Wie ist Barack Obama die Wiederwahl gelungen? Der Philosoph Jean-Claude Milner hat kürzlich das Denkbild der „stabilisierenden Klasse“ vorgeschlagen: Damit ist nicht die alte herrschende Klasse gemeint, sondern all jene, denen es um die Stabilität und den Fortbestand der sozialen, ökonomischen und politischen Ordnung geht. Es ist die Klasse derjenigen, die, selbst wenn sie einen Wandel fordern, dies nur tun, um zu erreichen, dass sich nichts wirklich ändert.
Der Schlüssel zum Wahlerfolg in den heutigen entwickelten Staaten ist, diese Klasse für sich zu gewinnen. Obama, der weit davon entfernt ist, als radikaler Umgestalter wahrgenommen zu werden, hat sie für sich einnehmen können und wurde deshalb wiedergewählt. Die Mehrheit, die ihm ihre Stimme gegeben hat, war abgeschreckt von den radikalen Veränderungen, für die republikanische Markt- und Religionsfundamentalisten eintraten.
Aber ist das langfristig gesehen genug? In seinen Beiträgen zum Begriff der Kultur bemerkte der große britische Konservative T.S. Eliot, es gebe Augenblicke, in denen bestehe die einzige Wahl zwischen Ketzerei und Unglaube. Dann sei eine Religion nur durch eine sektiererische Abspaltung von ihrem Leichnam am Leben zu erhalten.
Mehr als Bush mit humanem Antlitz
Etwas in dieser Art braucht es auch, um der zehrenden Krise der westlichen Gesellschaften zu entkommen – in dieser Hinsicht ist von Obama eindeutig nichts gekommen. Viele Enttäuschte haben dem Präsidenten vorgeworfen, seine vielbeschworene „Hoffnung“ laute im Kern, das heutige System könne mit nur geringfügigen Änderungen überleben.
Sollten wir Obama also abschreiben? Ist er nicht mehr als Bush mit humanem Antlitz? Es gibt Zeichen, die über diese pessimistische Sicht hinausweisen. Auch wenn seine Gesundheitsreform letztlich von so vielen Kompromissen eingeschränkt wurde, dass kaum noch etwas davon übrig blieb, war die Debatte, die sie ausgelöst hat, von immenser Bedeutung.
Eine große politische Kunst ist es, auf bestimmten Forderungen zu beharren, wenn sie realistisch, umsetzbar und legitim sind – und zwar auch dann, wenn sie die hegemoniale Ideologie in den Grundfesten erschüttern. Die Gesundheitsreform war ein Schritt in diese Richtung – wie sonst ließen sich die Panik und die Wut erklären, die sie im republikanischen Lager auslöste? Sie berührte einen Nerv im Herzen des ideologischen Denkgebäues Amerikas: die Freiheit der Wahl.
Norwegen als Gegenmodell
Obamas Gesundheitsreformen erlösen einen großen Teil der amerikanischen Bevölkerung von der zweifelhaften Freiheit, sich darum zu sorgen, wer im Krankheitsfall für ihre Behandlung aufkommen würde. Eine grundlegende Gesundheitsversorgung als selbstverständliches Gut wie die Wasser- oder Stromlieferung bedeutet für die Menschen schlicht, dass sie mehr Zeit und Energie gewinnen, um ihr Leben anderen Dingen widmen zu können.
Die Lehre daraus lautet, dass Wahlfreiheit nur funktioniert, wenn ein komplexes Netz rechtlicher, bildungsmäßiger, ethischer, ökonomischer und anderer Bedingungen den unsichtbaren Hintergrund bildet, vor dem wir unsere Freiheit wahrnehmen können. Deshalb sollte man der Ideologie der Wahl Länder wie Norwegen als Modell entgegen halten: Obwohl dort alle wichtigsten Wirkenden eine grundlegende gesellschaftliche Übereinkunft respektieren und große soziale Projekte in einem Geiste der Solidarität geschehen, herrscht ein außergewöhnliches Maß an sozialer Produktivität und Dynamik. Das widerspricht der gängigen Auffassung, eine solche Gesellschaft müsse stagnieren.
