Die Sicherheit ist weg

Brexit 900.000 Polen leben in Großbritannien. Ihre Begeisterung für das Land ist einer Bestürzung gewichen
Ausgabe 10/2019

Renata erinnert sich genau an den Morgen nach der Brexit-Entscheidung im Juni 2016. Die polnischen Eltern an der Schule ihres Sohnes in Northamptonshire hatten sich am Schultor versammelt, die britischen hasteten an ihnen vorbei und vermieden jeden Blickkontakt. Vermutlich, weil sie nicht wussten, was sie sagen sollten, meint Renata: „Sie wirkten geschockt. Sie taten alles, um die Gruppe der Ausländer, die da stand, zu ignorieren.Die Stimmung war emotional extrem geladen. Im September desselben Jahres fiel mir schon auf, dass viele der Polen in ihre Heimat zurückgegangen waren.“

Die 42-jährige Renata kam 1999 aus der Industrieregion Schlesien im Südwesten Polens nach London – fünf Jahre vor dem EU-Beitritt ihres Landes. „Ich erinnere mich noch daran, wie ich damals dachte: Das ist es! Das ist mein Platz auf der Welt.“ Nachdem ihr Sohn in London geboren wurde und sie sich von ihrem Partner getrennt hatte, zog Renata in eine Kleinstadt in Northamptonshire. Sie machte sich selbstständig und lebte ein „ruhiges Leben“, erzählt sie. Erst das Brexit-Referendum am 23. Juni 2016 habe ihre Welt auf den Kopf gestellt. „Ich wachte mitten in der Nacht auf, als die Ergebnisse einen Trend in Richtung EU-Austritt signalisierten. Es war ein solcher Schock, wie die Leute abgestimmt hatten. Mir wurde richtig schlecht, weil ich nicht fassen konnte, dass eine Mehrheit nicht mehr Teil von etwas sein wollte, das so gut für mich war. Ich hatte geglaubt: Großbritannien, das ist jetzt auch mein Land.“

Vor Kurzem appellierte Premierminister Mateusz Morawiecki an die im Vereinigten Königreich lebenden Landsleute, sie sollten zurückkehren und dabei helfen, Polens Wirtschaft aufzubauen. „Mehr und mehr kommen zurück, was mich freut, denn wir haben eine niedrige Arbeitslosenquote“, sagte Morawiecki der BBC. „Gebt uns unsere Leute zurück.“

Viele Polen verhehlen ihrer Bestürzung nicht, und viele Briten deuten das als ein Zeichen des Abschieds von der Insel. Tatsächlich macht den Polen die Unsicherheit über ihre Rechte und den künftigen Status zu schaffen. „Wir waren voller Bewunderung für dieses Land, aber seit 2016 ist alles anders“, meint Ewa Lewecka, eine Lehrerin, die 2005 mit ihren Kindern nach Großbritannien kam. „Jetzt fühle ich mich enttäuscht, unglücklich, nicht mehr gewollt. Das Land ist nicht mehr das gleiche, die Leute sind plötzlich ganz anders. Das Schlimmste ist, dass man sich alleingelassen fühlt. Alles scheint zusammengebrochen. Inzwischen zähle ich die Tage bis zu meinem nächsten Besuch in Polen. Wenn mein Sohn nicht wäre, hätte ich längst die Koffer gepackt.“

Gut 900.000 Polen leben derzeit in Großbritannien, die größte ausländische Gruppe, neben Englisch ist Polnisch die am häufigsten gesprochene Sprache. Statistiken, die auf eine rückläufige Nettomigration aus Mittel- und Osteuropa wie einen akuten Arbeitskräftemangel im Bausektor und im Gastgewerbe verweisen, stützen den anekdotischen Eindruck, dass viele Polen das Land verlassen. Laut einer Umfrage unter 600 polnischen Firmen auf der Insel könnten 45 Prozent von ihnen wegen des Brexits nach Polen oder in ein anderes EU-Land ziehen. Bei einem Drittel sagt das Management, der Brexit beeinträchtige schon jetzt die Beziehungen zu ihrem Umfeld. Außerdem beobachte man eine gestiegene Feindseligkeit gegenüber Migranten. „Wenn Menschen oder ihre Kinder sich als Opfer von Vorurteilen erleben, trifft sie das tief“, erklärt Bartosz Kowalczyk von der Business-Website Polish Business Link, von der die Umfrage ausging. „Die Stimmung ist sehr angespannt.“

Brexit gleich Wahlexit?

