Die schönsten Ausbrüche

Gefängnis Fast 500 Taliban sind am Montag durch einen Tunnel aus einem afghanischen Gefängnis entkommen. Gab es je eine spektakulärere Flucht? Befreiungsaktionen im Vergleich

Im Moment möchte man nicht mit dem Leiter des Sarposa-Gefängnisses in südafghanischen Kandahar tauschen: Einen gefangenen Taliban zu verlieren, mag noch als Missgeschick durchgehen, wenn einem aber gleich 475 verlustig gehen, sieht das doch sehr nachlässig aus. Wenn man dann aber die Taliban auch noch fünf Monate lang einen 320 Meter langen Tunnel graben und sie dann viereinhalb Stunden das gesamte Personal an politischen Gefangenen des Gefängnisses nach draußen befördern und in einer bereitstehenden Wagenflotte entkommen lässt, sieht dies doch sehr nach einer berghohen Anhäufung von Sicherheitspannen aus.

Wo aber steht der Coup zwischen den großen Gefängnisausbrüchen der Geschichte? Wir haben den denkwürdigsten Noten in Bezug auf ihre Raffinesse, ihren Wagemut, den Schwierigkeitsgrad und ihr Potenzial zur Mythenbildung gegeben. Der zu erreichende Höchstwert liegt in jeder Kategorie bei 25. In diesem System erreicht die Taliban-Flucht 16 Punkte im Bereich Erfindungsreichtum, 18 in Sachen Wagemut, fünf, was den Schwierigkeitsgrad anbelangt (die Behörden legten eine heillose Unfähigkeit an den Tag) und 15 in Bezug auf das Mythen-Potenzial (dass ich diesen Text hier schreibe, zeugt davon, dass an dem Mythos bereits gearbeitet wird). Gesamtpunktzahl: 54. Das ist nicht schlecht. Wie also schneiden die anderen Teilnehmer ab?

Colditz

Das Schloss Colditz in Ostdeutschland, auf dem im Zweiten Weltkrieg alliierte Kriegsgefangene festgehalten wurden, bei denen große Fluchtgefahr bestand, ist zum Synonym für versuchte Gefängnisausbrüche geworden. Die dort inhaftierten Kriegsgefangenen scheinen den gesamten Krieg damit zugebracht zu haben, mit Teelöffeln Tunnel zu graben und Radios zu basteln. Sie haben sogar versucht, ein Segelflugzeug zu bauen, das von der Brüstung in die Freiheit abheben sollte. Viele sind aus Colditz entkommen, wobei die Zahl der sogenannten home-runs, die es schaffen, aus dem von den Deutschen kontrollierten Gebiet – für gewöhnlich in die Schweiz – zu entkommen, bei lediglich 15 lag.

Die zwei bekanntesten unter ihnen waren Briten: Pat Reid, der Colditz in mehreren Büchern verewigte, und der Tory-Abgeordnete Airey Neave, der 1979 von der Irish National Liberation Army ermordet wurde. Aber auch einige Franzosen konnten entkommen, drei von ihnen während eines Zahnarztbesuches. Neave macht Punkte in der Kategorie Wagemut, da er in einer deutschen Uniform aus dem Lager marschierte, und die durch Reids Bücher angestoßene Mythologie machte Colditz zur bekanntesten Ausbruchsgeschichte überhaupt. Dagegen bringt die große Anzahl an gelungenen Fluchten, die schwer zu überwachende Größe des Schlosses und die Dummheit der Deutschen, mehrere hundert notorische Ausbrecher an einem Ort zusammenzusperren, Punktabzug beim Schwierigkeitsgrad. Das Segelflugzeug konnte leider nie seine Flugtüchtigkeit unter Beweis stellen, da das Schloss vorher befreit wurde.

Erfindungsreichtum: 15; Mut: 18; Schwierigkeitsgrad: 12; Mythenbildung: 22.GESAMT: 67

The Great Escape (dt. Gesprengte Ketten)

Wahrscheinlich pfeifen Sie bereits die Melodie. Der 1963 erschienene Film The Great Escape (Gesprengte Ketten) wurde für viele zu einer weihnachtlichen Stütze, da zu dieser Zeit viele Menschen von Fluchtgedanken befallen werden. Für Hollywood handelte es sich um eine Geschichte von amerikanischem Heldenmut, bei dem der Geschichte zugrunde liegenden historischen Ereignis ist in Wahrheit allerdings kein einziger amerikanischer Kriegsgefangener entkommen: Es handelte sich um einen Massenausbruch von Kriegsgefangenen aus dem Stalag Luft III (Stammlager der Luftwaffe) im heutigen Polen. Amerikaner waren zwar an der 15 Monate dauernden Operation beteiligt, während der drei Tunnel aus dem Lager gegraben wurden, als es aber am 24. März soweit war auszubrechen, waren sie schon verlegt worden. Nur ein Tunnel wurde benutzt, 76 Männer entkamen, von denen die meisten allerdings schnell wieder eingefangenen wurden. 50 wurden hingerichtet und lediglich drei schafften es, in Freiheit zu gelangen: zwei Norweger und ein Niederländer.

