Die Kreatur unterm Hammer

Deepwater Horizon Zwei Jahre nach der Ölpest geht es ans Eingemachte: Was kostet das Leben eines schwimmenden Säugetiers – und wie viele ­stehen auf der Rechnung?

Sie werden in riesigen Kühlschränken mit flüssigem Stickstoff aufbewahrt. Markiert, katalogisiert und streng bewacht, warten ihre Kadaver darauf, über den Preis zu bestimmen – den Preis der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko. Denn die mehr als 700 Delfine, die seit der Explosion der Deepwater Horizon an die Küsten des Golfs gespült wurden, sind entscheidend für die Untersuchung der Umweltschäden, die durch das größte Offshore-Leck in der Geschichte der USA verursacht wurden.

Geborgen wurden die Kadaver entlang der Golfküste – einmal gar von bewaffneten Bundesbeamten, immer in Anwesenheit von Zeugen BPs. Wissenschaftler im ganzen Land werten seither das Gewebe aus, um zu beweisen, dass die Tiere Kohlenwasserstoffen aus dem lecken Bohrloch ausgesetzt waren. Und um zu zeigen, wie viel Schaden das Öl hinterlässt, das noch immer an die Strände gespült wird und nahe der zerstörten Bohrinsel in Klumpen auf dem Meeresboden liegt. Was kann man tun, um die Zeit zurückzudrehen und Tier- und Umwelt wieder in einen Zustand zu versetzen, wie er vor der Havarie herrschte? Was ist das Leben eines Delfins wert?

Am Mittwoch vergangener Woche hat BP seinen mehr als 100.000 Klägern den Vorschlag gemacht, sich mit der Zahlung von 8,7 Milliarden Dollar außergerichtlich zu einigen und den Fall zu den Akten zu legen. Zuerst aber müssen sich BP und die Bundesregierung über das Ausmaß der Umweltschäden einigen, die der Katastrophe folgten, und mit welcher Summe das Unternehmen sie begleichen soll.

Ein irritierender Aspekt

„Es ist außerordentlich schwer, Umweltschäden zu beziffern. Wie viele Dollars legen wir einem zerstörten Marschland oder dem Verlust eines Laichgebiets zugrunde? Wie hoch ist der Preis für die Tötung von Vögeln und Meerestieren? Selbst wenn wir in der Lage wären, einen Preis für ökologische Schäden sinnvoll zu berechnen, bliebe so vieles, was wir über die Schäden im Golf von Mexiko gar nicht wissen – und auf Jahre hinaus nicht wissen werden“, sagt David Uhlmann, Jura-Professor an der University of Michigan und ehemaliger Experte für Umweltvergehen im Justizministerium.

Wegen des Ausmaßes und der Ungewissheit der Langzeitfolgen übertreffe der Fall alles bisher Dagewesene, sagt Tom Brosnan von der National Oceanic and Atmospheric Agency (NOAA). Die NOAA leitet die Bestandsaufnahme der Schäden, die durch die vier Millionen Barrel Öl im Golf von Mexiko verursacht wurden. Es sei zuerst nötig, eine Kausal-Beziehung herzustellen, sagt Brosnan. „Wenn ein Tier krank oder verendet ist, müssen wir den Nachweis erbringen, dass das Öl die Ursache war.“ Dann müssen BP und die Regierung sich auf den Preis einigen. Den Wert einer Kreatur zu bemessen sei einer der irritierendsten Aspekte, sagt ein Anwalt, der die Untersuchung kennt. Mit Seevögeln, die durch Havarien ums Leben kamen, habe man das schon oft gemacht. Mit Delfinen aber noch nie. Sie seien sicherlich mehr wert.

