleinen nervösen Ticks eben, mit denen sich Lügner verraten. Es ist dieselbe Fähigkeit, die wir im wirklichen Leben nutzen und die uns erlaubt, uns auf Charaktere in Fernseh- und Kinodramen einzulassen. Nun sind Games also ein universelles Medium.

Diese Entwicklung hatte sich bereits angedeutet. Das letztjährige Psychodrama Heavy Rain verlangte von den Spielern, sich auf gestörte Charaktere einzulassen und einfache Ermittlungsarbeit durchzuführen, während die Science-Fiction-Abenteuer der Mass-Effect-Serie eine reiche, emotionale Geschichten boten. Aber der Naturalismus und das menschliche Drama dieser Games wurden immer von etwas leblosen Charaktermodellen ausgebremst.

Die Casting Agentur? Diesselbe wie "Mad Men"

Wesentlich für den menschlichen Realismus in LA Noire ist die Motion-Scan-Technologie. Diese neue Methode Gesichtsaudrücke einzufangen, wurde von den Schöpfern des Spiels, dem in Sydney angesiedelten Studio Team Bondi, erforscht und entwickelt. Beim gewöhnlichen Motion Capture wird das Gesicht des Schauspielers mit kleinen, reflektierenden Punkten bedeckt, die von einer Kamera verfolgt werden. „Das Problem dabei ist, dass kleine Punkte auf dem Gesicht die Bewegungen von Muskeln oder Haut nicht wirklich einfangen“, sagt McNamara. „Sie fangen nur die Knochen ein und im menschlichen Gesicht gibt es nicht so viele Gelenke.“ Beim Motion Scan jedoch wird jeder Schauspieler von 32 Kameras umgeben, die jede komplizierte Bewegung mit einer Frequenz von 1.000 Bildern pro Sekunde aufzeichnen und so eine dreidimensionale Animation vom Gesicht des Schauspielers erzeugen, während er seinen Text aufsagt. Das alles wird in einem Spezialstudio komplett mit einer krassen, weißen Beleuchtung eingefangen. „Als wir den Schauspielern erstmals diesen sonderbaren Prozess beschrieben, dachten sie, sie würden umprogrammiert wie Alex in Clockwork Orange“, scherzt McNamara.

Auch das Casting war wesentlich. Team Bondi entschied sich gegen Film-Superstars, da deren Eigenheiten und emotionale Hinweise den Gamern zu vertraut gewesen wären. Stattdessen wählten sie weniger bekannte Schauspieler. Aaron Staton, der in der HBO-Serie Mad Men den Ken Cosgrove spielt, ist Phelps. „Als wir begannen, uns mit den Rollen zu befassen, hatte Dan Houser [der Vizepräsident von Rockstar Games] Aaron in Mad Men gesehen und hielt ihn für einen interessanten Schauspieler“, erklärt McNamara. „Glücklichweise benutzten wir dieselbe Casting Agentur wie Mad Men, und als wir Aaron einmal an Bord hatten, hörte die Hälfte der restlichen Besetzung davon und wollte auch dabei sein. Viele von ihnen haben Gastauftritte!“

Über 400 Charaktere

Es gibt über 400 Charaktere in dem Spiel, sein Skript, würde genug Stoff für zwei Staffeln einer großen Fernsehserie bieten. Doch bei allem menschlichen Drama ist LA Noire immer noch ein Action Game. Zwischen den Verhörszenen gibt es Feuergefechte und Autoverfolgungen, Banküberfälle müssen vereitelt werden. Team Bondi behauptet, eine neue Art des kooperativen Gameplays werde entstehen, um mit dieser Dichotomie umzugehen. „Ein interessantes Phänomen, das wir beim Testen des Games gesehen haben, ist, dass sich drei oder vier Leute auf die Couch setzen und gemeinsam spielen, wobei einer die Schießereien und die Prügeleien erledigt und jemand anderes die Gespräche übernimmt. So entsteht ein interaktives Erlebnis, das Familien einer halben Stunde Fernsehen vorziehen könnten“, ergänzt McNamara.

Kommt also eine Zukunft, in der Games völlig auf die Notwendigkeit instinktiver Action verzichten und sich auf menschliche Beziehungen konzentrieren? McNamara ist überzeugt, dass das passieren wird, und wir – da Fernseher mit Internetverbindung leichter verfügbar sein werden – Erlebnisse sehen werden, die traditionelle Fernsehshows mit Elementen des Videospiels verbinden. „Das wird schneller passieren, als Sie glauben“, sagt er. „Wir haben mit LA Noire gezeigt, welches Levely an Menschlichkeit gezeigt, den man in Games erzeugen kann, den Grad des Eintauchens, die Glaubwürdigkeit der Charaktere. Bei der Interaktivität waren Games immer gut, aber in Bereichen wie Story und Charaktere haben wir versagt. Wenn wir all das einbringen, gibt es keinen Grund, warum es keine interaktiven Fernsehshows geben sollte.“

Bis vor kurzem ging es in Games um grobe Charaktere, die Außerirdische vernichten; jetzt kann es in ihnen um rundliche Menschen gehen, die lernen, fotorealistische Fremde abzuschätzen. McNamaras Ideen von tiefen interaktiven Dramen, die wie Fernsehshows ausgestrahlt werden, klingen ausgefallen, aber die technologischen Bausteine sind vorhanden. LA Noire weist den Weg. Wir werden die Controller weglegen und auf unsere Sozialkompetenzen zurückgreifen müssen.

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LA Noire

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Steffen Vogel
Geschrieben von

Keith Stuart | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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