Häuslicher Missbrauch: Charles Boyer und Ingrid Bergman 1944 in „Gaslight – Das Haus der Lady Alquist“
Foto: United Archives/Imago
Es ist schwer, zu sagen, wo die heutige Faszination für das sogenannte Gaslighting ihren Höhepunkt erreicht hat: in der Manipulation von Jessica Jones oder dem unübersichtlichen Terrain von Homeland; in der verschwörungsreichen Westworld ist es auch anzutreffen. Das Phänomen, das erfolgreiche US-Serien dominiert, ist in jedem Fall zu einer Trope der Popkultur geworden.
Das englische Verb to gaslight somebody (deutsch: jemanden in den Wahnsinn treiben) rührt von dem Stück Gas Light von Patrick Hamilton aus dem Jahr 1938 her, das zwei Jahre später verfilmt wurde. Dabei handelt es sich um eine manierierte, aber fesselnde Vision von häuslichem Missbrauch, in der ein Ehemann seine Frau mit Lügen, verbaler Aggression und systematischer Verunsicher
gen, verbaler Aggression und systematischer Verunsicherung dazu bringt, an ihrem Geisteszustand zu zweifeln; er wird zu ihrem einzigen Halt in der realen Welt, was die Anschuldigungen noch wirkmächtiger macht. Das Stück, das 1944 in den USA erneut mit Ingrid Bergman in der Hauptrolle verfilmt wurde (Das Haus der Lady Alquist), spricht eine tiefere Wahrheit aus: dass intime Räume verletzlich sind.Die Welt als IntimbereichJeder Mensch hat einen Bereich, der nicht geschützt ist, besser: dessen Schutz in der Hoffnung besteht, nie verteidigt werden zu müssen. Das erklärt die Haltbarkeit der Trope und ihre Anwendung in Psychoanalyse und Literatur über sexuellen Missbrauch von Kindern. Nur diejenigen, die dir am nächsten stehen, können dich dazu bringen, dass du dir nicht mehr traust.In der Netflix-Serie Jessica Jones, die auf dem weniger bekannten feministischen Marvel-Comic Alias basiert, wird die Protagonistin vom Fiesling Kilgrave manipuliert, ist frei, aber psychisch verletzt.Kilgraves Macht besteht darin, dass er jeden dazu bringen kann, das zu tun, was er will. Er ist der ultimative Gaslighter, der seine Opfer so manipuliert, dass er sie nicht mehr in den Wahnsinn zu treiben braucht – sie haben ohnehin keinen freien Willen mehr. Kilgraves Anweisung an Frauen klingt auf den ersten Blick nicht sonderlich dramatisch. Er sagt ihnen, sie sollen lächeln – und sie tun es. „Er hat dir nur gesagt, du sollst lächeln, Liebes. Was ist denn schon dabei?“ Lächeln ist nicht nichts, Lächeln ist der Ausdruck eines Gefühls. Man sagt dir, du sollst ein Gefühl empfinden, und danach, dass du es empfunden hast.Bei Topagentin Carrie aus Homeland liegen die Dinge komplizierter. Einmal steht sie vor der Entscheidung, ob sie ihr Erinnerungsvermögen opfern und ihre Suche nach der Wahrheit aufgeben soll, um ihre Gesundheit zu retten. Ein anderes Mal manipuliert sie einer ihrer Gegner, indem er ihre Medikamente vertauscht, und schließlich muss sie sich an den Rand einer Psychose bringen, um zu verstehen, was wirklich vor sich geht.Carries bipolare Störung macht die ganze Welt zum Intimbereich, den jeder betreten kann. Homeland ist strukturierter als, sagen wir, The Girl on the Train, ein Gaslight-Klassiker, den sich Patrick Hamilton hätte ausdenken können: Einer Frau wird nach einem alkoholbedingten Blackout eingeredet, sie habe Dinge getan, die sie in Wirklichkeit natürlich nicht getan hat.Von Josh Cohen, Professor für Moderne Literaturtheorie am Goldsmiths College und praktizierender Psychoanalytiker, stammt eine bemerkenswerte Beobachtung: „Wenn man diese Manipulationen mit der kulturellen Paranoia aus der Zeit nach Kennedy vergleicht, findet sich ein interessanter Unterschied. In der Schwemme der Bücher über das Attentat oder der Thriller aus den frühen 1970er Jahren ist es eine anonyme Macht, die uns kontrolliert und unsere Leben bestimmt – etwas Unheimliches, außerhalb von uns, unsichtbar. Gaslighting ist dagegen stark emotional aufgeladen. Es gibt eine Intimität, und es gibt deren Verletzung. Alle damit verwandten Begriffe in der Psychoanalyse handeln von Klaustrophobie, der Angst vor engen Räumen, wohingegen die Paranoia von damals agoraphobisch war, Angst vor weiten, öffentlichen Räumen beschwor.“Wenn man den Begriff politisch verwendet, müsste das, was wir „postfaktisch“ nennen, als Gaslighting klassifiziert werden: „Das, von dem du behauptest, ich hätte es gesagt, habe ich nicht gesagt. Du bist verrückt, hysterisch, unzuverlässig, denkst dir Dinge aus.“ Die Parallelen sind offensichtlich, wenn Leute, die sich für universelle Menschenrechte einsetzen, um ihre eigene Zurechnungsfähigkeit kämpfen sollen. Wenn du es erst einmal, gegen Trump, sagen musst: „Nicht alle Mexikaner sind Vergewaltiger“, hast du schon verloren.Josh Cohen bemerkt: „Im Zeitalter der sozialen Medien schaffen wir uns recht enge, personalisierte Räume, durch die alles, was in der Welt passiert, vermittelt wird. Das führt dazu, dass News, insbesondere, wenn sie emotional aufgeladen sind, uns widerfahren. Wenn jemand gut im Gaslighting ist, gelingt es ihm, das Gefühl in uns zu erzeugen, dass wir den Verstand verlieren.“An dieser Stelle wird klar, worin der Ausweg aus der Gaslighting-Situation bestehen würde. Nicht in einem weißen Ritter oder einem Deus ex Machina, sondern in einem Zeugen – in diesem Märchen ist die Solidarität der Held, und vielleicht, so unwahrscheinlich das klingen mag, führt der Weg aus der politischen Wildnis ja durch unsere Fernsehapparate.Placeholder authorbio-1
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