In Europa wird das Erdgeschoss eines Gebäudes nicht gezählt, erst das Geschoss darüber gilt als erster Stock. In den USA hingegen liegt der erste Stock auf Straßenebene. Diese banalen Unterschiede deuten eine tiefe ideologische Kluft an: Europäer sind sich bewusst, dass es, bevor man zu zählen beginnt – bevor Entschlüsse oder Wahlen getroffen werden – einen Grund der Tradition geben muss, ein nulltes Geschoss, das immer bereits gegeben ist und als solches nicht gezählt werden kann. Hingegen geht man in den USA, einem Land ohne wirkliche historischen Traditionen, davon aus, man könne direkt mit einer selbstgegebenen Freiheit beginnen – die Vergangenheit wird ausgelöscht. Die USA müssen lernen, die Grundlagen zu berücksichtigen, wenn sie die „Freiheit zu wählen“ rühmen.
Die Notwendigkeit einer Trennung
Obama wird häufig vorgeworfen, er spalte das amerikanische Volk, statt es zusammenzubringen, um überparteiliche Lösungen zu finden – doch was, wenn gerade dies das Gute an ihm ist? In Krisensituationen ist eine Trennung derjenigen, die innerhalb der alten Parameter weitermachen wollen, von denjenigen, denen die Notwendigkeit einer Veränderung bewusst ist, unbedingt notwendig. Einzig eine solche Trennung führt zu wahrer Einheit – nicht opportunistische Kompromisse.
Als Margaret Thatcher nach ihrer größten Errungenschaft gefragt wurde, antwortete sie prompt: „New Labour“. Und sie hatte recht: Ihr Triumph bestand darin, dass selbst ihre politischen Feinde die Grundlagen ihrer Wirtschaftspolitik übernommen hatten. Wirklich besiegt hast du einen Feind, wenn er beginnt, deine Sprache zu benutzen, so dass deine Ideen die Grundlage des gesamten Feldes bilden. Heute, wo die neoliberale Hegemonie eindeutig zerfällt, ist die einzige Lösung, Thatchers Geste zu wiederholen und umzukehren.
Yurodivy ist die russisch-orthodoxe Version des heiligen Narren, der Verrücktheit vortäuscht, um eine Nachricht übermitteln zu können, die für die Machthaber dermaßen bedrohlich ist, dass sie auf direkte Weise überbracht zu einer brutalen Reaktion führen würde.
"Es sollte eine Revolution geben"
Klingt das, was Donald Trump nach der Wahl twitterte, nicht genau wie das Gefasel eines heiligen Narren? „Lasst uns kämpfen wie der Teufel und dieser großen, ekelhaften Ungerechtigkeit ein Ende bereiten. Diese Wahlen sind ein lächerlicher Schwindel. Wir sind keine Demokratie! Wir können das nicht zulassen. Wir sollten nach Washington marschieren und diese Farce stoppen. Es sollte in diesem Land eine Revolution geben.“
Auch wenn Trump in keiner Hinsicht ein radikaler Linker ist, lässt sich in diesen Zeilen leicht der Zweifel an der „formalen bürgerlichen Demokratie“ ausmachen, der in der Regel der radikalen Linken zugeschrieben wird: Oberflächliche Freiheiten maskieren die Macht der Eliten, die ihren Willen durch ihre Kontrolle über die Medien und Manipulation durchsetzen.
Ein Körnchen Wahrheit steckt darin – unsere Demokratie muss im Grunde neu erfunden werden. Jede sich auftuende Möglichkeit, uns diesem Ziel näher zu bringen, sollten wir nutzen – selbst die winzigen Risse, die in Obamas Amtszeit etwas Licht durchdringen ließen. Unsere Aufgabe während seiner zweiten Amtszeit besteht darin, diese Risse weiter aufzureißen.
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