EU-Recht Kann ein aufgeschobener Brexit die EU-Wahl im Mai beeinflussen, weil dann auch britische Parlamentarier in ein neues EU-Parlament (EP) gewählt werden müssen? Zunächst einmal wäre das nur bis zum 30. Juni möglich, weil das EP in seiner neuen Zusammensetzung bereits Anfang Juli erstmals tagen soll. Ohnehin könnte es EP-Nachwahlen für die Briten nur geben, sollte die am 29. März 2017 durch die Regierung May erfolgte Anrufung der Austrittsklausel des EU-Vertrages (Artikel 50.2) zurückgenommen werden. Dies aber steht mit dem, was Theresa May an Fristverlängerung vorschwebt, nicht in Aussicht. Ansonsten hätten sich die Briten ein Europawahlrecht nur erhalten können, wäre durch ein zweites Referendum der EU-Ausstieg kassiert worden. Wegen dabei einzuhaltender Fristen hätte das Unterhaus ein entsprechendes Gesetz spätestens Anfang Oktober 2018 beschließen müssen.

Die britische Regierung hat versucht, den Polen ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Bei einem Treffen mit Ministerpräsident Morawiecki im Dezember erklärte Premierministerin Theresa May auf Englisch und Polnisch: „Wir wollen, dass Sie bleiben.“ Aber diese Botschaft wird durch andere Signale in Frage gestellt, etwa den Vorschlag, dass es ein Einkommensminimum von 30.000 Pfund für EU-Arbeitsmigranten nach dem Brexit geben soll, um Lohndumping zu vermeiden. „In der einen Minute sagt May, sie will, dass die Polen bleiben. Im nächsten Augenblick hört man etwas über Bedingungen“, erregt sich Niko Cichowlas, der bereits 1981 eingewandert ist und ein Bauunternehmen mit überwiegend polnischen Arbeitern führt, von denen viele nach Polen zurückwollen. Cichowlas: „Es fehlt ihnen die Sicherheit.“

Besonders großen Ärger hat Mays Andeutung im Vorjahr erregt, EU-Migranten hätten sich bei der Suche nach Jobs in Großbritannien „vorgedrängelt“, ein Vorwurf, angereichert um die dann wieder zurückgezogene Idee, dass EU-Staaten nach dem Brexit eine Gebühr von 65 Pfund für einen dauerhaften Aufenthaltsstatus („Settled Status“) ihrer Bürger zahlen sollten. „Das war ein Affront für mich, für meine Kinder, für meine Freunde, die kamen, nachdem Polen der EU beigetreten ist“, sagt Damian Wawrzyniak, ein erfolgreicher Chefkoch und Berater, der ein Restaurant in Camebridgeshire führt und seit 2004 in Großbritannien lebt. „Ich fühle mich nicht mehr willkommen. Ich bin legal eingereist, hatte niemals Probleme mit dem Gesetz, habe meine Steuern bezahlt, nie Sozialhilfe bezogen. Seit es mich vor 15 Jahren hierherzog, habe ich jeden Tag gearbeitet. Warum sollte ich noch mal einen Antrag stellen?“

Polen wirbt für sich mit einer stabilen Ökonomie und einem seit dem EU-Beitritt kontinuierlich verbesserten Lebensstandard. Was ins Gewicht fällt, wenn steigende Lebenshaltungskosten und der Wertverlust des Pfund die britische Insel deutlich weniger attraktiv machen. „Polen hat Pull-Faktoren zu bieten“, so Agnieszka Smolenska vom Analysezentrum Polityka Insight in Warschau. Sie selbst hat Ende der 2000er in London studiert. „Vielen aus meiner Generation bieten sich in Polen gerade Chancen, die es so noch nie gab.“

So packte auch Alicia Kuczyinska, die 2003 als 20-jährige Studentin nach Großbritannien kam, im Herbst ihre Koffer, fand aber den Weg zurück nicht einfach: „Ich habe dort mein ganzes bisherigen Erwachsenendasein verbracht. In vielerlei Hinsicht bin ich mehr britisch als polnisch. Es war ziemlich hart, mich hier in Polen wieder einzugewöhnen, aber ich hatte einfach das Gefühl, dass die Leute in Bournemouth, wo ich zu Hause war, Einwanderer nicht mochten. Sie gönnten ihnen keinen Erfolg, die Kinder von Freunden wurden in der Schule drangsaliert.“

Angebot aus Island

So rührt sich auch bei vielen anderen ein Gefühl der Desillusionierung: „Als ich kam, dachte ich, die Engländer sind überaus tolerant“, erinnert sich der 34-jährige Slawomir Kaczynski, der für eine Catering-Firma in Dartford gearbeitet hat, nun aber ein Jobangebot aus Island annahm. „Es wird ständig gejammert, dass sie für alles zahlen müssen und die Ausländer ihnen die Jobs wegnehmen. Zeigt das Land nun sein wahres Gesicht?“ Bauunternehmer Cichowlas beobachtet noch eine andere Tendenz: „Bei meinen Männern höre ich heraus, dass sich die Briten gegen sie wenden. Sie spüren diesen Antagonismus von rechts. Manche werden dann selbst ziemlich antibritisch – sie fühlen sich angegriffen.“

Christian Davies ist der Polen-Korrespondent des Guardian

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Christian Davies | The Guardian

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