Was fällt Ihnen ein, wenn Sie an Kanada denken? Ein fortschrittliches, wundervolles Land mit guten Umgangsformen und majestätischen Elchen? Das bessere, liberalere und fortschrittlichere Amerika? Der Ort, an dem liberale Amerikaner Zuflucht suchen würden, wenn Trump die Präsidentschaftswahlen gewänne?
Wenn Sie das denken, dann freut uns das natürlich. Schließlich lautet unser Claim: Nicht Amerika! Wir sind die Netten: etwas langweilig, freundlich und harmlos. So sehen wir uns gern. Doch das ist Elchmist. Wir sind nicht die, für die Sie uns halten. Das waren wir noch nie.
Der erste Premierminister und Gründungsvater Kanadas, John A Macdonald, war ein jähzorniger Alkoholiker. Er bestritt ganze Wahlkämpfe dicht wie ein Uhu und musste sich einmal sogar während einer Wahlkampfrede auf der Bühne übergeben. Als sein Kontrahent ihn darauf ansprach, konterte Macdonald mit dem Hinweis, er habe sich nicht übergeben müssen, weil er zu viel getrunken habe, sondern weil er „dem leeren Geschwätz“ seines „ehrenwerten Mitbewerbers“ zuhören musste. Donald Trump hätte nicht besser vom Thema ablenken können. Macdonald gewann die Wahl spielend.
Der Grund, weshalb die Royal Canadian Mounted Police (unsere “Mounties”) auf Pferden durch die Gegend reitet, reicht in die dreißiger Jahre zurück. Vom Rücken eines Pferdes aus ließen sich damals am besten die Demonstrationen der Arbeiterbewegung zerschlagen und auf protestierende Einwanderer und Bergarbeiter einprügeln. In den sechziger Jahren dienten die Pferde dann überwiegend nur noch zu Dekorationszwecken. Zum Betätigungsfeld der Mounties gehörte mittlerweile, der Homosexualität Verdächtige der sogenannten Fruit Machine zuzuführen, einem Apparat, mit dem die sexuellen Reaktionen auf Gay Porn gemessen werden sollten.
Heutzutage ist Kanada der zweitgrößte Waffenexporteur in den Nahen Osten. Die Ölsand-Gewinnung in Alberta verursacht mehr CO2-Emissionen als ganz Kalifornien. Unser Geheimdienst darf auch auf Grundlage von Informationen tätig werden, die durch Folter erlangt wurden. Und viele Franko-Kanadier stehen auf Blackface-Comedys.
Von all dem ist deswegen wenig bekannt, weil wir uns eine Grenze mit den USA teilen. Wenn man geniale, milliardenschwere und schwerbewaffnete Promis mit einem unstillbaren Bedürfnis nach Aufmerksamkeit als Nachbarn hat, kommt man mit allem möglichen davon. Es ist angenehm, für die Netten gehalten zu werden. Und es ist praktisch, denn es überdeckt eine Menge unschöner Dinge.
Im vergangenen Jahr wäre es beinahe dazu gekommen, dass die Kanadier sich mit ihrem verlogenen Image auseinandersetzt hätten. Nachdem wir zehn Jahre lang von der rechten Harper-Administration mit ihrer ölfreundlichen, wissenschaftsfeindlichen und gegen Muslime gerichteten Politik regiert worden waren, ließ sich unser moralisches Überlegenheitsgefühl kaum noch weiter aufrechterhalten. Die weltweite Berichterstattung über den crackrauchenden Torontoer Bürgermeister Rob Ford (der mittlerweile zurückgetreten ist) ließen das auf unsere Flagge aufgenähte Ahornblatt dann vollends ausfransen.
In dieser Ernüchterung lag eine Chance. Wenn wir unseren Ruf als gerechte, solidarische und rücksichtsvolle Gesellschaft wiederherstellen wollten, könnten wir zur Abwechslung ja mal versuchen, uns wie eine solche zu benehmen. Während des letztjährigen Wahlkampfes kam von eine Wahlrechts- über eine Umweltschutzreform bis hin zu internationalen Friedensmissionen alles auf den Tisch und wir trauten uns, zumindest einen Spalt breit die Augen für die indigenen Communities zu öffnen, bei denen die Selbstmordraten so erschreckend hoch ist wie der Zugang zu sauberem Trinkwasser beschämend gering. Es herrschte ein Gefühl, Kanada sei endlich bereit, erwachsen zu werden und eine nationale Identität auszubilden, die auf dem basiert, was wir tatsächlich machen und wer wir sind.
