Die Spione, die wir liebten

Illusion Tim und Alex Foley denken, sie leben in einer ganz normalen Familie in einem Vorort von Boston. Bis das FBI ihre Eltern als russische Agenten verhaftet
Ausgabe 45/2016

Am 27. Juni 2010 wurde Tim Foley 20 Jahre alt. Mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder Alex feierte er in einem indischen Restaurant in der Nähe ihres Wohnhauses in Cambridge, Massachusetts. Die Brüder waren beide in Kanada geboren, doch seit zehn Jahren lebte die Familie in den USA.

Der Vater, Donald Heathfield, hatte in Paris und Harvard studiert und war mittlerweile in leitender Funktion für eine Unternehmensberatung in Boston tätig. Die Mutter, Tracey Foley, war jahrelang Hausfrau gewesen und arbeitete nun als Immobilienmaklerin. Ihren Bekannten galten sie als normale amerikanische Familie, mit kanadischen Wurzeln und einem Faible für Auslandsreisen. Die Brüder begeisterten sich vor allem für Asien. Die Eltern bestärkten sie in ihrem Drang, die Welt zu erkunden. Alex war erst 16, hatte aber bereits einen sechsmonatigen Schüleraustausch in Singapur hinter sich.

Nach dem indischen Essen kehrten die vier nach Hause zurück und stießen mit Champagner auf Tims Geburtstag an. Tim wollte später noch ausgehen. Er zog sich in sein Zimmer zurück, um mit seinen Freunden per Chat den Abend zu planen. Es klingelte an der Tür, und seine Mutter rief die Treppe herauf, die Freunde seien wohl früher gekommen, um ihn zu überraschen.

Doch als Tracey Foley öffnete, wartete eine andere Überraschung auf sie: ein Trupp bewaffneter Männer, die „FBI!“ brüllten. Sie stürmten ins Haus, ein weiteres Team kam durch den Hintereingang. Tim in seinem Zimmer dachte, die Polizei sei wegen seiner Party am Vorabend da. Alle dort waren unter 21 gewesen und hatten Alkohol getrunken. Und die Bostoner Behörden nahmen die Jugendschutzbestimmungen sehr ernst.

Das FBI hatte aber etwas anderes hergeführt. Die beiden Brüder sahen erschüttert zu, wie ihre Eltern in Handschellen gelegt und in schwarzen Limousinen weggefahren wurden. Einige Polizisten blieben zurück und erklärten, nun stehe eine 24-stündige Hausdurchsuchung an. Für Tim und Alex sei ein Hotelzimmer gebucht. Ihren Eltern werde illegale Spionage für eine ausländische Regierung zur Last gelegt.

Im Haus geirrt?

Alex glaubte an eine Verwechslung. Das Einsatzkommando musste sich im Haus geirrt haben, oder es gab irgendein Missverständnis wegen der Beratertätigkeit seines Vaters. Auch als die Brüder Tage später im Radio hörten, dass zehn russische Spione in den USA aufgeflogen seien, waren sie weiter überzeugt, Opfer eines gewaltigen Irrtums zu sein.

Doch das FBI hatte sich nicht geirrt, und die Wahrheit war unfassbar. Nicht nur spionierten ihre Eltern für Russland – sie waren auch Russen. Sie hießen nicht Donald Heathfield und Tracey Foley; diese Namen hatten sie von zwei schon als Kind verstorbenen Kanadiern übernommen. Geboren waren sie als Andrej Besrukow und Jelena Wawilowa in der UdSSR. Nach jahrelanger Ausbildung beim KGB waren sie ins Ausland entsandt worden – als „Illegale“, wie es in der Sowjetunion hieß, mit kompletter Schein-Identität. Schritt für Schritt hatten sie sich einen glaubhaften amerikanischen Hintergrund aufgebaut und waren danach für den russischen Auslandsgeheimdienst SWR tätig geworden. Verraten hatte sie und acht weitere Spione nun ein Kollege, der zu den Amerikanern übergelaufen war.

