Im Mai 2003, gut vier Wochen, nachdem die Invasionstruppen Bagdad einnahmen, fuhr ich durch das Land, um über die Reaktionen normaler Iraker auf den Sturz Saddams zu berichten. Im August 2010 kehrte ich während des Abzugs der US-Kampftruppen zurück, um die Menschen abermals aufzusuchen und zu fragen, was aus ihrem Leben seither geworden ist.
In Tikrit, der Heimatstadt Saddam Husseins, stehen die Ruinen seines Farouk-Palastes leer und verfallen in der Gegend herum. Es kommt mir vor, als sei es gestern gewesen, dass ich mit den ersten irakischen Plünderern durch das weitläufige Gebäude zog. Eine ganze April-Nacht über hatten US-Cobra-Helikopter mit ihren Raketen große Löcher in die Fassade oberhalb des Tigris geschlagen. Stunden später gingen die amerikanischen Soldaten wie Touristen durch den Palast und bestaunten die goldgetäfelten Badezimmer und Wasserhähne aus Marmor. Andere waren zu müde, sich darum zu kümmern, und lagen neben ihren gepanzerten Fahrzeugen im Gras.
Im August 2010 hat sich hier wenig, aber einiges schon verändert. Wasserhähne und Möbel sind verschwunden, die Jubel-Graffiti der Army an den Stuck verzierten Wänden nicht. „1-10 ADA Ft Hood Texas … Killers“ lautet eines. „Wir waren nicht die ersten und werden nicht die Letzten sein“, verkündet ein anderes. Umgeben von Stacheldraht und bewacht von der neuen irakischen Polizei, sind die Palast-Ruinen nur noch Erinnerungen wert.
Überall, wo man in diesem übel zugerichteten Land hinkommt, vergleichen die Menschen ihr Leben unter der Herrschaft Saddams mit dem, was ihnen jetzt widerfährt. Der Vergleich fällt selten zugunsten der mokhtalin aus, dem Wort für Invasoren oder Besatzer, das viele der Bezeichnung die Amerikaner oder die Briten vorziehen.
Ich suche nach denen, die ich vor sieben Jahren traf. Einige haben die sektiererische Gewalt nicht überlebt, andere sind in den Sog von zwei Millionen Flüchtlingen geraten, die Haus und Heimat verlassen mussten. Einige sind schwer zu finden, weil der Irak vor sieben Jahren noch kein Mobilfunknetz besaß und ich in meinem alten Notebook lediglich Namen, Alter, Berufsbeschreibungen und einige ungefähre Adressen notiert habe.
Geld für den Dschihad
Ich beginne in Tikrit, der symbolischen Hauptstadt des Saddam-Clans. Als ich 2003 hier war, beschützte Doktor Bashar al-Duleimi, ein Augenarzt im Hospital der Stadt, mit einigen Kollegen sein Krankenhaus vor Plünderern. Der Angriff auf den nahe gelegenen Farouk-Palast hatte die meisten Fenster des Gebäudes bersten lassen. „Wenn die Amerikaner bereit sind, uns Schutz zu bieten, dann können sie das tun. Aber wir werden sie nicht darum bitten“, sagte mir al-Duleimi damals mit festem patriotischen Stolz.
Nun sitzt er vor Regalen medizinischer Bücher – überwiegend in englischer Sprache verfasst – und redet über die amerikanische Präsenz: „Wir haben mehr erwartet: eine bessere Infrastruktur, eine bessere Grundversorgung. Es gibt noch immer nur ein paar Stunden Strom am Tag. Die Benzinversorgung ist eine Katastrophe.“ Der einzige Fortschritt bestehe in höheren Gehältern und den besseren medizinischen Gerätschaften.
Wie viele Iraker, mit denen ich spreche, misst al-Duleimi dem Abzug der Amerikaner keine Bedeutung bei. „Ich bin froh zu sehen, dass sie gehen. Die Sicherheitslage wird sich nicht verschlechtern.“ Das Blutvergießen im Irak könne nur durch die Iraker selbst beendet werden. Wen sonst?
Über Tikrit rollte 2004 und 2005 die Welle der sektiererischen Gewalt schnell hinweg. In der Stadt lebte nur eine kleine Minderheit von Schiiten. 50 von ihnen wurden getötet, der Rest floh, erzählt mir ein schiitischer Bauarbeiter, der seine Familie nach Kirkuk gebracht hat und die Woche über zurückkommt.
