Die modulare Klinik

Covid-19 Das Krankenhaus der Zukunft muss besser für Infektionskrankheiten gewappnet sein. Das ist auch eine Frage der Architektur
Ausgabe 04/2021

Bereits vor Ausbruch der Corona-Pandemie war eine Sanierung des St. Mary’s Hospital in London geplant: Kosten rund 1,1 Milliarden Euro, Baubeginn 2027. Die Notfall- und Spezialklinik soll nach wie vor auf einen neuen Stand gebracht werden, aber anders als gedacht. „Covid-19 hat die Sache drastisch verändert“, sagt der Chirurg James Kinross, der zum Planungsausschuss gehört.

Vor Corona ging es vor allem darum, effizienter zu arbeiten. Jetzt will man ganz neue Wege gehen. Wie in St. Mary’s wird derzeit überall darüber nachgedacht, wie ein besseres Gesundheitswesen aussehen könnte. Auf den Krankenhausbau der Zukunft hat das große Auswirkungen.

Der Architekt George Mann, der als Pionier der evidenzbasierten Krankenhaus-Architektur an der Texas A&M University lehrt, vergleicht die anstehenden Veränderungen mit jenen der Verkehrsflughäfen. Die ersten sahen noch wie Bahnhöfe aus – weil es dauerte, bis man erkannte, dass der Personenverkehr ein für alle Mal anders aussehen würde. „Wir befinden uns inmitten eines Paradigmenwandels.“

Ansteckung statt Hilfe

Die Pandemie hat bereits jetzt enorme Veränderungen erzwungen. Die Chinesen stampften in zehn Tagen ein komplettes Krankenhaus aus dem Boden, während in vielen Ländern Arztsprechstunden online angeboten werden. Derweil brechen Kliniken unter der plötzlichen, enormen Belastung zusammen – selbst und vielleicht besonders im reichen Globalen Norden.

Bilder von Covid-19-Patienten, die vor einer Klinik in Neapel in ihren Autos sitzen und Sauerstoff aus Tanks atmen, rasten um die Welt. Andere, womöglich lebensrettende Behandlungen werden auf unbestimmte Zeit verschoben, während die Krankenhäuser selbst zum Ansteckungsherd werden.

Das sei keine Überraschung, meint der Krankenhaus-Architekt Thomas Schinko vom Architektenbüro Vasconi in Paris. In den reichsten Ländern der Erde sei Infektionsvermeidung in den Hintergrund geraten, weil ansteckende Krankheiten nicht mehr für die meisten Todesfälle verantwortlich sind. „Wir haben den Reflex verloren, Mitarbeiter vor Patienten oder Patienten vor anderen Patienten zu schützen“, sagt Schinko.

Die Pandemie hat Trends beschleunigt, etwa den zum „Krankenhaus ohne Wände“: die Klinik als digital verbundene Gemeinschaft anstelle eines fest umrissenen Ortes. Ihre beiden Säulen sind elektronische Gesundheitsakten (eGA) und „Telegesundheit“, die es Patienten und Ärztinnen ermöglicht, auf Distanz zu kommunizieren. In China etwa beginnt die Vorsorgekette für infektiöse Krankheiten am Flughafen, mit routinemäßigen Temperaturkontrollen (nicht nur in Pandemiezeiten). Derweil bietet die technologisch besonders fortschrittliche Kinderklinik von Philadelphia über ihr Web-Portal die Möglichkeit an, einen Arzt zu konsultieren, Laborergebnisse abzurufen oder Folgerezepte ausstellen zu lassen. 2019 rief sie ein Telegesundheits-Pilotprojekt für Schulen ins Leben. Ziel: Überwachung und Frühintervention an die erste Stelle zu setzen.

Das ist das Krankenhaus ohne Mauern – ein Krankenhaus, das überall ist, in unser Leben eingebettet. James Kinross vom St. Mary’s Hospital sagt, sie hätten vor der Pandemie erwogen, die Ressourcen stärker von den stationären hin zu ambulanten Behandlungen zu verlagern. Jetzt denke man radikaler: „Vielleicht können wir Teile der ambulanten Behandlungen gleich außerhalb des Krankenhauses anbieten.“

Womöglich wäre man so besser für den Umgang mit dieser Pandemie gerüstet gewesen, hätte ihre Auswirkungen reduzieren können; verhindern lassen hätte sie sich kaum. Da künftige Pandemien unvermeidlich sind und wir nicht wissen, wann und wo sie auftreten werden, stellt sich die Frage, wie sich die Gesundheitssysteme wappnen können. „Was wir uns nicht leisten können, sind viele leer stehende Betten, die auf eine Jahrhundertpandemie warten“, sagt Kinross.