Die Anklageschrift des FBI las sich wie die Versatzstücke eines Spionageromans: tote Briefkästen, heimliche Übergaben, verschlüsselte Botschaften und Plastiktüten voller Dollarscheine. Die Bilder von dem Flugzeug, das später mit den zehn Agenten an Bord in Wien landete, wo sie gegen vier mutmaßliche westliche Spione aus Russland ausgetauscht wurden, erinnerten an die Zeit des Kalten Krieges. Die Medien stürzten sich auf die 28-jährige Anna Chapman, die wie ein Bond-Girl aussah und als Immobilienmaklerin in Manhattan gearbeitet hatte. Russland schwankte zwischen Scham und Stolz: Die Agenten waren enttarnt – doch welches andere Land wäre zu einer so komplexen und langfristigen Spionageoperation überhaupt in der Lage?

Für Alex und Tim waren die geopolitischen Dimensionen des Falls die geringste Sorge. Sie waren als Kanadier aufgewachsen, sie hatten von der wahren Identität ihrer Eltern nichts geahnt. Nun stand ihnen ein langer Flug nach Russland bevor – und eine viel längere emotionale Reise.

Fast sechs Jahre nach der FBI-Razzia treffe ich Alex in einem Café am Kiewer Bahnhof in Moskau. Er heißt nun offiziell Alexander Wawilow, sein Bruder Timofei Wawilow, auch wenn viele ihrer Freunde sie weiterhin bei ihrem alten Nachnamen Foley nennen. Alex ist inzwischen 21, seine noch jugendlichen Gesichtszüge stehen im Kontrast zu seinem förmlichen Auftritt mit schwarzem V-Ausschnitt-Pulli über weißem Hemd. Er spricht Englisch mit dem unverortbaren Akzent derer, die auf internationale Schulen gegangen sind, in Paris, in Singapur und den USA. Russisch beherrscht er gut genug, um Mittagessen zu bestellen, aber er kann es nicht fließend. Er studiert in einer europäischen Großstadt und ist hier, um seine Eltern zu besuchen.

Tim arbeitet in Asien, im Finanzsektor. Beide Brüder möchten nicht, dass weitere Details zu ihrem heutigen Leben veröffentlicht werden. Bisher haben sie jeden Kontakt mit den Medien verweigert. Dass sie nun mit mir reden, hat mit einem anstehenden Gerichtsverfahren zu tun: Die Brüder kämpfen um die Wiedererlangung der kanadischen Staatsbürgerschaft, die ihnen vor sechs Jahren entzogen wurde. Sie halten es für rechtswidrig, dass sie für die Sünden ihrer Eltern büßen sollen.

Bei einer Portion Chatschapuri – georgische Teigtaschen mit flüssigem Käse – erzählt mir Alex von den Tagen, nachdem das FBI bei ihnen hereinstürmte. Er und Tim saßen schlaflos in dem Hotelzimmer und versuchten zu begreifen, was geschehen war. Als sie tags darauf zurück nach Hause kamen, waren alle elektrischen Geräte fort, auch alle Fotos und Papiere. Der Durchsuchungsbericht des FBI listet 191 Gegenstände auf, die aus dem Haushalt beschlagnahmt wurden. Nicht nur Computer, Handys, Fotos und Medikamente, auch Tims und Alex’ Playstation.

Auf der Straße lauerten Presseteams, die Brüder verschanzten sich hinter den Jalousien. Am nächsten Morgen schlüpfte Tim hinaus, um in der Stadtbücherei ins Internet zu gehen und einen Anwalt für die Eltern zu suchen. Alle Bankkonten der Familie waren gesperrt. Den Jungen blieb nur das Geld, das sie gerade im Portemonnaie hatten, und das, was sie sich bei Freunden leihen konnten.