Niemand gehe ernsthaft davon aus, dass BP für jeden toten Delfin einen fixen Dollarpreis zahlen wird, sagt Brosnan. Die Ergebnisse sind zwar auch wichtig, um zu wissen, wie viele Tiere ausgewildert werden müssen. Damit eine Population entstehen kann wie vor der Havarie. Zuerst geht es aber um den Verlust. „Man rekonstruiert ihre Geschichte: Was könnte den Delfinen widerfahren sein? Haben sie Dämpfe eingeatmet? Haben sie etwas Kontaminiertes gegessen? War es der Hautkontakt? Lag es daran, dass sie keine Beute mehr finden?“

Die gute Zusammenarbeit

Neben den Delfinen untersuchen die Wissenschaftler der Regierung alles von winzigem Zooplankton bis zu riesigen Seekühen. Nicht wenige machen sich Sorgen, dass ein Mangel an Daten BP in die Hände spielen wird. Die zu zahlende Summe aber hängt an den Delfinen. „Sie sind eine Wächter-Spezies“, sagt George Crozier, ehemals Direktor des Dauphin Island Sea Lab. „Sie stehen nicht nur an der Spitze der Nahrungskette, sondern fressen auch wirklich jeden Fisch, den sie kriegen können. Das erhöht ihr Risiko.“ Als große Säugetiere durchbrechen Delfine auch jede mit einer dicken Ölschicht bedeckte Wasseroberfläche und atmen Dämpfe und den Rauch der Feuer ein, mit denen das Öl abgefackelt wird.

Wie viele Delfine tatsächlich durch die Katastrophe verendet sind, wird schwer zu ermitteln sein. Die Größe der Delfin-Populationen vor dem Unglück im Golf war unbekannt. Die Experten sind sich aber einig, dass es sich bei den gefundenen 700 lediglich um einen Bruchteil der Tiere handelt, die dem Öl zum Opfer fielen. Man nimmt an, dass auf jeden Kadaver, der an Land gespült wird, zehn weitere kommen, die nie gefunden werden. Eine Studie über zuvor gestrandete Delfine im Golf legt aber nahe, dass die wahre Zahl der verendeten Tiere 50 oder sogar 250 Mal höher liegen könnte. Das wären bis zu 175.000 Delfine.

Aber starben sie alle am Öl? Kadaver fand man schon Monate bevor die Bohrinsel leckschlug, und einige Forscher vermuten, ein Teil der Fälle könne auf Delfin-Masern oder eine Kaltwasserwelle aus dem Mississippi zurückzuführen sein. Die NOAA hat dagegen Ergebnisse veröffentlicht, die eher dem Öl die Verantwortung zuschreiben. Sie stützen sich auf Urin- und Blutproben wie auch Ultraschallaufnahmen von 32 Delfinen aus der Barataria Bay, die von der Havarie stark betroffen war. Die Tiere waren stark untergewichtig, blutarm und unterzuckert. „Es sind nur Indizien, aber die Situation ist vergleichbar mit einem Raum voller Leichen, in dem ein Mann mit einem Gewehr steht“, sagt Michael Jasny vom Natural Resources Defence Council.

Für BP kommen natürlich eine ganze Reihe anderer Gründe in Betracht. Man arbeitet aber gut mit der amerikanischen Regierung zusammen. BP hat 14 Milliarden Dollar bezahlt, um Marschland und Küsten zu reinigen. Eine weitere Milliarde ist für Restaurierungsprojekte und noch eine halbe für wissenschaftliche Studien geflossen. Es ist wahrscheinlich, dass BP und die Regierung versuchen werden, ein Gerichtsverfahren zu vermeiden. Dadurch könnte das Geld für Restaurierungsprojekte auch früher fließen. Auf beiden Seiten zeigt man sich also optimistisch. Aktivisten wie Aaron Viles vom Gulf Restoration Network sehen die Kooperation von Regierung und BP hingegen kritisch. „Zu viel spielt sich in einer Blackbox ab. Verhandelt wird nur zwischen Wissenschaftlern und Anwälten.“

Suzanne Goldenberg ist US-Umweltkorrespondentin des Guardian Übersetzung: Holger Hutt

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Suzanne Goldenberg | The Guardian

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