Letzte Nacht habe ich im Traum eine Stereoanlage gekauft. Sie hat 400 Pfund gekostet und sah aus wie ein Stapel silberfarbener Ziegelsteine aus dem Jahr 1985. Aber der Sound! Die Musik, die aus diesem Ding dröhnte umgab mich völlig. Sie beschränkte sich nicht auf meine Ohren, ich hörte sie mit meinem ganzen Körper. Sie ließ mich die Dinge fühlen! Dann wachte ich auf. Ich war zuhause in meiner Wohnung, in der es keine Stereoanlage und noch nicht einmal mehr CDs gibt, denn ich habe meine ganze Musiksammlung rausgeschmissen. Mir wurde mit einem Mal klar, wie idiotisch das von mir gewesen war.
Im Laufe der letzten paar Jahre habe ich mich all meiner CDs, Platten und Kassetten entledigt. Ich hab sogar meine Festplatte gelöscht und meine iTunes-Dateien komplett geleert. Ich war einmal total musikbesessen und fast jeden Abend auf einem Konzert oder in einem Club. Als Musikjournalistin bekam ich soviel zugeschickt, dass ich vor lauter Päckchen und Taschen voller Neuerscheinungen kaum noch in mein Gästezimmer hineinkam – zu all dem Zeug, das ich seit meinem neunten Lebensjahr gesammelt hatte, kamen permanent Rezensionsexemplare von Plattenfirmen hinzu.
Doch mit Anbruch des digitalen Zeitalters wurde es möglich, sich von all diesem Ballast zu befreien. Als ich mir dann einen neuen Job suchen mehrmals umziehen musste, entschied ich mich daher eines Tages, mich von meiner Sammlung zu trennen. Ich würde frei sein! Wenn mir danach wäre, würde ich mir die Sachen einfach im Netz anhören! Genau wie William Blake sagte, würde ich mich nicht an die Freude binden, sondern sie küssen, wie sie mir zufliegt. (Es ist gut möglich, dass die Musiker, die sich zwei Jahre lang abplagen, um die Lieder für ein Album zu schreiben, ein Studio buchen, um sie aufzunehmen, Tontechniker engagieren, um sie abzumischen, Leute anheuern, die das Booklet entwerfen und schließlich die Platten oder CDs herstellen lassen, nicht gerade begeistert darüber wären, wenn ich ihre Musik nur online höre und sie dafür später lediglich 25 Pence von den Werbeeinnahmen bekommen.)
Rihanna auf Spotify
Aber eigentlich kann es ihnen auch egal sein, da ich schon kurz danach sowieso nichts anderes mehr hörte, als Rihanna. Auf Spotify. Es gibt dort noch nicht einmal alle Platten von ihr. Ich glaube, die, die mir gefallen, haben sie überhaupt nicht. Das Problem ist nur, dass ich mich gar nicht mehr daran erinnern kann, welche mir gefallen. Es ist, wie Kelly Oxford in ihren gerade erschienenen Memoiren, Everything Is Perfect When You're a Liar, schreibt: „Ich glaube nicht, dass ich schon bald sterben werde, aber ich habe nun doch das Gefühl, ich werde alt. Zum Beispiel weiß ich, dass es Lil Wayne gibt und auch den Namen T-Pain habe ich schon einmal gehört – aber irgendwie hatte ich geglaubt, es handele sich um die selbe Person. Man kann sich sicher sein, dass man alt wird, wenn man in Sachen Popkultur nicht mehr auf dem Laufenden ist, obwohl man das immer noch glaubt.“
Was mich angeht, so weigere ich mich allerdings zu glauben, dass es das Alter ist, denn es gab in den letzten Jahren so gar keine Anzeichen dafür, dass ich erwachsen geworden wäre. Selbst ein Kind hat meine Lust auf Partys nicht gemindert. Aber die Musik ist für mich erloschen ist, seit ich angefangen habe, sie auf meinem Laptop zu hören.
Die Laptop-Hörerei brachte mich nicht zu der Annahme, dass Musik keinen physikalischen Raum einnehmen sollte – aber sie ließ mich den Klangraum vergessen, den Musik erzeugen sollte. Meine Ohren hörten auf, allzuviel vom Sound zu erwarten. Die Lieder, die sie zu hören bekamen, waren komprimiert, die Qualität war schlechter, die Lautsprecher nur zwei kleine, diskrete Flächen rechts und links neben meine Schreibhänden. Auf dem Ding klang die Musik so tief wie ein Oatcake. Es gab keinen Graphik-Equalizer oder etwas in der Art – wenn ich den Song mit mehr Tiefe hören wollte, dann musste ich ihn lauter drehen. Mein Laptop machte alle anderen körperlichen Aspekte der Musik nicht überflüssig, es machte die Musik so langweilig, dass ich das Interesse an ihr verloren habe.
Die Stenografie der Gefühle
Tolstoi nannte die Musik die Stenografie der Gefühle. Für mich aber war sie die Schönschrift. Es war der Ort, an dem die Dinge Schärfe erhielten, an dem die kurzen, schneidenden Worte, mit denen man Gefühle äußert, sich zu illustrierten Sätzen formten. Ich hörte auf einer Bang & Olufsen-Anlage Sufjan Stevens zu, wie er über den Serienmörder John Wayne Gacy Jr. singt und dabei schossen mir widerstreitende Gedanken von Mord, Krebs, Liebe und das Loch durch den Kopf, das sich bei uns allen auf dem Grunde unser Seele befindet. Jetzt höre ich Kiss FM auf dem Küchenradio: Sie spielen Swedish House Mafia: Musik, die dafür gemacht ist, abenteuerliche Wendemanöver mit dem Auto zu begleiten. Oder Bruno Mars, der sich bestens als Hintergrundmusik eignet, wenn man eine neue Rolle Klopapier einlegen will.
Ich versuche mich daran zu erinnern, ob ich das ganze theatralisch inszenieren und eine dramatische Geste machen wollte. Ich glaube, ich hatte nicht einmal vor, wirklich komplett Tabula rasa zu machen, wie der Künstler Michael Landy, der 2001 über Wochen hinweg alle seine weltlichen Güter in einer leerstehenden C&A-Filiale zerstört hat. „Es fühlte sich an, als wohnte ich meinem eigenen Begräbnis bei“, sagte er hinterher, „und ich wurde besessen von der Vorstellung, dass ich Zeuge meines eigenen Todes geworden bin.“ Und was machte es ihm so schwer? Wovor hatte er am meisten Angst? Was zerstörte er als letztes? Natürlich seine Plattensammlung.
Während ich das hier schreibe, wird mir klar, dass ich es vielleicht mit einer bestimmten Absicht getan habe: Vielleicht wollte ich in einer schwierigen Zeit dieses tiefere Gefühlsleben stilllegen. Nun gut, die Zeiten sind nicht mehr so schwierig und ich will meine Gefühle zurück. Drum werd ich jetzt losziehen und mir einen Ghettoblaster besorgen, der mich verstört und meine Seele durchdringt.
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