Fremde Verwandte

FBI-Beamte fuhren sie zur Verlesung der Anklage gegen ihre Eltern. Kurz konnten sie ihre Mutter im Gefängnis besuchen. Sie sagte ihnen, sie sollten dem Medienrummel entfliehen und nach Moskau fliegen. Alex und Tim waren noch nie in Russland gewesen. „Wir hatten große Angst“, erzählt Alex. „Plötzlich sitzt du in einem Flugzeug, und hast keine Ahnung, was auf dich zukommt. Du sitzt nur da und grübelst.“

Nach der Landung holten Fremde sie ab. Sie sprachen Englisch, stellten sich als Kollegen ihrer Eltern vor und führten die Brüder zu einem Transporter vor dem Terminal. „Sie hatten Fotos unserer Eltern dabei“, berichtet Alex. „Mit Anfang 20, in Uniform und mit Medaillen. Da dachte ich zum ersten Mal, es stimmt wirklich. Bis dahin hatte ich mich geweigert, es zu glauben.“

Die Brüder wurden in eine Wohnung gebracht. „Fühlt euch wie zu Hause“, sagten ihnen die Betreuer. In den nächsten Tagen zeigten sie ihnen Moskau, gingen mit ihnen in Museen, sogar ins Ballett. Ein Onkel und ein Cousin, von deren Existenz sie nichts gewusst hatten, kamen zu Besuch – auch eine Großmutter, die kein Wort Englisch sprach.

Einige Tage später trafen ihre Eltern ein. Bei einem Gerichtstermin in New York am 8. Juli hatten sie gestanden, russische Staatsbürger zu sein. Der Agentenaustausch war schon in die Wege geleitet, am 9. Juli wurden sie via Wien nach Moskau geflogen. Bei ihrer Ankunft trugen sie noch die orangefarbene Sträflingskleidung aus dem amerikanischen Gefängnis.

Wie geht ein 16-Jähriger damit um, dass sein ganzes Leben derart über den Haufen geworfen wird? Alex verzieht den Mund: „Typische pubertäre Identitätskrise, oder?“

Sein Vater wurde als Andrej Olegowitsch Besrukow in der sibirischen Region Krasnojarsk geboren. Seit seiner Rückkehr nach Moskau hat er einige Interviews gegeben, allerdings fast nur in seiner Eigenschaft als Experte für geopolitische Entwicklungen. Über seine Vergangenheit oder die von Jelena Wawilowa ist wenig bekannt. Auch Alex kann dazu nicht viel sagen: „Sie wurden als Paar angeworben. Sie waren kluge, vielversprechende junge Leute. Man fragte sie, ob sie ihrem Land helfen wollten, und sie sagten: ja. Dann kam die Ausbildung.“

Keiner der zehn enttarnten russischen Spione hat öffentlich darüber gesprochen, worin ihre Mission in den USA bestand oder wie die Vorbereitung ablief. Die Abteilung S, zuständig für die „Illegalen“, war der verschlossenste Teil des KGB. Einer ihrer Absolventen erklärt mir, seine Ausbildung Ende der 1970er umfasste zwei Jahre lang tägliche Englischstunden bei einer übergelaufenen Amerikanerin. Auch in verschlüsselter Kommunikation und Überwachungstechniken wurde er unterrichtet. Alles eins zu eins, andere Rekruten traf er nie.

Toronto, Paris, Cambridge

Das Programm ist beispiellos in der internationalen Spionage. Viele Auslandsgeheimdienste arbeiten mit Undercover-Agenten, manche werben dafür Zuwanderer der zweiten Generation an. Doch die Russen sind die Einzigen, die ihren Leuten eine perfekte ausländische Identität antrainieren. Oft war Kanada für die „Illegalen“ die erste Anlaufstelle, um sich ihre Scheinbiografie aufzubauen, ehe sie im eigentlichen Zielland, zumeist den USA oder Großbritannien, zu arbeiten begannen. Zu Sowjetzeiten hatten sie vor allem zwei Aufgaben: Sie dienten als unverdächtige Verbindung zwischen den KGB-Offizieren an der Botschaft und ihren einheimischen Informanten. Und sie hielten sich als „Schläfer“ für den Fall einer sogenannten „Spezialphase“ bereit – für einen Krieg.

