Die Rhetorik des Krieges

Gaza-Konflikt Der Konflikt in Gaza spaltet die israelische Bevölkerung und verhärtet die politischen Fronten

Yeela Raanan sagt, sie würde lieber nichts über den Krieg im Gaza wissen. Sie will die Bilder der Kinder nicht sehen, die von israelischen Geschossen getötet wurden. Und sie will die Anschuldigungen nicht lesen, die Armee ihres Landes mache sich Kriegsverbrechen schuldig.Doch es gibt kein Entkommen. Raanan kann die unerbittlichen Angriffe über den Luft-, See- und Landweg von ihrem Haus aus hören, das nur drei Meilen von der Grenze zu Gaza entfernt ist. Immer wieder schlagen Raketen der Hamas in ihrer Nachbarschaft ein. Und irgendwo in den Wirren des Miilitäreinsatzes weiß sie ihren 2ojährigen Sohn, der in der israelischen Armee dient.„Ich wüsste das lieber nicht. Ich kann nichts dagegen tun. Wir haben die Bilder der palästinensischen Kinder, die getötet wurden, nicht gesehen,“ sagt sie. "Es ist einfacher nicht zu fühlen. Ich mache die Nachrichten immer nur für ein paar Minuten am Tag an, um zu sehen, ob etwas über mein Kind gesagt wird.“

Das Bemühen um Verständnis macht zum Verräter
Doch wenn Raanan an ihren Sohn denkt – dessen Namen sie lieber nicht öffentlich nennen würde – denkt sie auch an die palästinensischen Mütter und ihre Söhne in Gaza und findet sich dann im Widerspruch zu ihren Nachbarn. „Mit den Nachbarn rede ich nicht mehr darüber,“ erzählt sie. „Die Hamas ist gewalttätig und dumm. Ich mag nicht, wofür sie steht. Aber ich bin nicht wütend auf sie. Ich versteh, warum sie gewählt wurde, ich verstehe, warum sie tut, was sie tut.“ Das Bemühen zu Verstehen hat der ehemaligen Offizierin der israelischen Luftwaffe Anfeindungen eingebracht, eine Verräterin zu sein, die „ihre Nation an den Teufel verkauft.“ Ob sie ihren Sohn denn nicht liebe, wird sie gefragt.

Darüber, wie die israelische Armee im Gazastreifen vorgeht, wird der israelischen Bevölkerung wenig erzählt. Wenn doch, wird es beiseite geschoben. Das sei zwar alles schrecklich, heißt es dann, aber die Hamas habe es nun mal ihren eigenen Leuten eingebrockt. Das wirkliche Opfer sei Israel. Die israelische Mainstream-Presse hält sich an die offizielle Lesart, nachdem ein Verteidigungskrieg geführt wird und Israel sich in einem moralischen Konflikt befindet, der dem Land von der Hamas aufgezwungen wurde. Die Zahl der zivilen palästinensischen Todesopfer wird heruntergespielt, die Toten überwiegend als Terroristen bezeichnet. Die Berichte über die Auslöschung ganzer palästinensischer Familien treten zurück hinter den Geschichten über das israelische Trauma, das die Angriffe der Hamas verursacht haben.

Die Rhetorik des Krieges
"In den Nachrichten hieß es, die israelische Armee habe 100 'Terroristen' getötet. Außerdem sei eine Bombe gefallen, und 40 Menschen seien ums Leben gekommen", sagte Raanan über den Beschuss der UN-Schule. "Das ist mehr oder weniger die Rhetorik, die verwendet wurde. Im Mittelpunkt stand also die Tatsache, dass es uns gelungen war, Terroristen zu töten, und nicht, dass wir auch 40 weitere Menschen umgebracht haben. Uns wurde nicht einmal gesagt, wer sie waren." Zwar gibt es in der Presse auch anders lautende Stimmen, doch sie werden meistens übertönt oder nicht ernst genommen. Als israelische Araber gegen den Krieg protestierten, wurden sie wegen Untergrabung der nationalen Moral festgenommen. Im Fernsehen werden die Kritiker des Angriffs auf den Gazastreifen von Moderatoren beschimpft, die ihren Patriotismus anzweifeln.

