Es ist gerade einmal ein reichliches Jahr her, dass ich im Februar 2008 Pakistan mit dem Auto von Ost nach West und Süd nach Nord durchquert habe, um von den ersten demokratischen Wahlen zu berichten, die es dort nach der Machtergreifung durch General Musharraf im Jahr 1999 gab. Es wurden Gewalt und Blutvergießen prophezeit, doch ich reiste sicher und war beeindruckt von der Entschlossenheit, auch der Kraft, mit der man sich in Pakistan den Widrigkeiten entgegenstellte.
Über die inneren Spannungen in Pakistan und den Aktionsradius der Taliban
Ein Jahr später könnte die Situation kaum düsterer sein. In nur zwölf Monaten hat die Regierung unter Präsident Asif Ali Zardari die Kontrolle über große Teile der nordwestlichen Grenzregion (NWFP) an die pakistanischen Taliban verloren – eine lockere Allianz von Nationalisten, Islamisten und zornigen Paschtunen unter dem nominellen Kommando von Baitullah Mehsud. Wenngleich niemand wirklich hohe Erwartungen in Zardari gesetzt hat – viele Beobachter können es nicht fassen, in welchem Tempo das Land unter der Herrschaft des berüchtigten Playboys und Witwers von Benazir Bhutto dem Kollaps entgegen driftet. In der gesamten Nordwest-Grenzregion, die ein Fünftel der Fläche Pakistans ausmacht, werden Frauen gezwungen, Burkas zu tragen, ist jede Musik verstummt, dürfen Friseure keine Bärte mehr rasieren, blieben von Mädchenschulen nur verkohlte Ruinen. Die Elite der Provinzhauptstadt Peschawar zog es vor, nach Lahore oder Karatschi zu fliehen – Städte, die noch als einigermaßen sicher gelten.
Kostengünstiges Werkzeug
Noch nie konnte eine pakistanische Regierung die widerspenstigen Stammesgebiete vollständig unter ihre Kontrolle bringen. Jetzt aber findet dort eine ungehemmte Radikalisierung statt. Der Geschossregen von US-Drohnen hat viele zivile Todesopfer gefordert und lässt den Strom der zornigen Fußsoldaten, die sich den Aufständischen anschließen, mit jedem Tag anschwellen. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Stimmung einer aufgeputschten Grenzprovinz auf die Peripherie von Lahore und den Punjab übergreift.
Im Februar 2008 war dort die Awami National Party (ANP) unter Führung Asfandyar Khans mit großer Mehrheit gewählt worden und konnte die Macht der Muttahida Majlis-e-Amal (MMA/Vereinigte Aktionsfront) brechen, einer Koalition islamistischer Gruppen. Für eine säkulare Demokratie in Pakistan schien das Votum ein Augenblick der Hoffnung zu sein, der aber durch den scheinbar unaufhaltsamen Vormarsch der Taliban aus ihren Stammesgebieten im Nordwesten schnell wieder erschüttert wurde. Seither hat es weitere Selbstmordattentate und Angriffe auf US-Konvois und Depots gegeben – im Umfeld der Stadt, aber auch in Peschawar selbst. Weithin sichtbar standen die Rauchsäulen, wenn ganze Containerlager lichterloh brannten.
Wie Mehltau lasten Angst und Depression auf den sonst so unverwüstlichen Einwohnern Lahores, der Künstlermetropole Pakistans. Nachrichten vom Näherrücken der Taliban und die Gewissheit über den wirtschaftlich desolaten Zustand ihres Staates bedrücken die Menschen – gerade wurde ein 7,6-Milliarden-Dollar-Darlehen beim Internationalen Währungsfonds aufgenommen.
Abstieg ins Chaos
Najam Sethi und seine Frau Jugnu, Redakteure der englischsprachigen Zeitungen Daily Times und Friday Times, gerieten direkt ins Fadenkreuz der Taliban. Sie erhalten ein Fax nach dem anderen. Sollten sie nicht aufhören, in ihren Kolumnen die heraufziehende islamische Ordnung zu verleumden, werde man dafür sorgen, dass sie aufhören müssen. Das Paar hat die Schikanen mancher Regierung überstanden, doch jetzt fühlen sich Najam und Jugnu Sethi bedrohter denn je. „Niemand ist mehr sicher. Wenn man von der Regierung bedroht wird, kann man gerichtlich dagegen vorgehen. Aber an wen soll man sich wenden, wenn heute selbst Regierungsmitglieder nicht mehr sicher sind?“
Was da geschieht, bezeugt auf dramatische Weise die Kernaussagen des Buches Descent into Chaos von Ahmed Raschid, der nicht nur die Geschichte der pakistanischen Taliban nachzeichnet, er schreibt auch, dass „der Krieg gegen den Terror eine Welt zurückgelassen hat, die viel weniger stabil ist, als die jenes folgenschweren Septenbertages im Jahr 2001.“ Raschid weist der „Arroganz und Ignoranz der US-Regierung“ eine Teilschuld am pakistanischen Desaster zu, ohne die enorme Verantwortung auszuklammern, die der pakistanischen Armee und ihrem Nachrichtendienst Inter-Services Intelligence Agency (ISI) zukommt.