Doktor al-Duleimi beunruhigt bis heute die sunnitische Gewalt jener Jahre. „Da gab es Leute, die riefen mich an und drohten damit, mich zu entführen, sollte ich kein Schutzgeld zahlen. Sie versuchten, Tikrit vollständig von Ärzten zu säubern. Viele gingen, aber ich blieb. Sie sagten mir, das Geld werde für den Dschihad gebraucht. Ich entgegnete ihnen, dies sei illegal. Wenn sie echte Moslems wären, würden sie das nicht tun. Aber alle Ärzte haben bezahlt.“
Wer „sie“ waren, kann er nicht sagen. Will nicht von al Qaida sprechen. „Wer weiß schon, ob es al-Qaida war? Wir sollten ihre Stärke nicht übertreiben. Al Qaida könnte aus nicht mehr als 500 Leuten bestehen. 1963 kamen die Baathisten durch einen Putsch von 700 Männern an die Macht.“
Meine nächste Station ist Falludscha – die Stadt wirkt wie ein geschleiftes Widerstandsnest. Sie wurde durch Amerikaner und Iraker vier Jahre lang total unter Verschluss gehalten. Auch heute noch kann Falludscha nur mit einer Sondergenehmigung betreten werden. Zu meiner Sicherheit begleitet mich ein offener Polizei-Jeep mit aufgepflanztem Maschinengewehr. In keiner anderen irakischen Stadt bekamen die Sunniten den Konflikt so stark zu spüren wie hier. Sie saßen in der Hochburg ihres Widerstandes fest: Zuerst kamen die Amerikaner, ein Jahr später kam al Qaida, deren Parteigänger im Irak Saddam Husseins nicht geduldet waren.
Ich besuchte Falludscha einen Tag, nachdem die Amerikaner am 28. April 2003 13 unbewaffnete Demonstranten erschossen hatten, weil sie von den Eroberern verlangten, nicht länger in einer Grundschule Quartier zu nehmen. Khalid Ismail, der eine Teppichfabrik als Familienunternehmen führte, gehörte damals zu den empörten Eltern. „Jemand, der hinter der Menge stand, gab einen Schuss ab. Die Soldaten waren nervös und feuerten zurück.“ Bis heute gilt dieser Zwischenfall als Initialzündung für den bewaffnete Aufstand. Das Fanal von Falludscha.
Im April und noch einmal im November 2004 griffen US-Truppen die Stadt mit überwältigender Feuerkraft vom Boden und aus der Luft an. Entlang der Hauptstraßen tragen alle Gebäude bis heute Einschusslöcher. Ismail floh mit seiner Frau und den sechs Kindern nach Bagdad. Er wiederholt, was ich in meinen Gesprächen stets als Refrain höre: Sicherheit, Elektrizität, Wasser. Alles habe sich seit Saddam verschlechtert. Nur der Wirtschaft gehe es besser.
Der Angriff auf Falludscha vom November 2004 hatte den Segen von Iyad Allawi, einem säkularen Schiiten und Ex-Mitglied der Baath-Partei Saddams, der sich in den Siebzigern absetzte und von den Amerikanern im Juni 2004 zum Premier ernannt wurde. „Er hatte keine andere Wahl als anzunehmen“, sagt Ismail, der – wie die meisten Sunniten – beim Parlamentsvotum im März für Allawi gestimmt hat. Der Widerstand gegen die Amerikaner im April 2003 sei „nationalistisch und ehrlich“ gewesen, ist Ismail überzeugt, gegen Ende des Jahres hätten dann aber „Eindringlinge“ das Kommando übernommen, die mit al Qaida in Verbindung standen. Keine Patrioten.
Ismail will, dass die Amerikaner im Irak bleiben, auch wenn sie „uns erniedrigt und dafür gesorgt haben, dass wir sie hassen.“ Warum? „Wir wollen, dass die USA die Einmischung der Iraner begrenzen. Die kontrollieren doch die Regierung in Bagdad.“
Von den Amerikanern bezahlt
Taha Bidawi, der in Falludscha zum Bürgermeister gewählt wurde, bevor die Amerikaner kamen, zeigte sich bei unserer ersten Begegnung Mitte 2003 erfreut über den Sturz Saddams. Das Verhalten der Amerikaner mit ihren Checkpoints und Patrouillen empfand er allerdings als Provokation und wollte, dass sie Falludscha ein für allemal den Irakern überlassen.
Sieben Jahre später spricht aus ihm die Verzweiflung vieler Sunniten. Da sie keine maßgebende Bevölkerungsgruppe mehr seien, fühlten sie sich von den neuen schiitischen Machthabern diskriminiert. „Die tun oft so, als hätten alle Sunniten Saddam unterstützt.“ Bei Taha Bidawi ist herauszuhören, die oft geäußerte Angst vor dem Iran ist eher ein Code für die Furcht vor den schiitischen Parteien. Sie hindern Wahlsieger Iyad Allawi, eine neue Regierung zu bilden, obwohl seine Partei die meisten Sitze gewonnen hat.