Angst untergräbt die Bereitschaft zum Frieden
Das israelische Paradoxon besteht darin, dass sich die meisten Bürger bei Umfragen dafür aussprechen, eine Übereinkunft auszuhandeln, die zur Schaffung eines palästinensischen Staates führt - genauso wie Raanan und die israelischen Friedensaktivisten. Eine nicht unerhebliche Anzahl von Israelis stellt diese Möglichkeit jedoch in Frage. Aus ihrer Sicht beweist das Andauern des Konflikts nachdem Ariel Scharon im Jahr 2005 jüdische Siedler und das Militär aus dem Gazastreifen abgezogen hatte, dass die Araber keinen Frieden wollen; und dass es keine Sicherheit bringt, Territorium aufzugeben.

Die Rhetorik der Politiker, die bereits auf die Wahlen schielen, die sich in Israel ankündigen, trägt ebenfalls dazu bei, den Rückhalt für die vage Hoffnung auf Frieden zu schwächen. Vor allem die Rechte, die von dem ehemaligen Premierminister Benjamin Netanjahu angeführt wird, schürt die Angst vor einer Nuklearmacht Iran im Bunde mit der Hamas. Netanjahu, der bei der Wahl am 10. Februar voraussichtlich siegen wird, hat nicht die Absicht, Siedlungen aufzulösen oder die Kontrolle, die Israel über die in der Westbank lebenden Palästinenser ausübt, aufzugeben. Er tänzelt um den Streitpunkt eines palästinensischen Staates herum und hat in der Vergangenheit klargemacht, dass seine Wunschvorstellung auf eine Art Bezirk oder ein Bantustan hinausläuft, ein Homeland, umschlossen und überwacht von Israel.

So landet die breite Masse der Israelis, die behaupten, für den Frieden Partei zu ergreifen, wieder einmal an der Seite der Siedler. "Ich sage ungern, dass wir euch gewarnt haben", sagte Yisrael Medad, ein prominenter jüdischer Siedler aus Shilo, das tief in der Westbank liegt. "Jetzt hört man andauernd, dass es ein Fehler war, sich aus dem Gazastreifen zurückzuziehen. Man hört es im Fernsehen, wo es vorher nie diskutiert wurde. Mehr Moderatoren sind jetzt bereit, diese Frage zu stellen, die sie vor einem oder zwei Jahren niemals gestellt hätten. Sie sagten immer, dass wir eine extreme Sichtweise vertreten. Inzwischen würde ich sagen, dass das die vorherrschende Meinung ist: Egal, was wir im Hinblick auf die Gebiete getan haben, es wird sie [die Palästinenser] nicht zufriedenstellen. Sie werden uns immer weiter angreifen."

Auch auf israelischer Seite gibt es zivile Opfer - durch die Raketen der Hamas
Die Siedler mögen zwar eine extremistische Minderheit darstellen, aber mit ihrer Ansichten darüber, warum israelische Soldaten im Gazastreifen kämpfen, stehen sie nicht allein da. Raanan lebt in Ein Habsor, einem Moshav - einer kooperativen landwirtschaftlichen Gruppensiedlung - mit etwa 1.000 Mitgliedern. Die Siedlung leidet unter den regelmäßigen Einschlägen von Hamas-Raketen. "In den letzten paar Tagen hatten wir zwei pro Tag. In der Umgebung. Ein paar auch direkt bei uns. So nah, dass es ebenso gut das eigene Haus hätte treffen können", sagte sie. Niemand wurde verletzt, aber am nahegelegenen Sapir College, wo Raanan Verwaltungswissenschaften lehrt, wurde im Februar ein Student von einer Rakete der Hamas getötet. Roni Yechiah, 47 Jahre alt und Vater von vier Kindern, starb, als das Geschoss auf dem Parkplatz einschlug.