20 Jahre lang hat der ISI zu eigenen Zwecken beständig eine Vielzahl islamischer Gruppierungen wie die Jaish-e-Mohammed und die Lashkar-e-Toiba (LeT) begünstigt und finanziert. Seit den Tagen der anti-sowjetischen Mudschaheddin zwischen 1979 und 1989 galten die Dschihadisten als kostengünstiges Werkzeug, Afghanistan zu dominieren und darüber hinaus die indische Kaschmir-Armee in Schach zu halten. In den Kommandostäben der Armee war man bis vor kurzem überzeugt, dieses eigenhändig herangezogene Vehikel eines militanten Islam kontrollieren zu können. Auch wenn mancher im ISI weiter daran glauben mag – die Glaubenskrieger verfolgen längst eigene Interessen. Ihre Selbstmordattentäter haben Angehörige religiöser Minderheiten in Pakistan ebenso wie missliebige Politiker angegriffen, sie machten sogar vor dem Hauptquartier des ISI nicht halt – offenbar als Vergeltung dafür, dass die Armee US-Truppen bei Angriffen auf die Taliban-Hochburgen an der Grenze zu Pakistan unterstützt hat. Pikanterweise, so Ahmed Raschid, sind es gerade Gruppen wie die Lashkar-e-Toiba, die auf einmal die Waffen gegen ihre Schöpfer richten.
Bei der Geschwindigkeit, mit der die Regierung Bush nach der Invasion Ende 2001 ihre Pläne zum Einmarsch im Irak vorantrieb, kam Pakistans Generalität zu der Überzeugung, die USA seien kaum daran interessiert, das Karsai-Regime in Kabul zu halten. Dieses Urteil brachte sie dazu, sich der Taliban als Reservearmee zu versichern, um mit deren Hilfe irgendwann eine pro-pakistanische Regierung in Afghanistan zu etablieren, falls das System Karsai ohne US-Truppen im Rücken wie ein Kartenhaus in sich zusammen fallen sollte.
Kugelsicherer Landrover
2004 filmten die US-Beobachter pakistanische Armeetrucks, die Taliban-Kämpfer an die afghanische Grenze brachten und einige Tage später wieder abholten. Zur gleichen Zeit wurden vom US-Stützpunkt Bagram aus Gespräche abgehört, in denen Taliban-Kommandeure mit pakistanischen Offizieren Sicherheitsgarantien im Falle eines Grenzübertritts aushandelten. Ein Jahr später griffen die Taliban mit pakistanischem Beistand erstmals NATO-Truppen in Afghanistan an. Ahmed Raschid kommt in seinem Buch zu dem Schluss: „Sieben Jahre nach 9/11 lebt Taliban-Führer Mullah Omar noch immer in der Provinz Belutschistan. Pakistanische und andere afghanische Taliban-Kommandeure haben sich weiter nördlich niedergelassen.“
Die zögerliche Reaktion von Präsident Zardari auf die Anschläge in Mumbai Ende November lässt keinen Zweifel: Das pakistanische Militär hat ein zweites Gesicht und agiert doppelgleisig – die Armeeführung umwirbt die Amerikaner, aber wenn es sein muss, halten einige Kommandeure auch Tuchfühlung zu verschiedenen Dschihadisten. Seit zehn Jahren darf Lashkar-e-Toiba-Gründer Mohammed Saeed in seinem Hauptquartier nahe Lahore Hof halten, obwohl sein Netzwerk auf Druck der USA nach dem 11. September 2001 offiziell verboten wurde. Die Madrassen (Religionsschulen) sind geöffnet und genießen den Schutz der pakistanischen Behörden. Das gilt auch nach dem Massenmord von Mumbai und trotz der Tatsache, dass Saeed wegen des Verdachts, er sei einer der Drahtzieher der Anschläge (was er abstreitet), unter Hausarrest lebt. Noch in diesem Jahr genehmigte Zardaris Regierung den Kauf eines kugelsicheren Landrovers für diese Galionsfigur der Dschihadisten.
Übersetzung: Zilla Hofman
William Dalrymple ist einer der angesehensten britischen Reise-Schriftsteller. Seine Bücher aus Indien wurden Bestseller. Er lebt in Delhi
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