Nach 18 Sekunden setzt ein hoher Pfeifton ein. Die nächsten rund sechs Minuten wird er nicht mehr abbrechen. Als Übergang zwischen dem Intro – Cicely Courtneidge singt "Take Me Back to Dear Old Blighty" – und dem Einsatz der Band selbst ist diese leicht modulierende Gitarren-Rückkopplung sowohl eine formale Maßnahme, um eine Überleitungen zwischen den unterschiedlichen Parts des Songs zu schaffen, als auch ein bewusstes Statement: Das hier ist ernst gemeint, es geht ans Eingemachte – also hör zu!
Wie "God Save the Queen" von den Sex Pistols, ist auch "The Queen ist Dead" von den Smiths als Rede zur Lage der Nation konzipiert. Parallelen gibt es viele: Die explizite Kritik an der Monarchie als Säule des bestehenden Klassensystems; der h
; der härteste Sound als effektivste Methode um ein Argument vorzubringen; Songtexte, die ein wortgewandter Wutausbruch aus der Perspektive eines Außenseiters sind – in beiden Fällen eines jungen Mannes irischer Abstammung. Beide haben es in den Charts auf Platz zwei geschafft."The Queen Is Dead" ist ein ausgemachtes Meisterwerk der Band. Ihr Spiel ist makellos: Die Rhythmus-Fraktion ist gleichzeitig geschmeidig und gnadenlos, während Johnny Marrs Wah-Wah-Gitarre permanent in Bewegung ist, in vollkommenem Einklang mit den Stimmungsschwankungen des Songs: Eben noch rhythmisch und brutal nach vorne treibend, in der nächsten Minute Nebengeräusch. Morrisseys Lyrics sind spitz, geistreich und durchtrieben, das gilt insbesondere für die impliziten Reime, etwa wenn auf „things“ anstelle des zu erwartenden „strings“ (in diesem Fall dt. Schürzenbänder) das Wort „castration“ folgt, um nur ein Beispiel zu nennen.Allem voran porträtieren The Smiths mit diesem Song präzise, wie es sich anfühlt, ein Außenseiter zu sein und sie verorten das an einem genauen physischen und psychologischen Ort: „Hemmed in like a boar betweeen arches.“ Bei der Zeile „but the rain flattens my hair“ muss wohl jeder Brite unweigerlich an Manchester denken und "The Queen is Dead" stellt in vielerlei Hinsicht den Höhepunkt der Morrissey'schen Textkunst dar – als er noch von seiner Stadt und seiner Vergangenheit geprägt war.Dieses Gefühl der Verwurzelung ist wichtig. Man spürt intuitiv, dass die Musiker erlebt, und zutiefst gefühlt haben, was sie kommunizieren. Sie wissen, wovon sie sprechen. Dieses Gefühl überträgt sich auf den Hörer, der umgekehrt auf eine Spiegelung seiner eigenen Erfahrung stößt, und so ist die Verbindung geschaffen. Und dieses Gefühl der Verbundenheit bleibt: Zweieinhalb Jahrzehnte nachdem ich "The Queen is Dead" das erste Mal gehört habe, klingt es für mich immer noch stolz und stark.Als "The Queen Is Dead" im Juni 1986 veröffentlicht wurde, näherte Großbritannien sich dem Ende der zweiten Amtszeit der konservativen Thatcher-Regierung. Die Bergarbeiter waren bezwungen, die „neue Rechte“ triumphierte. Acid House war damals noch Underground, während die ersten Live-Aid-Konzerte die Rockmusik endgültig zur Musik der Durchschnittsmenschen gemacht hatten. Seitens der Popkultur war überraschend wenig Kritik an der Regierung zu vernehmen, während der Anbruch des CD-Zeitalters eine Welle der Retro-Vermarktung auslöste.Es ist kein Zufall, dass die Smiths für das Video zum Song den anderen großen Außenseiter dieser Zeit anheuerten, Derek Jarman. In mehr als einer Hinsicht nimmt sein Film – mit den verlassenen Hafenarealen, den androgynen Gestalten, dem schnell geschnittenen Super-8-Film und den Bildüberlagerungen – viele der Themen und Techniken seines Meisterwerks The Last of England aus dem Jahr 1987 vorweg – ein wütendes Aufheulen gegen die dritte Thatcher-Amtszeit.Seit den Studentenprotesten am 9. Dezember musste ich viel an "The Queen is Dead" denken. Wenn sich etwas Grundlegendes ereignet, dann ist es oft an der Musik, ein Ereignis, das einen stark berührt, emotional sinnvoll einzuordnen. (Als im Mai 1982 die HMS Sheffield sank, spielte ich immer wieder und wieder "Holidays in the Sun" von den Sex Pistols, bis sich meine Wut in Tränen auflöste).In den Ereignissen des 9. Dezembers hallt einiges nach, ganz zu schweigen von der tatsächlichen Macht und Stärke, die die Proteste selbst ausstrahlten (und der Überreaktion der Polizei). Die Erhöhung der Studiengebühren wird bedeuten, dass Tausende von Heranwachsenden nun nicht die Universität besuchen, was bedeutet, dass sie arbeiten werden müssen: nun, welche Arbeit? Die jüngsten Arbeitslosenzahlen zeigen, dass die Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen verhältnismäßig am stärksten von der Rezession betroffen ist.Es scheint, als habe die Koalitionsregierung die Jugend der Nation in die Mülltonne getreten (ganz anders die National Assembly for Wales, die eine 3.290 Pfund-Obergrenze für Studiengebühren festgelegt hat). Doch die Jugend hat einen großen symbolischen und tatsächlichen Wert: Sie verkörpert nicht nur die Zukunft, sondern symbolisiert auch den Wunsch einer Gesellschaft, nach vorne zu sehen, zu gedeihen und zu wachsen.Dann sieht man die Fotos der jungen Demonstranten, die sich über die dichten Reihen der Polizisten erheben, eine strahlende Erscheinung mit ihren Haarschnitten wie aus dem Film This is England und ihren Hatful-of-Hollow-T-Shirts. Und dann liest man, es sei würdelos und „selbstgefällig“, wenn Marr und Morrissey twittern, dass es ihnen missfällt, wenn David Cameron sagt, er möge The Smiths. Die beiden haben die Songs geschrieben, sie haben jedes Recht der Welt dazu. Die Kritik an ihren Statements enthüllt lediglich den Konservativismus ihrer Kritiker.Schließlich ist da noch das Foto von Charles und Camilla, wie benommen vor Angst, als ein paar Staatsbürger sich ein wenig über sie lustig machen („The Queen is dead, boys, and it’s so lonely on a limb“). Ort des Geschehens war Regent Street, die Londoner Verkehrsstraße, die im frühen 19. Jahrhundert von John Nash angelegt worden war, nicht zuletzt um einer Wiederholung der Gordon Riots von 1780 vorzubeugen – jenem Ausbruch städtischen Chaos’, auf den sich Malcolm McLaren in dem Sex-Pistols-Film The Great Rock’n’Roll Swindle bezieht.Langsam werden die Verbindungen wohl klar. Entgegen dem Gelaber der Großkommentatoren kann die Popmusik eine enorme emotionale und gesellschaftliche Kraft entfalten. Sie kann tief in der Psyche vergrabene nationale Urbilder widerspiegeln und neu aktivieren. Das zu leugnen würde bedeuten, absichtlich eine Fülle an Möglichkeiten und, in der Tat, eine Kommunikationsform zu ignorieren, die von Tausenden, wenn nicht Millionen geteilt wird – eine Form der Kommunikation, die der Stimme der Jugend Gehör verschafft. Hört hin!
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