Lösungsvorschläge für das Problem gibt es viele. Im Ronald-Reagan-Krankenhaus, das 2008 auf dem Campus der University of California in Los Angeles eröffnet wurde, können alle Patientenzimmer in Intensivzimmer umgewandelt und auf Unterdruck umgeschaltet werden, um zu verhindern, dass in der Luft befindliche Keime aus dem Raum herausgelangen. Ähnlich haben Singapur und Hongkong nach der asiatischen SARS-Epidemie im Jahr 2003 ihre Krankenhäuser angepasst.

Eine Alternative ist der schnelle Bau einer Klinik zur Erkennung und Behandlung von Epidemiepatienten dort, wo sie benötigt wird. Angesichts von SARS stellte China das Xiaotangshan-Krankenhaus in Peking in nur sieben Tagen fertig. Im vergangenen Jahr wiederholte es das Kunststück mehrfach, unter anderem in Wuhan. Innerhalb von zehn Tagen wurde das Huoshenshan-Krankenhaus aus vorgefertigten Modulen zusammengesetzt, inklusive Test- und Forschungslaboren sowie Mitarbeiterunterkünften.

Auch andere Länder bauten im Eiltempo. In Großbritannien entstanden die temporären Nightingale Hospitals. Allerdings wurden viele wenig oder gar nicht genutzt, manchmal wegen Personalmangels. Der Architekt Huang Xiqiu, der sowohl das Xiaotangshan- als auch das Huoshenshan-Krankenhaus entworfen hat, ist der Ansicht, dass medizinische Einrichtungen allein nicht ausreichen: „Nötig ist ein systematischer Ansatz.“ Das temporäre Krankenhaus müsste so konzipiert sein, dass es in einen kommunalen oder regionalen Katastrophenschutzplan eingebunden ist. Es müsste vor Ort Lager für medizinische Produkte geben, eine Liste mit verfügbarem Personal und eine Notfallzentrale zur Überwachung des Katastrophenplans. In China half es, dass der Staat alle Kosten für die Covid-19-Eindämmung übernahm.

Die temporären Kliniken in Großbritannien sind nicht zufällig nach Florence Nightingale, der Begründerin der modernen Krankenpflege, benannt, erklärt Annmarie Adams, Historikerin mit dem Schwerpunkt Krankenhaus-Architektur an der McGill University in Montreal. Architektonisch stellen sie eine Rückkehr zur „Pavillonbauweise“ dar, die im 19. Jahrhundert bevorzugt wurde, als Infektionskrankheiten noch die weltweit häufigste Todesursache waren und Belüftung als entscheidend galt. Damals besaß die typische Nightingale-Station eine kasernenartige Anordnung von Bett – Fenster – Bett – Fenster, mit viel Grünfläche drumherum. Erst mit dem Aufkommen von Antibiotika wich die Pavillonbauweise dem Modell des „Krankenhauses als Büroturm“, das im Namen der Effizienz die Fachabteilungen bündelte und sich, was Infektionen betraf, neben der Hygiene auf Antibiotika verließ. Es überrascht kaum, dass sich dieses Modell als das ungeeignetste für eine neuartige Viruserkrankung erwiesen hat. „Wir sind von Antibiotika abhängig geworden“, sagt George Mann.

Pavillon und Monoblock

Auch wenn das Krankenhaus der Zukunft ein digital in die Gemeinschaft eingebettetes Spezialzentrum ist – die Experten für Infektionskrankheiten müssen auf eine Epidemie reagieren können. Flexible Elemente sind deshalb wichtig. Luca Aldrighi, Krankenhaus-Architekt des Prager Büros von RMJM, stellt sich einen Pavillon-Monoblock-Hybrid vor: „Die Zukunft des Krankenhauses besteht darin, das Beste dieser beiden Grundrisse zu verbinden.“ Eine Lösung könnten autarke Gebäude sein, die von Gärten oder Plätzen umgeben und unterirdisch miteinander verbunden sind. Im Fall einer Krankheitswelle sollten die Pavillons durch modulare Einheiten nach außen erweiterbar sein. Krankenhäuser spiegeln nicht nur die Entwicklung der Medizin, sagt Annmarie Adams, sondern auch kulturelle Einflüsse. Früher sah man ihnen an, dass es sich um öffentliche Einrichtungen handelte, sie ähnelten Gefängnissen. Heute haben sie – passend zur Konsumkultur – eher etwas von Hotels, Shoppingmalls oder Flughäfen. Aber auch Adams glaubt: In einer Post-Corona-Welt, die sich ihrer Anfälligkeit für Infektionskrankheiten wieder bewusst ist, wird Anpassungsfähigkeit die Losung sein. „Der Fokus der Architekten wird darauf liegen, auf das Unerwartete vorbereitet zu sein.“

Laura Spinney ist Wissenschaftsjournalistin und Autorin des Bestsellers 1918 – Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte (Hanser 2018). Eine längere Fassung dieses Artikels erschien im Guardian

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Laura Spinney | The Guardian

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