Wann wird Kooperation mit der Besatzungsmacht zur Kollaboration? Zum Verrat? „Meine beiden Nachfolger im Amt des Bürgermeisters wurden getötet“, erzählt Bidawi. „Die Terroristen oder Leute, die sich Mudschaheddin nennen, ermordeten Kleriker und Intellektuelle, weil die mit den Amerikanern zusammenarbeiteten. Unser Volk ist arm und ungebildet. Die Armut wirkt stärker als die religiösen Prinzipien – und dann werden Menschen zu Mördern. Man sagt ihnen, einen Ausländer zu töten, dass sei keine Sünde.“ Und so läuft der Mord an einem Kollaborateur auf das Gleiche hinaus.
Militante Schiiten haben ihre eigene Elite – oder ihre eigenen Kollaborateure – nie im selben Maße ins Visier genommen. Durch ihre demographische Mehrheit wurden sie seit 2003 zur tonangebenden Bevölkerungsgruppe und konnten ihrerseits die Amerikaner unter Druck setzen. Für die Sunniten stellte sich das ganz anders dar.
Taha Bidawi traf Leute von al Qaida, als die in Falludscha ankamen. Er habe ihnen gesagt, die Iraker wüssten besser, wie sie den Amerikanern begegnen sollten, „aber al Qaida wollte den Bürgerkrieg“. Für ihn sei richtig, was die sunnitische Erweckungsbewegung al Sahwa, eine Allianz lokaler Stammesführer, getan habe: „Sie wurden von den Amerikanern bezahlt, haben sich gegen al Qaida erhoben und diese Leute in die Defensive gedrängt.“
Im November 2004 verhaftete ein Trupp US-Soldaten die drei Söhne Bidawis wegen des Verdachts, sie hätten Kontakt zum bewaffneten Widerstand. Zwei wurden gleich nach dem Ende der Schlacht um Falludscha wieder freigelassen. Der älteste blieb noch sieben Monate in seiner Zelle. Als Bidawi zu den Amerikanern ging und sie darum bat, ihn gehen zu lassen, sagte ihm ein Hauptmann, diese Festnahme könne ihm doch helfen. „Und teilweise stimmte das auch. Ich war nun ein Patriot und vom Verdacht befreit, ein Kollaborateur zu sein.“
Auch wenn er das Gefühl hat, dass im Moment alles schlechter ist als unter Saddam – „die Arbeitslosigkeit ist erschreckend, stundenlang kein Strom“ – will Bidawi dennoch, dass die Amerikaner bleiben: „Unsere Armee ist nicht stark genug, um dieses Land zu verteidigen. Türkische und iranische Flugzeuge verletzen jetzt schon den Luftraum. Wer wird uns helfen?“
Zwei Schüsse, vier Schüsse
Ich habe mich mit Bidawi in der baufälligen Öffentlichen Bibliothek von Falludscha getroffen, wo bei grausamen 44 Grad ein kleiner Ventilator etwas Linderung verschafft. Während wir uns unterhalten, fallen ganz in der Nähe zwei Schüsse. Wir gehen in Deckung. Vier weitere Schüsse sind zu hören. Mein Fahrer steht im Hof und sagt, auf der anderen Seite der Mauer sei geschossen worden. Dort, wo Dutzende Straßenhändler ihre Stände haben. Die letzten Schüsse habe die Polizei abgegeben, um Schaulustige zu vertreiben. Einer der ersten beiden Schüsse tötete einen Gendarm.
Die Polizei gibt mir später drei unterschiedliche Erklärungen des Vorfalls: Ein Polizist verlangte von einem Händler, dessen Lizenz zu sehen, feuerte, um sich Nachdruck zu verschaffen, in die Luft und schoss sich mit der zweiten Kugel ungewollt ins Genick. Nach Erklärung Nr. 2 hat der mutmaßlich illegale Händler den Polizisten erschossen. Schließlich erzählt man uns Variante 3: bei dem Händler habe es sich um einen Terroristen gehandelt, der vor kurzem aus amerikanischem Gewahrsam entlassen worden sei. Die Familie eines seiner Opfer habe bei den irakischen Behörden einen Haftbefehl erwirkt, den der Polizist vollstrecken wollte.
Im Nebel der konkurrierenden Geschichten ist nur klar, dass ein Mann entkommen und ein Polizist tot ist. Eine Episode aus einem von Gewalt beherrschten Land? Ein Verbrechen, dessen Rekonstruktion nahezu unmöglich ist? Ein kleinerer Zusammenstoß im Vergleich zu den Attentaten, die Bagdad heimsuchen?
Jonathan Steele ist Kolumnist des Guardian. Seit dem 11. September 2011 hat er immer wieder aus Afghanistan und dem Irak berichtet.
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