Die nächste Chance

Griechenland 2013 dürften immer wieder Forderungen nach Neuwahlen laut werden. Sie kämen Alexis Tsipras und seiner Partei Syriza nicht ungelegen. Regieren wollen sie nach wie vor
Alexis Tsipras hat die Regierungsmacht nach wie vor fest im Blick
Alexis Tsipras hat die Regierungsmacht nach wie vor fest im Blick

Foto: Georges Gobet / AFP - Getty Images

Er kam aus der politischen Wüste, doch für ein Paar Tage im Juni lag die Zukunft des Euro in den Händen von Alexis Tsipras. Sechs Monate später steht der schnell sprechende Heißsporn, der 2012 vor den griechischen Wahlen die Welt im Sturm nahm, nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit. Von der Bildfläche verschwunden ist er deswegen nicht. Mit dem Satz – „Die Schlacht haben wir vielleicht knapp verloren“ – gibt er zu verstehen, dass es seiner Partei Syriza letztlich nicht gelungen ist, die Regierung zu stellen. „Den Krieg aber nicht.“

Als Führer der wichtigsten Oppositionsgruppe des Landes, das mitten im europäischen Schuldendrama steht, sitzt Tsipras heute in einem eleganten Büro im Erdgeschoss des Parlaments. Vom ehemaligen Königspalast aus blickt man über den Syntagma-Platz und damit den Schauplatz vieler Demonstrationen, die Athen seit drei Jahren aufrütteln.

Auch in den kommenden Monaten wird das kaum anders sein. Immerhin wird 2013 das härteste Jahr, seit die Wirtschaft Griechenlands in einen freien Fall geriet. „Wir sind die große Hoffnung auf einen Wandel“, meint Tsipras. „Wir wollen aber nicht nur der Katastrophe Einhalt gebieten und die schlechte Medizin absetzen“, fährt er fort. Gemeint sind die strikten Sparmaßnahmen, die im Gegenzug für die Rettungskredite der Gläubigertroika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und IWF durchgesetzt wurden und zu einer Rezession geführt haben. „Wir wollen auch Griechenland verändern – die notwendigen positiven Strukturreformen können nur wir durchführen. Die politischen Gegebenheiten gehörten – ebenso wie der auf den Gewinn von Wählerstimmen ausgerichtete öffentliche Sektor – zu den Hauptauslösern der Krise."

So fing es an

Der 38-jährige Politiker hat es weit gebracht seit Syrizas Debüt in ein paar schäbigen Räumen im zweiten Geschoss des Parlaments. Damals brachte die ungleiche Allianz aus Linken, Grünen, Marxisten und Maoisten es gerade einmal auf 4,5 Prozent der Wählerstimmen. Doch eine vehemente Anti-Austeritäts-Rhetorik und die kompromisslose Opposition gegen Maßnahmen, die das verfügbare Einkommen der meisten Griechen jäh einbrechen ließen, haben Syriza in der Wählergunst steigen lassen.

Als im Juni richtungsweisende Wahlen stattfanden, stellte das der Konservative und heutige Premier Antonis Samaras als drastische Entscheidung dar: Entweder schmerzhafte Reformen, die dem Land weiterhin die Euromitgliedschaft gewährleisten, oder einer Syriza-Regierung, die eine Rückkehr zur Drachme verheißt. Dennoch kam die Tsipras-Partei 29,6 Prozent.

Charisma und rhetorisches Talent des Parteichefs haben zweifellos zu diesem Höhenflug beigetragen. Immer wieder führt Syriza seit dem Sommer die Meinungsumfragen an. Tsipras hat die Macht im Visier, denn 2013 dürften immer wieder Forderungen nach Neuwahlen laut werden.

„Diese Regierung wird nicht lange überleben“, diagnostiziert Tsipras und unterstreicht mit ausgreifenden Armbewegungen die Liste der Maßnahmen seiner „dogmatischen neoliberalen“ Feinde, die eine Chance erhalten hätten und elend gescheitert seien. "Griechenland ist einzigartig. Die Schulden stiegen selbst nach der Restrukturierung weiter.“ Die vom Kabinett Samaras ergriffenen Maßnahmen seien kontraproduktiv und dazu verurteilt, immer weiter an der wirtschaftlichen Todesspirale zu drehen, in der sich das Land befände. „Ein Schuldenschnitt ist unumgänglich. Nach den Wahlen in Deutschland wird es soweit sein“, ist Tsipras überzeugt.

Viel Häme

Seine Kriker werfen ihm vor, er wette auf die Katastrophe. Sie bezeichnen ihn als Demagogen, der über Wirtschaft und Feinheiten des globalen Finanzwesens so viel wisse wie ein Schuljunge. Samaras und seinen Juniorpartnern, die sich die Macht in einer unsicheren Koalition teilen, gilt Syriza nicht nur als unverantwortlich, sondern als gefährlich. Sie sagen, für ein Land, das nahezu vollkommen auf internationale Gläubiger angewiesen sei, um seine öffentlichen Kassen wieder zu füllen, sei es katastrophal, wie Syriza auf den Staat zu setzen und sich zu weigern, die Privatisierung öffentlichen Eigentums zu akzeptieren. Sie vergleichen Tsipras gern mit dem verstorbenen sozialistischem Ex-Premier Andreas Papandreou.

Doch der Kommunist Tsipras weicht nicht von seiner Linie ab: „Das Problem des öffentlichen Sektors ist kein quantitatives, sondern ein qualitatives“, sagt er. „Größenmäßig liegen wir im europäischem Durchschnitt.“

Als er jetzt seine erste offizielle Reise nach Lateinamerika unternahm, wo er neben der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff auch deren Vorgänger Inácio „Lula“ da Silva traf, wurde der Außenpolitik seiner Partei viel Häme zuteil. Syriza hielt dagegen, der Besuch sei Teil von Bemühungen, durch eine facettenreichere, nicht allein von der EU abhängige Außenpolitik „das griechische Schuldenproblem zu internationalisieren“.

Tsipras bereitet sich zwar auf die Macht vor, legt aber auch eine gewisse Mäßigung an den Tag – und das nicht nur, weil die politische Unzufriedenheit der Mittelschicht mit der Umsetzung der bislang härtesten Sparmaßnahmen im kommenden Jahr weiter zunehmen wird. Im November hat sich das Parteienbündnis Syriza in einem historischen Schritt als einheitliche Kraft konstituiert. Eine überwältigende Mehrheit von 75 Prozent stimmte auch für die Bildung eines Zentralkomitees unter Führung von Alexis Tsipras und dem entschieden pro-europäischem Flügel der Partei.

In Tsipras ehemals rabenschwarzen Haar tauchen die ersten grauen Sprenkel auf, statt Jeans trägt er öfter Anzüge, italienische Hemden und Wildlederschuhe. Das Englisch des Politikers, der anders als viele Mitglieder des Establisments seines Landes keine Privatschulen oder Universitäten im Ausland besuchen konnte, hat sich beachtlich verbessert. „Ich gucke jetzt CNN und lese den Guardian“, erklärt er. „Seit dem ersten Krisenjahr hat sich alles, was wir gesagt haben, bewahrheitet. Natürlich fühlen wir uns bestätigt. Das reicht aber nicht. Es braucht eine ganz neue Politik.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Helena Smith | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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