Ägypten Der Konflikt zwischen Opposition und Mohammed Mursi hat den alten Eliten aus der Ära Mubarak neuen Auftrieb gegeben. Die Armee steht bereit, wozu auch immer
Nirgendwo im Revolutionshandbuch heißt es, dass ein Land gut zwei Jahre nach dem Sturz eines Diktators einen Anspruch auf inneren Frieden hätte. Wenn das postsowjetische Russland und der Post-Apartheid-Staat Südafrika die Welt etwas gelehrt haben, dann, dass demokratische Übergänge zerbrechlich sind, keine Erfolgsgarantie bieten und dem Recht des Stärkeren unterworfen bleiben. Präsident Mohammed Mursi hat nicht übertrieben, als er am Wochenende das erste Jahr seiner Präsidentschaft als „sehr schwierig“ bezeichnet hat. Er gehe davon aus, dass es für ihn „auch weiterhin schwierig“ bleiben werde. Mursi kommen nicht nur die Minister abhanden, zuletzt Außenminister Mohamed Kamel Amr, ihm wird auch durch die Armee das
das politische Existenzrecht bestritten. Die Generäle wussten, was ein 48-Stunden-Ultimatum bedeutet.Dass ihnen Derartiges widerfährt und die Macht aus den Händen gleitet, dafür haben die Muslim-Brüder selbst gesorgt, weil sie gleich zwei strategische Fehler zu verantworten haben, die den Dialog mit der Opposition zusammenbrechen ließen. Eine Verständigung, wie es sie zwischen Islamisten und Säkularen durchaus gab, als sie einst gemeinsam auf dem Tahrir-Platz gegen Hosni Mubarak demonstrierten. Der erste Fehler der Bruderschaft bestand darin, dass sie auf eine Verfassung drängte, die einen größeren Einfluss der Religion auf die Gesetzgebung ermöglichen sollte. Dahinter stand die Absicht, eine dogmatische Salafisten-Partei bei Laune und als Verbündeten zu halten, die Monate später dann doch die Seiten wechselte. Zum zweiten Fauxpas kam es, als Mursi im November 2012 eine Magna Charta für verbindlich erklärte, die ihm vorübergehend umfassende Vollmachten übertrug. Dieser Schritt, den er rasch rückgängig machte, hinterließ den Eindruck: Der Präsident folgt einem autoritären Amtsverständnis und verwechselt das per Wahl errungene Mandat mit der Pflicht, alle Seiten an Bord zu behalten.Allerdings steht auch die Opposition nicht ohne jeden Makel da. In ihren Reihen wurde zuletzt unablässig darüber geklagt, dass die Muslim-Bruderschaft in allen wichtigen staatlichen Institutionen die gesamte Macht an sich gerissen habe. Dabei gab es Angebote an die Führer der Opposition, hohe Regierungsposten anzunehmen. Sie wurden mit der Begründung verworfen, ein solches Amt dürfe nur an ein demokratisches Mandat gebunden sein. Nur weshalb wurde dann die Teilnahme an Wahlen abgelehnt, wie sie Mursi dekretieren wollte? Weil mit einer Niederlage zu rechnen war? Die Opposition behauptet, gewaltlos zu sein, dabei haben ihre Sympathisanten am Wochende gegnerische Demonstrationen unter Beschuss genommen. Es gab Tote und Verletzte.Revolutionäre im ZwiespaltDie Wahrheit lautet, dass ein Jahr nach dem Amtsantritt Mohammed Mursis keine der beiden Seiten die Legitimität der jeweils anderen anerkennen wollte. Gewiss bestanden berechtigte Bedenken wegen des ägyptischen Wahlrechts und der Gefahr von Wahlmanipulationen. Die Frage war jedoch, ob die so schwerwiegend sein konnten, dass sie die Legitimität freier Wahlen untergraben konnten, die es im Herbst geben sollte.Bislang wurden sämtliche Voten im Post-Mubarak-Ägypten im Großen und Ganzen für regulär befunden. Auch traf die Behauptung nicht zu, die organisatorische Kapazität der Bruderschaft an der Basis sei so groß, dass es keinen fairen Wettbewerb geben könne. Wenn sich das wirklich so darstellte, weshalb baute dann das Anti-Mursi-Lager nicht von unten her seine eigene politische Bewegung auf?Im März wurde erstmals die Forderung nach vorgezogenen Präsidentenwahlen laut. Ironischerweise war es mit dem eher linken, progressiven Islamisten und Ex-Präsidentschaftskandidaten Abd al-Monim Abu al-Futuh ein ehemaliges Mitglied der Muslim-Bruderschaft, das dieses Verlangen äußerte. Danach wurde aus