Raanan wünscht sich eine Regierung, die bereit ist, ernsthaft mit den Palästinensern zu verhandeln. Sie vertritt die Ansicht, Israel sei zwar stark genug, um den Palästinensern Schaden zuzufügen, dies bedeute jedoch nicht, dass dies auch im Interesse des Landes liege. Zudem möchte Raanan erreichen, dass andere Israelis die Leiden der Palästinenser nachvollziehen können.

Der Krieg verlangt die Spaltung der Persönlichkeit
"Wenn du dir wirklich vor Augen hältst, dass 40 vollständig unschuldige Menschen in einer Schule der Vereinten Nationen getötet wurden, wird dich das umtreiben. Es ist schwer, sich dies vor Augen zu halten und gleichzeitig daran festzuhalten, den Soldaten Erfolg zu wünschen. Das spaltet die Persönlichkeit tief. Ich schätze, es geht nicht anders, aber es ist schwierig durchzuhalten." Die Israelis, sagte Raanan, hätten die Palästinenser in so hohem Grade entmenschlicht, dass sie gar nicht mehr wahrnehmen könnten, wen sie da töten. "Es ist sehr schwer für sie, sich in jemanden hinein zu versetzen, der im Gazastreifen lebt. Ich vermute, man muss fähig sein, andere zu entmenschlichen, um fähig zu sein, diese Art von Krieg zu akzeptieren", sagte sie.
Medad in Shilo stimmt Raanan in einem Punkt zu. Auch er findet, die öffentliche Meinung in Israel werde zunehmend von Gleichgültigkeit gegenüber den Leiden der Palästinenser bestimmt. Der Grund dafür sei jedoch, sagte er, die ausländische Kritik am israelischen Vorgehen. "Ihre Kritik ist so barsch, dass sie langsam aber sicher immer mehr Israelis dazu bringen, sich von den Grundbegriffen der Humanität und der Rücksichtnahme abzuwenden, so dass die letztendlich denken: Wen soll das schon kümmern? Wir sehen kein menschliches Gesicht. In dieser Situation können wir tun, was wir wollen. Der Feind besitzt keine Identität. Er ist kein Mensch mehr."

Der Gaza-Konflikt verhärtet die Fronten

Ein Soldat, der, weil er in Uniform ist, nicht identifiziert werden will, meint, die Palästinenser seien selbst schuld. "Sie haben die Hamas gewählt und dann hat die Hamas Israel angegriffen, also ist es ihr Problem", sagte er. "Ich weiß nicht, ob das [der Angriff auf den Gazastreifen] eine Lösung bringen wird. Wahrscheinlich nicht. Wir können die Hamas nicht loswerden. Aber wir haben kapiert, dass wir den Palästinensern nicht trauen können. Bei Arafat war uns das klar. Jetzt ist es uns wieder klar."

Für Medad ist das der positive Aspekt des Gaza-Konflikts. Er glaubt, der Konflikt könne dazu beitragen, die Zukunft der Westbank-Siedlungen sicherzustellen - indem er die Israelis daran erinnert, dass nur die von ihnen ausgeübte Kontrolle über die Gebiete, die sie Judäa und Samaria nennen, verhindert, dass Raketen der Hamas auf Tel Aviv fallen. "Die Lage hat sich verändert. Der Gaza-Konflikt hat die Lage verändert", sagte er.

Shilo liegt an der Hauptstraße von Ramallah nach Nablus, weit entfernt von den Sperranlagen, die Israel als 'Sicherheitspuffer' durch die Westbank und Jerusalem gebaut hat. Die Einwohner von Shilo sind religiös, und die meisten von ihnen stehen hinter dem Anspruch, den Israel auf das gesamte Territorium westlich des Jordan erhebt. Die Anwesenheit von Palästinensern wird bestenfalls geduldet.

