Die Krise nach der Krise

Schuldenerlass Die Lage der ärmsten Länder ist kritisch, ein Finanzkollaps droht. Es ist klar, wie sich der verhindern ließe
Ausgabe 43/2021

Sorgen vor Inflation. Eine Pandemie. Der Klimawandel. Die Politikerinnen und Politiker dieser Erde haben wahrlich schon genug zu tun, ohne dass auch noch eine Schuldenkrise in den Entwicklungsländern obendrauf käme. Dabei ist die gar nicht so unwahrscheinlich. Sowohl die Weltbank als auch der Internationale Währungsfonds haben auf ihren jährlichen Tagungen auf den massiven ökonomischen Druck hingewiesen, unter dem die ärmeren Länder dieser Welt stehen. Sie sind zu Recht besorgt. Die Verschuldung hat ein Rekordniveau erreicht, die Gegenmaßnahmen sind unzureichend. Und die Uhr tickt.

Die Gemengelage hat eine lange Vorgeschichte. In einer ersten Phase liehen sich viele Entwicklungsländer Geld, von der Weltbank und dem IWF oder von anderen Ländern beziehungsweise vom Privatsektor. Damals schien dies relativ sicher, da die Weltwirtschaft wuchs und die Nachfrage nach den Rohstoffen, die die ärmeren Länder produzierten, hoch war. Man ging davon aus, dass die Zinszahlungen durch künftige Exporteinnahmen gedeckt waren. Doch als die Rohstoffpreise Mitte der 2010er Jahre einbrachen, begannen die Weltbank und der IWF, an der Tragfähigkeit der Schulden zu zweifeln.

Dann kam Corona und läutete die zweite Phase ein. Ärmere Länder wurden härter getroffen als entwickelte Länder, sie hatten weniger Mittel, ihre Wirtschaft zu stimulieren, und kaum Zugang zu Impfstoffen.

David Malpass, der Präsident der Weltbank, sagte jüngst, von den 74 Ländern, die für vergünstigte Darlehen und Zuschüsse durch seine Institution infrage kämen, seien mehr als die Hälfte „in einer kritischen Lage, was ihre Auslandsverschuldung angeht, oder knapp davor“.

Eine Zinserhöhung wäre fatal

Sobald die US-Notenbank die Zinsen anhebt, wird die dritte Phase beginnen. Viele arme Länder sind in US-Dollar verschuldet. Die Kosten für die Bedienung dieser Kredite werden steigen, wenn die Fed ihre Politik verschärft. Dann wird es kritisch.

Malpass weiß das. Zuletzt sagte er: „Eine umfassender Lösungsansatz, der einen Abbau von Schulden, eine schnellere Umstrukturierung und mehr Transparenz einschließt, ist dringend nötig.“ Doch die Chancen für einen „umfassenden Lösungsansatz“ stehen schlecht. Im April 2020 einigte sich die G20-Gruppe der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer auf eine Initiative zur Aussetzung des Schuldendienstes (DSSI), um den unmittelbaren finanziellen Druck, der auf den ärmsten Ländern lag, zu lindern. Aber dies war nur eine Notlösung mit begrenztem Erfolg. Nach Angaben der Schuldenkampagne Jubilee Debt Campaign wurden 46 einkommensschwachen Ländern 10,3 Milliarden Dollar an Schulden gestundet und 300 Millionen Dollar erlassen; zugleich zahlten sie aber 36,4 Milliarden Dollar an Schulden an die Gläubiger zurück. Das DSSI läuft Ende des Jahres aus und wird durch einen „Gemeinsamen Rahmen für Schuldentransaktionen“ ersetzt, eine Initiative, die öffentliche und private Gläubiger einbezieht und einen Schuldenerlass anstelle einer Stundung ermöglichen soll.

Drei Länder – Tschad, Äthiopien und Sambia – haben einen Schuldenerlass beantragt, jedoch ohne Erfolg. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Schuldner alle ihre Gläubiger dazu bringen müssen, demselben Deal zuzustimmen. Bislang hat sich der Privatsektor geweigert, mitzutun.

Im Kommuniqué, das am Ende des jüngsten G20-Treffens veröffentlicht wurde, heißt es, man begrüße „Fortschritte“, aber wie Tim Jones von der Jubilee Debt Campaign sagt, sei es schwer zu erkennen, worin diese Fortschritte bestünden. „Der derzeitige Anstieg der Zinssätze wird die Schuldenkrise verschlimmern und die Länder daran hindern, sich von der Pandemie zu erholen. Die G20 müssen die privaten Gläubiger dringend dazu zwingen, sich an der Umschuldung zu beteiligen“.

Die Frage ist, wie dies ohne einen Mechanismus zur Umschuldung von Staatsschulden (SDRM) geschehen soll, der es Ländern erlauben würde, sich für bankrott zu erklären. Tatsächlich haben Firmen einen legalen Weg, sich von untragbaren Schulden zu befreien, Nationalstaaten jedoch nicht.

Ticktack. Ticktack. Ticktack

Realistischerweise wird es ohne die Unterstützung der USA keine Fortschritte bei einem SDRM geben. Bis dahin schlägt Jones vor, Druck auf die privaten Gläubiger auszuüben. Eine Option wären Klauseln, die alle Gläubiger an eine Umstrukturierung binden würden, wenn eine beträchtliche Mehrheit – etwa 66 Prozent – zustimmt.

Eine weitere wären Rechtsvorschriften, die verhindern, dass sogenannte „vulture funds“ – also zynische Investoren, die auf dem Klageweg Anleihen von den ärmsten Ländern eintreiben – sich vor Gerichten bessere Bedingungen sichern, als sie erhalten hätten, wenn sie Schuldenerlassen zugestimmt hätten.

Vorbeugen ist besser als heilen. Die Gefahr einer Schuldenkrise muss erkannt und gebannt werden, bevor es zu spät ist. Ticktack. Ticktack. Ticktack. Ticktack.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Pepe Egger
Geschrieben von

Larry Elliott | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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