An dem kleinen Tisch in Cindy Shermans New Yorker Atelier sitzen ein Dutzend Perückenköpfe und starren uns an. Es ist verlockend, sich Shermans Gesicht als das 13. unter ihnen vorzustellen. Dünn, blass, ohne Make-up, das blonde Haar zurückgebunden, so sitzt die 62-jährige Künstlerin da. Seit vier Jahrzehnten ist sie ihr eigenes Model, ihre eigene leere Leinwand. Sie war Alfred-Hitchcock-Muse und Marilyn Monroe, Leiche am Tatort, zerstückelte Sexpuppe, Republikaner-Gattin und Clown. Sherman ist in ihrem Werk so dezidiert abwesend und präsent zugleich, wie Andy Warhol es war. Sie ist Gegenstand unzähliger Doktorarbeiten in den Gender Studies, zweimal hat sie die USA bei der Biennale in Venedig vertreten, ausgewählte Originale aus den 80ern wurden für vier Millionen Dollar gehandelt. Am Anfang einer jeden Arbeit, sagt Sherman, stehe aber noch immer der Anblick einer Perücke oder das Gefühl eines Stoffs zwischen den Fingern.
In ihren ersten neuen Bildern seit fünf Jahren hat Sherman sich als alternde Hollywood-Diva inszeniert. Gloria Swanson, Bette Davis und Greta Garbo standen Patin. In herrlichen Farbaufnahmen im Stil der 60er Jahre ist sie in prächtigen Turbanen und Perlenketten zu sehen, auf einer Chaiselongue ausgestreckt, blickt sie durch mehrere Schichten Kajal und spektakuläre Wimpern ins Leere. Erschaffen und zum Leben erweckt hat sie die Diven im Verlauf der vergangenen zwei Jahre hier in diesem Zimmer, im zwölften Stock eines Apartmentgebäudes in West-SoHo.
Verrutschte Strümpfe
Shermans Atelier gleicht einem Kostümfundus. Es gibt Ständer mit Seidenkleidern, Regale voller falscher Nägel, falscher Augenbrauen, Muskelprothesen und Horrormasken. Sie stöbert in Secondhandläden und auf Flohmärkten nach Pelzen und Modeschmuck. Das Atelier geht in Küche und Wohnzimmer über, auch räumlich verschwimmen die Grenzen zwischen Werk und Leben. „Ich bin keine Nine-to-five-Künstlerin“, sagt sie.
Seit ihren ersten Bildern inszenierter Filmszenen hat Shermans Werk eine lange Entwicklung hinter sich. Sie habe sich nach und nach „aus den Fotografien herausgearbeitet“, sagt sie. „Zuerst war ich nur die Reflexion im Spiegel, dann eine verschwommene Gestalt im Hintergrund, schließlich ein Körper, der neben Ameisen in Kunstblut liegt. Schließlich trat ich aus dem Bild und arbeitete mit Schaufensterpuppen.“ Sie habe sich die ganze Zeit gefragt, warum sie auf diesen Fotografien sei. „Welches Bedürfnis steckt dahinter?“ Oft habe sie das Gefühl, sie habe keine Wahl.
Auf den neuen Fotografien steht wieder sie selbst im Mittelpunkt. Das habe auch mit den emotionalen Aspekten des Alterns und ihrem Bewusstsein der Vergänglichkeit zu tun. Sie habe, sagt Sherman, „ein paar schwierige Jahre“ hinter sich und wie die Heldinnen, die sie verkörpert, überlebt, um ihre Geschichte erzählen zu können. „Mich stören nicht die Falten an sich, aber dass die Bandbreite meiner Möglichkeiten eingeschränkter ist. Ich könnte mich wahrscheinlich als 100-Jährige verkleiden, wenn ich wollte, aber wenn ich jünger aussehen will als 50, muss ich mich heute schon gewaltig anstrengen.“
In gewisser Hinsicht aber hat Cindy Sherman ihr ganzes Leben lang darauf gewartet, an diesen Punkt zu gelangen. Schon früh begann sie, sich zu verkleiden. Es gibt Bilder, die sie als Zwölfjährige zeigen, die wissen will, wie es sich anfühlt, älter zu sein; gebeugt, ein Kassengestell auf der Nase, einen alten Sonnenhut auf dem Kopf, die Strümpfe auf die Knöchel heruntergerutscht. Jetzt, da sie wirklich aufs Rentenalter zugeht, tut sie dies mit einem Gefühl von Trotz und Neugier.