In der Abteilung Raffinesse gibt es hier 20 (drei Tunnel zu graben erwies sich als Geniestreich, denn als einer von ihnen entdeckt wurde, hielten die Nazis es nicht für möglich, dass noch ein oder sogar zwei weitere Gänge von diesem Ausmaßen existierten könnten); Wagemut 20; Schwierigkeit 15 (das Lager war zwar extra für diesen Zweck gebaut worden und das Graben von Tunneln sollte hier besonders schwer sein, aber die Wärter waren wenig motiviert, und einige konspirierten mit den Gefangenen und besorgten ihnen gefälschte Dokumente); Mythenbildung 10 (die Geschichte wurde in gefährlicher Weise hollywoodisiert und steve mcquinntisiert). GESAMT: 65

Alcatraz

Auf der Insel Alcatraz in der Bucht von San Francisco befand sich zwischen 1933 und 1963 ein Bundesgefängnis, in dem Gefangene untergebracht waren, die in anderen Gefängnissen zuvor als unverbesserlich und schwierig eingestuft worden waren. Anderthalb Meilen vor der Küste liegend galt es als ausbruchssicher. Dennoch gab es in der 30-jährigen Geschichte des Hochsicherheitsgefängnisses 14 Ausbruchsversuche. Der berühmteste ereignete sich im Jahr 1962, als Frank Morris und die Brüder John und Clarence Anglin – die alle lange Haftstrafen wegen Raubes abzusitzen hatten – durch Lüftungsschächte entkamen, den Absperrzaun durchschnitten und aus Sperrholz und Regenmänteln ein improvisiertes Floß bauten.

Um ihre Wärter zum Narren zu halten, hatten sie Puppen aus Pappmasche in ihren Zellen zurückgelassen. Ihre Flucht wurde erst am nächsten Morgen bemerkt. Das kaputte Floß wurde in der Bucht gefunden und man ging davon aus, dass die Ausbrecher ertrunken waren. Es gab aber Berichte von Leuten, die sie gesehen haben wollten und ein Insasse erhielt eine Postkarte, von der behauptet wurde, sie stamme von den Ausbrechern. Sie seien „Fischen gegangen“, stand auf ihr zu lesen. Der Film Escape From Alcatraz (Flucht von Alcatraz) legt nahe, dass sie es bis ans Ufer geschafft haben.

Finesse 21; Mut 15; Schwierigkeit 23; Mythenbildung 12 (der offene Ausgang ist frustrierend). GESAMT: 71.

Pascal Payet

Payet sitzt eine 30-jährige Haftstrafe wegen Mordes ab und ist berühmt geworden, weil er zweimal mit entführten Hubschraubern aus französischen Hochsicherheitsgefängnissen entkommen konnte. Während er sich nach seinem ersten Ausbruch 2001 auf der Flucht befand, organisierte er den Ausbruch dreier weiterer Gefangener mithilfe eines Hubschraubers. Auch wenn das alles sehr clever gewesen sein mag, so zeugt doch der immergleiche Griff zum Hubschrauber nicht gerade von großem Einfallsreichtum. Finesse 0; Mut 0; Schwierigkeitsgrad 10; Mythenbildung 6, auch wenn Payet bei Hubschrauberfans vermutlich ein recht hohes Ansehen genießt. GESAMT: 16.

John Gerard

Gerard war ein englischer Jesuitenpriester, der in den 1590ern wegen Werbung für den Katholizismus in den Tower of London gesteckt wurde. In der Nacht des 4. Oktober 1597 ruderten seine Komplizen über den Burggraben und warfen ihm ein Seil zu, an dem er hinunterklettern konnte. Da seine Hände aber durch Folter schwere Verletzungen aufwiesen, wäre er beinahe gestürzt. Doch er schaffte es und konnte befreit werden. Erfindungsreichtum 16; Mut 20; Schwierigkeit 20; Mythenbildung gegenwärtig 5, obwohl die Geschichte mit Sicherheit das Zeug für einen Hollywood-Film hat. GESAMT: 61.

Flucht aus dem Maze-Gefängnis

Die irischen Republikaner nennen den Ausbruch von 38 gefangenen IRA-Mitgliedern am 25. September 1983 aus dem Maze-Gefängnis ihre eigene Große Flucht. Die Gefangenen überwältigten das Wachpersonal, schnappten sich einen LKW und brachen durch das Haupttor. Vier Beamte wurden erstochen, zwei erschossen und einer starb nach einer Messerattacke an einem Herzanfall. Für etwas, das sich durch Gewalt und nicht durch Heldenmut auszeichnet, Punkte zu vergeben, wäre unangemessen. Es handelt sich hierbei weniger um eine Flucht als vielmehr um eine Schlacht in einem sich ewig hinziehenden Krieg. GESAMTPUNKTZAHL: 0.

Die Rettung durch die Catalpa

Eine ansprechendere Flucht von nationalistischen Iren ereignete sich im Jahr 1876, als sechs sogenannte Fenier, die wegen Aufruhrs verurteilt, nach Australien verbracht und in Perth in ein Straflager gesteckt worden waren, in einer sorgfältig geplanten Operation von der Catalpa aufgenommen wurde, die von Sympathisanten der irischen Selbstverwaltung in New York finanziert worden war. Die Catalpa war ein amerikanisches Walfangschiff, das speziell für diese Mission gekauft worden war und sich vor der Aktion bereits fast ein Jahr lang auf See befand.

Die sechs Sträflinge stahlen sich von ihren Arbeitsgruppen davon und wurden zu der Catalpa gerudert, dicht gefolgt von einem Polizeiboot. Der Walfänger wurde dann auch noch von einem Kanonenboot verfolgt, bevor er in den Indischen Ozean flüchten und die Heimreise nach New York antreten konnte. Einfallsreichtum: 18; Wagemut: 23; Schwierigkeitsgrad: 20; Mythenbildung: 12. Es gab ein australisches Fernsehdrama, mehrere Theaterstücke und jede Menge Lieder von irischen und australischen Punk-Bands. Auf seinen Spielberg wartet Catalpa bis heute. GESAMT 73.

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Stephen Moss | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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