Stattdessen wählten wir Justin Trudeau, einen Social-Media-Experten, der sich, und dadurch indirekt auch Kanada, als einen süßen Cocktail präsentiert, mit dem man all die bitteren weltpolitischen Nachrichten hinunterspült und verdaut. Trudeau ist die politische Entsprechung zu einem YouTube-Video mit Hundewelpen. Am Ende eines harten Arbeitstages, der von Dingen wie Trump und Terror bestimmt war, kann man seine überreizten Nerven mit Bildern von Trudeau ein wenig Entspannung verschaffen.
Jede Woche füttert Trudeau den Nachrichtenkreislauf mit einem neuen, teilenswerten Augenblick und unsere Facebook-Feeds laufen über vor Bildern, auf denen der bewundernswerte, junge Staatsmann Pandas knuddelt oder Geflüchtete umarmt. Hin und wieder lässt er sich auch gerne wie zufällig mit nacktem Oberkörper ablichten.
Für das internationale Publikum sind diese besonderen Justin-Augenblicke eine harmlose Zerstreuung, für Kanadier ist diese Ablenkung hingegen gefährlich. Denn sie interessieren sich weitaus mehr dafür, was die Amerikaner über sie denken als für die Politik ihres Landes. Da ist es kein Wunder, dass die Dinge so düster bleiben, wie sie sich gegenwärtig darstellen.
Trotz Trudeaus fortschrittlichem Image steht Kanada noch genau dort, wo Stephen Harper es zurückgelassen hat. Seit der Wahl ist ein ganzes Jahr vergangen und wir verkaufen noch immer Waffen an Saudi-Arabien, sind noch immer dabei, im Gesundheitswesen 36 Milliarden Dollar zu kürzen, bauen wirtschaftlich noch immer auf der verheerenden Extraktion fossiler Brennstoffe und setzen uns dafür rücksichtslos über die Rechte der indigenen Bevölkerung hinweg.
Von zu viel Ahorn-Sirup wird irgendwann jedem schlecht und ich dachte, Trudeaus Flitterwochen seien endgültig vorbei, als er auf die Knie ging, um dem drei Jahre alten Prince George High Five anzubieten, der königliche Knirps unseren bürgerlichen Premier aber links liegen ließ. Ich glaubte schon, der Bann wäre endlich gebrochen. Doch Pustekuchen! Nur ein paar Wochen später erreichte Trudeau Zustimmungswerte von 64 Prozent, und dass obwohl er gerade dabei war, von seinem Wahlversprechen zurückzurudern, er werde eine Wahlrechtsreform in Angriff nehmen.
Der kanadische Hype um Trudeau wäre wahrscheinlich schon vorbei, wenn in den USA nicht die Präsidentschaftswahlen vor der Tür stünden. Der Vergleich zwischen Trump und Trudeau ist für die Presse einfach zu ergiebig, als dass sie ihm widerstehen könnte. Kanada hat einen feschen Disney-Prinzen zum Regierungschef und in den USA steht allen Ernstes so ein Typ zur Wahl? Die Washington Post bezeichnete Trudeau schon als den „Anti-Trump“. Jede noch so müßige Drohung, nach Kanada umzusiedeln, sollte Trump die Wahl gewinnen, wird von der kanadischen Presse wie eine ernstzunehmende Nachricht behandelt.
(Eine kurze Bemerkung an meine kanadischen Mitbürger dazu: Wenn ein Amerikaner sagt, er werde nach Kanada ziehen, falls Trump die Wahl gewinnt, dann ist das, wie wenn die Chef-Cheerleaderin dem arroganten Quarterback erklärt, er sei so eingebildet - eher würde sie mit dem uncoolen, pickligen und tollpatschigen Außenseiter mit der Hornbrille ausgehen als mit ihm. Der Außenseiter mag sich geschmeichelt fühlen, seinen Namen aus dem Munde eines schönen Mädchens zu hören, aber ein Kompliment geht anders.)
Letzte Woche schickte eine opportunistische kanadische Werbefirma den USA eine selbstzufriedene YouTube-Grußkarte, in der eine Handvoll Kanadier ihren Nachbarn versichern, wie großartig sie Amerika finden. Trotz Sie-wissen-schon-wer. Der passiv-aggressive Subtext dabei ist natürlich, dass wir uns gleichzeitig auch immer für ein bisschen besser halten.
Aber das sind wir nicht. Leider.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.