Sherman wuchs in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf Long Island auf, das jüngste von fünf Geschwistern, die anderen waren neun Jahre älter und mehr. „Es war, als wäre ich das einzige Kind oder als wäre ich gar nicht Teil der Familie – sie haben ja schon so viele Jahre zusammengelebt, bevor ich kam.“ Der ursprüngliche Impuls, sich zu verkleiden, sei diesem Unbehagen entsprungen. Sie imitiert eine Kleinmädchenstimme: „Ich sagte: Vergesst mich nicht, Leute, denkt daran, dass ich immer noch da bin!“ Sie wollte, dass ihre Familie das Interesse an ihr nicht verliert. „Ich habe mir gedacht: Wenn ihr mich so nicht mögt, dann so? Mit Locken? Oder so?“
Als sie nach New York zog, half ihr die Maskerade, ihre Schüchternheit zu überwinden. Sie experimentierte mit ihrem Gesicht, ließ es älter wirken oder wie das eines Mannes aussehen. Sie ging als eine ihrer Figuren verkleidet auf Partys, als Schwangere oder als Sitcom-Star aus den 50ern. Schließlich ermutigte ihr Lover und Künstlerkollege Robert Longo sie, ihre Verwandlungen zu fotografieren. New York in den 1980ern schien wie geschaffen für Cindy Shermans fließende Identität.
„Es war schon seltsam“, sagt sie. „Ich bin nur eine Stunde entfernt aufgewachsen, aber meine Familie hatte diese ungeheure Angst vor der Stadt. Das einzige Mal, dass wir hinfuhren, war, um an Weihnachten in die Radio City Music Hall zu gehen. Ich habe nie Museen besucht, wir hatten nur einen einzigen Kunstband zu Hause: die 100 schönsten Bilder der Welt. Das aktuellste war von Salvador Dalí. Ich hatte Angst vor der Stadt, bis ich von der Schule abging. Dann war ich eines Tages in New York, und ich sah den Künstler Vito Acconci, wie er einfach so durch SoHo schlenderte. Auf einmal ist mir klar geworden: Das wäre ein Leben, das ich hier führen könnte.“
Ihre Mutter war 44, als sie ihre jüngste Tochter zur Welt brachte. „In den 50ern war das schon sehr alt. Mein Vater war 49. Sie waren so alt wie die Großeltern meiner Freunde und sahen auch so aus. Meine Mutter war wie eine Märtyrerin, ein guter Mensch, aber fast schon zu gut. Sie versuchte immer, auch mich zu einem guten Mädchen zu erziehen. Als Teenager begehrte ich zwar ein wenig auf, aber es hatte doch starken Einfluss auf mein späteres Leben. Es ist mir immer schwergefallen, mich zu behaupten. Als Kind und als Teenager wollte ich es immer allen recht machen.“ Und ihr Vater? „Er war kleinlich und engstirnig. Und egoistisch, er wusste die Familie und die liebevolle Frau, die er hatte, nicht zu schätzen. Als wir Kinder nach seinem Tod zusammenkamen, haben wir festgestellt, dass wir am meisten vermissten, uns jetzt nicht mehr die neuste, fiese Geschichte erzählen zu können: Was für einen gemeinen Brief er geschrieben oder was er uns sonst angetan hatte. Es war einfach lächerlich.“
#Cindygate
Eine Retrospektive der Künstlerin mit dem Titel Imitation of Life ist seit Juni im Museum des Sammlers Eli Broad in Los Angeles zu sehen. Dass unter den Werken auch jene Bilder von 1976 sind, auf denen Cindy Sherman Fahrgäste im Bus imitiert, hat in den USA eine Debatte befeuert, die auf Twitter unter dem Hashtag #Cindygate geführt wird.
Die Kritik richtet sich gegen Shermans stereotpye Verkörperung schwarzer Fahrgäste in einer Manier, die heute als Blackfacing abgelehnt wird. Die New-York-Times-Kritikerin Margo Jefferson wies bereits 2005 darauf hin, dass Shermans schwarze Fahrgäste, sowohl was ihr Make-up als auch was ihre Mimik betrifft, weit weniger nuanciert sind als ihre übrigen Figuren. In der Huffington Post erklärte nun auch die Kunstkritikerin Priscilla Frank ihr Unbehagen beim Anblick der Bilder. Shermans Kunst sei es, einem Chamäleon gleich mit ihren Rollen zu verschmelzen und gleichzeitig die Stereotype, die der Betrachter mit diesen verbindet, zu kommentieren. In diesem Fall aber reproduziere sie nur stigmatisierende Klischees.