jenem Vorstoß, der damals kaum Gehör fand, eine Forderung von Millionen Ägyptern. Als sie von Abu al-Futuh ins Spiel gebracht wurde, erschien es möglich, damit das Fortbestehen der Regierung Mursis zu sichern. Der Präsident hätte nicht zurücktreten müssen, um vorgezogene Wahlen anzusetzen. Spätestens ab Anfang Juni stand dann für Mursi sehr viel mehr auf dem Spiel. Es war klar, eine Abstimmung über das höchste Staatsamt konnte für ihn und seinen fundamentalistischen Zweig der Muslim-Bruderschaft zur letzten Überlebenschance werden.Eine Initiative mit dem Namen Tamarod (Rebell) griff das Thema Neuwahlen auf und machte es binnen weniger Monate zum Rückgrat einer neuen Bewegung. Die wurde indes nicht von Tamarod angeführt, auch nicht von denjenigen, die an der Spitze der politischen Opposition standen. Tatsächlich machten sich die Forderung nach einem Präsidentenvotum viele Ägypter zu eigen, die der Revolution anlehnend gegenüberstehen. Dadurch sahen sich viele Revolutionäre einem Dilemma ausgesetzt – sie mussten sich fragen, ob sie Leuten die Hand reichen sollten, die nicht ihren Traum von einem progressiveren Ägypten teilten, sondern lediglich etwas gegen den Amtsmissbrauch der Muslim-Brüder unternehmen wollten. Ein Zwiespalt, dem sich viele Aktivisten nicht entziehen konnten. Sie ahnten, dass Präsidentenwahlen ein letzter Rettungsanker sein würden, um ihre Revolution zu retten.Militärs im HintergrundErschwert wurde die Lage durch einen Loyalitätskonflikt: Viele Revolutionäre hatten unter Mubarak das Recht der Muslim-Brüder auf Teilnahme am politischen Leben verteidigt. Unter der Militärherrschaft, die auf Mubarak folgte, sprachen sie sich am lautesten gegen jeden Machtmissbrauch durch das Militär und für zivile Kontrolle aus. Während des Wahlkampfes vor einem Jahr zwischen Mubaraks letztem Premier Ahmad Shafi und dem Kandidaten der Muslim-Brüder, der Mohammed Mursi hieß, unterstützten viele genau den, um die Revolution am Leben zu erhalten.Die Tragik für beide Lager – es gab und gibt eine dritte Partei, der nicht abreißende zivile Unruhen und erbitterte Straßenkämpfe eine Win-Win-Situation bescheren. Ihre Protagonisten setzen sich aus Überresten des alten Regimes zusammen, die nie wirklich verschwunden waren und jede sich bietende Gelegenheit nutzen, ein Comeback zu versuchen. Ein Eingreifen der Armee ist eine davon.Einige Optimisten meinen nun, eine Armeeherrschaft werde nur von kurzer Dauer und dazu angetan sein, den Weg für neuerliche Wahlen zu ebnen. Wahrscheinlicher ist hingegen ein anderes Szenario: Die Streitkräfte übernehmen wieder die Macht und behaupten sie vorerst. Für viele Islamisten, die sich für eine demokratische Agenda entschieden haben, denen es aber verwehrt bleibt, ihre Führer regieren zu sehen, ist der Widerstand gegen eine Rückkehr der Obristen keine Frage der Ideologie, sondern des Überlebens. Was kann sie von der Schlussfolgerung abhalten, mit Festnahmen und Willkür, mit Folter und Inhaftierungen rechnen zu müssen, wie sie das aus der Zeit unter Hosni Mubarak kennen? Wer kann verhindern, dass auf beiden Seiten der Barrikade die Zahl der Extremisten zunimmt?Um so mehr besteht in diesem Augenblick die reale Gefahr, dass Ägypten zu einem großen Algerien wird. Als dort die 1992 von der Macht verdrängten Aktivisten der Islamischen Heilsfront (FIS) zu Kombattanten wurden und sich mit der Armee in einem verdeckten Bürgerkrieg gegenüberstanden, dauerte der zehn Jahre und forderte mehr als 100.000 Menschenleben. Sollte ein solcher Konflikt in Ägypten ausbrechen, müssen Grenzen nicht unbedingt respektiert werden. Die Gewalt könnte den Gazastreifen ebenso wie Libyen erfassen.Die Stabilität eines Nahen Ostens, in dem die USA und die Europäische Union die Ereignisse immer weniger zu beeinflussen vermögen, hängt in großem Maße von einem innerlich befriedeten Ägypten ab. Aber das ist momentan weniger in Sicht denn je.
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