Besrukow und Wawilowa wurden in den 1980ern nach Kanada beordert. Im Juni 1990 kam in Toronto ihr erster Sohn Tim zur Welt. Seine frühesten Erinnerungen sind ein Französischkurs für kleine Kinder und ein Besuch im Lagerhaus der Firma, für die sein Vater anfangs arbeitete – Diapers Direct, ein Windel-Lieferservice.

Zwar hatte Andrej Besrukow ein sowjetisches Universitätsdiplom, Donald Heathfield jedoch konnte keine Abschlüsse vorweisen. Von 1992 bis 1995 absolvierte er ein Bachelor-Studium in Internationaler Wirtschaft an der York University in Toronto. 1994 wurde Alex geboren, ein Jahr später zog die Familie nach Paris. Donald machte seinen MBA an der École des Ponts, und die Familie lebte bescheiden in einer Zweizimmerwohnung unweit des Eiffelturms.

Während Besrukow und Wawilowa ihre Tarnexistenz aufbauten, hörte das Land, das sie entsandt hatte, auf zu existieren. Mit dem Ende der UdSSR war auch der KGB am Ende, er wurde umbenannt und schien bedeutungslos zu werden, als Geheimdienst eines zunehmend abgewrackten russischen Staats. Doch 1999, als die Familie gerade ihren Umzug aus Frankreich in die USA vorbereitete, übernahm im Kreml ein Mann die Führung, der selbst vom KGB kam. In den folgenden Jahren sorgte Wladimir Putin dafür, dass die russischen Geheimdienste sich wieder international Respekt verschafften.

Donald Heathfield hatte seine Vita als fleißiger, gut ausgebildeter Kanadier wasserdicht gemacht. Ende 1999 wurde er an der Universität Harvard, in der Kennedy School of Government, angenommen und war bereit, als Spion für das neue Russland aktiv zu werden. Tim und Alex besuchten eine zweisprachige Schule in Boston, um ihr Französisch weiter zu pflegen. Zu Hause sprach die Familie ein Gemisch aus Englisch und Französisch. Und mit dem Harvard-Examen in der Tasche fand Heathfield einen Job bei der Unternehmensberatung Global Partners.

Mit Tim skype ich an einem Sonntagnachmittag, er sitzt in seiner Küche. Er sieht seinem Bruder sehr ähnlich, bis auf den Unterschied, dass er blond ist. Über seine Kindheit erzählt er mir, sein Vater habe viel gearbeitet, sei oft auf Geschäftsreisen gewesen. Er habe seine Söhne zum Lesen ermuntert, zur Neugier auf die Welt. „Er war für uns wie ein bester Freund.“ Seine Mutter habe als klassische „Soccer-Mom“ sie von der Schule abgeholt und zum Sport gebracht. Als sie Teenager waren, begann sie als Maklerin zu arbeiten. Ab 2008 studierte Tim Internationale Beziehungen an der George Washington University. Sein Schwerpunkt war Asien, er lernte Mandarin und verbrachte ein Semester in Peking. Im selben Jahr erhielt die ganze Familie US-Pässe, zusätzlich zu ihrer kanadischen Staatsbürgerschaft.

Er und sein Bruder hätten eine „ganz normale Kindheit“ gehabt, sagt Tim. Die Familie verbrachte viel Zeit zusammen, vor allem an den Wochenenden. Und die Eltern hatten einen großen Freundeskreis. Tim erinnert sich nicht, dass je von Russland die Rede war. Über ihre eigene Kindheit sprachen die Eltern kaum, aber da sie es nicht anders gewohnt waren, schöpften die Jungen keinen Verdacht. „Ich hatte nie auch nur ansatzweise das Gefühl, sie würden mir etwas verbergen“, sagt Alex. Er fand seine Eltern sogar langweilig: „Es kam mir vor, als hätten die Eltern meiner Freunde alle ein viel aufregenderes Leben als meine.“

Dabei standen Besrukow und Wawilowa schon kurz nach ihrer Ankunft in den USA unter FBI-Überwachung, denn anscheinend hatte es beim russischen Geheimdienst einen Maulwurf gegeben. Besrukow nutzte seine Beratertätigkeit, um auch in politische Kreise vorzudringen. Ob er Zugang zu Geheimmaterial hatte, ist ungewiss, aber einige Kontakte mit Amtsträgern hat das FBI dokumentiert.