Der Abzug aus Gaza brachte nicht den erhofften Frieden
Als Ariel Scharon die jüdischen Siedler 2005 aus dem Gazastreifen abzog, bezeichnete er diesen Schritt als ein schmerzliches Opfer für den Frieden. Eine andere Betrachtungsweise geht davon aus, dass ihm politisch keine Wahl blieb und dass der Abzug eine Strategie war, sich dem internationalen Druck zu entziehen Gespräche mit den Palästinensern aufzunehmen. Die Räumung der Siedlungen im Gazastreifen änderte jedoch nichts an der fotwährenden Expansion der Kolonien in der Westbank. Seit 2005 ist Shilo um etwa 25% gewachsen. Die 'Außenposten' rundherum, die sogar nach israelischem Recht illegal sind, wuchsen so schnell, dass der gesamte Siedlungsblock von Shilo, mit seinen rund 10.000 Einwohnern, inzwischen genauso groß ist wie die Hauptsiedlung, die im Gazastreifen geräumt wurde.

Umfragen zufolge wären die meisten Israelis bereit, Shilo für den Frieden opfern. Einflussreiche Stimmen stellen sich aber dagegen, darunter der Mann, der als Kandidat für den Posten des Verteidigungsministers unter Netanjahu gehandelt wird. Mosche "Bogie" Jaalon, der ehemalige Generalstabschef der Streitkräfte, drängte die Regierung über Monate hinweg, den Gazastreifen anzugreifen, und lehnt einen Rückzug aus der Westbank ab.

Netanjahu - der fordert, den Angriff auf den Gazastreifen bis zur Entmachtung der Hamas fortzusetzen - teilt diese Ansicht im Großen und Ganzen. Möglich, dass die meisten Israelis gar nicht so weit gehen wollen, wie Netanjahu, die Umfragen führt er trotzdem an. Sogar im linken Lager sind die Standpunkte verhärtet. Die Unterstützung für Ehud Barak, den Chef der Arbeitspartei und Verteidigungsminister, nahm mit dem Angriff deutlich zu.

"Die israelische Öffentlichkeit wird von ihrer eigenen Führung als Geisel gehalten"
Jeff Halper, einen alterfahrener Friedensaktivist, sieht hierin einen weiteren Beweis dafür, dass die öffentliche Meinung in Israel vorwiegend von Angst bestimmt wird. "Die israelische Öffentlichkeit wird von ihrer eigenen Führung als Geisel gehalten", sagte er. "Die Israelis haben die Auffassung verinnerlicht, dass es keinen Partner für einen Friedensprozess gibt. In Israel wurde alles auf Terrorismus reduziert, weil Israel den politischen Kontext der Besatzung verdrängt hat und jetzt behauptet, nur Frieden zu wollen und großzügige Angebote gemacht zu haben, die von den Arabern immer zurückgewiesen wurden.“

„Siebzig Prozent der israelischen Juden sagen, sie seien gegen die Besatzung und wären glücklich mit der Zwei-Staaten-Lösung. Aber zu uns sagen sie: 'Du musst mit mir nicht über Frieden reden, ich will ja Frieden. Die Araber lassen uns nicht, denn die Araber sind einfach Terroristen.' In Israel herrscht die tiefverwurzelte Vorstellung, dass die Araber unsere immerwährenden Feinde sind."

Raanan hofft dagegen. Sie zählt die Tage, bis der Angriff auf den Gazastreifen vorbei ist und ihr Sohn abgezogen wird. Falls und wenn das passiert, wird ihr persönliches Trauma jedoch noch nicht überstanden sein. Ihr zweiter Sohn wird in sechs Monaten zum Militärdienst einberufen. So wie die Dinge stehen, könnte er seinem Bruder in den Gazastreifen nachfolgen.



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Übersetzung: Julian Doepp und Zilla Hofman
Geschrieben von

Chris McGreal | The Guardian

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