Die Museen gehen mit der Serie unterschiedlich um. Während sie 2006 Teil der großen Sherman-Retrospektive im Pariser Jeu de Paume war, sah das New Yorker MoMA zuletzt davon ab, sie zu zeigen. In L.A. werden die Bilder jetzt um ein Statement der Künstlerin ergänzt, in dem sie schreibt, sie sei jung, naiv und sich nicht bewusst gewesen, dass die Figuren als Beleidigung aufgefasst werden können. Christine Käppeler
Ein Teil von Shermans Drang, sich endlos immer wieder neu zu erfinden, scheint in dieser Autobiografie begründet. Die Getriebenheit in ihrem Werk lässt sich damit aber nicht restlos erklären. Ich frage sie, was aus ihren Geschwistern geworden ist, ob auch sie Künstler sind. „Meine Schwester hat mit 16 geheiratet, ich war noch ein Baby, als sie das Haus verließ. Sie hat später eine Kochschule eröffnet. Einer meiner Brüder nahm sich mit 27 das Leben. Mein anderer Bruder ist gerade in Rente gegangen. Er hat etwas mit Computern gemacht.“ Als ihr Bruder Selbstmord beging, war sie 15. „Das ist eine lange Geschichte“, sagt Sherman und schweigt. 15, sage ich, ist ein schwieriges Alter, um mit solchen Gefühlen fertig zu werden. „Haben Sie damals entschieden, auf die Kunsthochschule zu gehen?“ – „Ja, das war um diese Zeit.“ Unvermittelt kommen ihr die Tränen. „Ich habe nie wirklich geglaubt, Kunst könnte eine therapeutische Wirkung haben. Aber das hatte sie definitiv.“
Ich bin unsicher, wie ich reagieren soll. Während sie versucht, die Fassung zurückzugewinnen, frage ich, ob sie es auch mit einer konventionellen Therapie versucht hat. „Ich bin seit ungefähr zwölf Jahren in Behandlung. Es ist schon komisch. Meine Familie war immer strikt gegen Therapie. Wir brauchen keine Hilfe! Wir sind stark, wir können etwas aushalten! Und dabei hätten sie es alle dringend nötig gehabt.“
Sherman glaubt, dass sie viele dieser Probleme mit in ihre Beziehungen getragen hat. 17 Jahre lang war sie mit dem Videokünstler Michel Auder verheiratet, der heroinabhängig war. Sie dachte, sie könnte ihm helfen, die Sucht zu überwinden, aber es funktionierte nicht. Auch ihre Beziehung zum Filmemacher Paul H-O stand unter keinem guten Stern. Sie endete, als er die zudringliche Dokumentation Guest of Cindy Sherman über seine Abscheu drehte, in der Kunstwelt als ihr Anhängsel zu gelten. Es sei, sagt sie, eine Befreiung, allein zu leben – abgesehen von ihrem Vogel, einem 25 Jahre alten Ara.
„Ich habe mein gesamtes Erwachsenenleben solche Angst davor gehabt, allein zu sein, dass sich ein Mann nur so verhalten musste, als würde er mich ein bisschen mögen – und schon erkor ich ihn zu meinem neuen Freund. Ich bin sehr loyal. Heute kommt es mir lächerlich, ja fast beschämend vor, sich so hinters Licht führen zu lassen. Vermutlich rührt auch das vom Selbstmord meines Bruders her. Ihm konnte ich nicht helfen – aber vielleicht ja diesem anderen Typen, der sein Leben nicht auf die Reihe kriegte? So habe ich gleich mehrmals eine schlechte Wahl getroffen. Wenn ich bloß früher zu einem Therapeuten gegangen wäre!“
Ihre Diven-Bilder atmen etwas von diesem „I will survive“-Gefühl. „Sie alle sind Frauen, die viel durchgemacht haben“, sagt Sherman. Wieder steigt ihr das Wasser in die Augen, und sie steht auf, um ein Taschentuch zu holen. Als sie zurückkommt, besprechen wir, wie gesund es ist, oder eben auch nicht, die Hälfte seines Lebens in einen Spiegel zu schauen und das eigene Gesicht unter die Lupe zu nehmen. Sie meint, es sei ihr zur zweiten Natur geworden. Trotzdem bleibe es befremdlich. „Im Spiegel sieht man sich verkehrt herum, deswegen weiß man nie, wie man wirklich aussieht. Fotografie kann ähnlich sein. Ich erinnere mich an einen meiner ersten Freunde. Ich dachte: Wie gut der aussieht! Ich zeigte anderen ein Foto von ihm, und sie haben es nicht gesehen. Ein unbewegtes Foto fängt nur manchmal die Essenz eines Menschen ein. Mich hat schon immer fasziniert, warum das passiert.“
Wie es weitergeht
Zweimal hat sie sich direkt nach ihrem Schulabschluss an Live-Performances versucht. „Beide Male war es eine Kollaboration. Ich habe es gehasst. Ich war als Partnerin ein hoffnungsloser Fall. Natürlich habe ich den schlechten Ideen der anderen nachgegeben. Seitdem arbeite ich immer allein.“
An den Kunsthochschulen ist sie lange schon Studienobjekt und Teil des Kunstgeschichtskanons. Wie fühlt sich das für sie an? „Darüber denke ich nicht nach. Manchmal habe ich ein seltsames Gefühl, wenn eine Galerieausstellung eröffnet. Die plötzliche Aufmerksamkeit schüchtert mich ein. Aber meistens, wenn auf eine neue Arbeit reagiert wird, denke ich: Da bist du ja wieder mal davongekommen.“
An einer Wand ihres Ateliers hängt eine Galerie mit Bildern von verführerischen Stummfilmstars − es sind die jugendlichen Versionen ihrer jetzigen Bilder. Ich frage mich, ob sie die Diven als fortlaufende Serie begreift, die mit ihr in den kommenden Monaten und Jahren weiter altern wird. „Kann sein. Ich mag diese Figuren. Sie haben viel überstanden. Und ich habe immer noch Ideen, wie es für sie weitergehen könnte.“
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