Bilder mit Botschaften

In seinen wenigen öffentlichen Äußerungen klingt Besrukow eher wie ein Thinktank-Analytiker: „Beim Geheimdienst geht es nicht um riskante Eskapaden. Wer sich wie James Bond benimmt, ist nach einem halben Tag draußen. Und selbst wenn jemand einen Safe fände, in dem lauter Geheimnisse aufbewahrt würden – schon morgen wäre die Hälfte veraltet. Die beste Geheimdienstarbeit ist zu wissen, was dein Gegner morgen denken wird, nicht herauszufinden, was er gestern dachte.“

Mit dem SWR kommunizierten Besrukow und Wawilowa mittels Steganografie: Sie posteten Bilder, in deren Pixeln Botschaften versteckt waren, verschlüsselt durch einen Algorithmus, den der Geheimdienst für sie geschrieben hatte. Schon 2001 hatte das FBI ein Bankschließfach von Tracey Foley durchsucht und darin alte Fotos von ihr gefunden, von denen eines in kyrillischen Buchstaben den Namen des sowjetischen Labors trug, in dem es entwickelt worden war. Das Wohnhaus der Familie wurde jahrelang abgehört. Anders als die eigenen Kinder kannte das FBI also die wahren Identitäten des Paares. Doch die Amerikaner zogen es lange vor, den russischen Agentenring zu beobachten.

Warum schlugen sie dann 2010 zu? Eine mögliche Erklärung wäre, dass der mutmaßliche Maulwurf beim SWR, Alexander Potejew, aufgeflogen war. Es heißt, er sei wenige Tage vor dem FBI-Zugriff aus Russland geflohen. Eine andere Erklärung wäre, dass die Spione in den USA tatsächlich an heikle Informationen gekommen waren. 2012 berichtete das Wall Street Journal, das FBI habe lang vor der Festnahme mitgehört, wie die Eltern Tim ihre wahre Identität offenbarten. Zudem hätten sie den Wunsch geäußert, dass auch Tim sich zum russischen Spion ausbilden lasse. So ein Agent in zweiter Generation, mit vollständig überprüfbarer Biografie, wäre noch viel schwerer zu enttarnen als die „Illegalen“.

Tim versichert, dass diese Geschichte komplett erlogen sei. „Warum sollte ein junger Mensch, der in der Gewissheit aufgewachsen ist, Kanadier zu sein, ein Leben hinter Gittern riskieren für ein Land, in dem er nie war und mit dem ihn nichts verbindet? Und warum sollten meine Eltern das Risiko eingehen, mir als Teenager plötzlich zu verraten, wer sie sind?“ Beide Brüder berichten mir, sie hätten als kleine Kinder ihre Großeltern getroffen. Im Urlaub, sagt Alex, „irgendwo in Europa“, er wisse es nicht genauer. Sprachen sie Russisch? „Keine Ahnung. Ich war wirklich noch klein.“ Ich frage Tim, der sich ja besser erinnern müsste. Er habe sie alle paar Jahre gesehen, bis er etwa elf war. Dann verschwanden sie aus seinem Leben. „Rückblickend verstehe ich, warum. Mit zunehmendem Alter hätte ich mich gewundert, dass sie nicht Englisch sprachen.“ Zu Weihnachten gab es Geschenke „von Oma und Opa“. Sie lebten in Alberta, weit weg, sagten die Eltern. Manchmal schickten die Großeltern Fotos von sich in verschneiter Landschaft.

Wer sich bei Tims und Alex’ Geschichte an The Americans erinnert fühlt, liegt richtig: Die Fernsehserie über ein KGB-Paar mit zwei Kindern in den USA lehnt sich teils an das Leben der „Illegalen“ an, auch wenn sie die Handlung in die Zeit des Kalten Krieges verlegt. Joe Weisberg, der die Serie konzipiert hat, war Anfang der 1990er selbst CIA-Agent. Am Telefon erzählt er, es sei ihm wichtig gewesen, eine Familie in den Mittelpunkt zu stellen: „Als ich für die CIA arbeitete, bekam ich immer wieder mit, wie die Leute ihre Angehörigen belogen. Du kannst ja einem kleinen Kind nicht sagen, dass du bei der CIA bist. Also musst du dir überlegen, wann du es ihm verrätst – und ihm sagst, dass du es sein ganzes bisheriges Leben lang angelogen hast.“

Als ich Alex in Moskau treffe, hat er gerade die erste Staffel von The Americans zu Ende geschaut. Er hatte schon zuvor mehrmals angefangen, es aber nicht ausgehalten. Seinen Eltern gefalle die Serie, sagt er. „Es ist alles stark übertrieben, aber es erinnert sie daran, wie sie als ganz junge Agenten an einem fremden Ort anfingen.“

Die verlorene Heimat

2010 wurden sie in Russland als Helden empfangen. Präsident Medwedew heftete ihnen Orden an. Das Land aber war kaum wiederzuerkennen. Der Älteste der Enttarnten, erzählt Alex, sei schon zehn Jahre im Ruhestand gewesen und habe fast kein Russisch mehr gesprochen. Für den SWR arbeiteten sie nun nicht mehr, doch sie erhielten Jobs bei staatlichen Banken und Ölfirmen. Anna Chapman wurde Fernsehmoderatorin. Besrukow hat heute einen Posten an einer renommierten Moskauer Hochschule und veröffentlichte ein Buch über Russlands geopolitische Aufgaben.

Ende 2010 bekamen Tim und Alex russische Pässe. Ihre neuen Namen, Timofej und Alexander Wawilow, fanden sie „fremd und unaussprechlich“, wie Tim sagt. Allerdings gelang es ihm, sein in den USA begonnenes Studium an einer russischen Universität abzuschließen. Danach konnte er in London seinen MBA machen. Alex hatte weniger Glück. Er wollte in Kanada studieren, doch ihm wurde gesagt, er müsse erst eine neue Geburtsurkunde vorweisen, ehe er wieder einen kanadischen Pass beantragen könne. 2012 hatte er einen Platz an der University of Toronto und bewarb sich mit seinem russischen Pass um ein Vier-Jahres-Visum. Das Visum wurde ausgestellt, aber vier Tage vor dem Abflug kam ein Anruf von der kanadischen Botschaft. Alex musste dort erscheinen, das Visum wurde annulliert. Inzwischen hat er ein gültiges Visum für eine europäische Universität.

Wenn die Brüder nun ihre kanadische Staatsbürgerschaft einklagen, geht es ihnen nicht nur um logistische Fragen. In Russland fühlen sie sich nach wie vor nicht zu Hause. Zwar wollen beide fürs Erste in Asien arbeiten, wo man mit einem russischen Pass in vielen Ländern kein Visum braucht. Doch um selbst Familien zu gründen, wollen sie beide zurück nach Kanada.

Jeder in Kanada geborene Mensch hat das Anrecht auf die kanadische Staatsbürgerschaft – es sei denn, die Eltern arbeiten für eine ausländische Regierung. Der Rechtsanwalt in Toronto, der die Brüder vertritt, sagt, es sei lächerlich, diese Ausnahmeregelung auf sie anzuwenden. Deren alleiniger Zweck sei es zu verhindern, dass jemand die Annehmlichkeiten der Staatsbürgerschaft genießt, ohne damit einhergehende Pflichten zu übernehmen. Für die Einschätzung des Gerichts scheint es wichtig zu sein, ob die Eltern den Brüdern, wie vom Wall Street Journal behauptet, ihre Identität schon vor der Entlarvung enthüllt hatten. Nur selbst wenn: Was erwartet man von einem 16-Jährigen, der erfährt, dass seine Eltern russische Spione sind? Dass er beim FBI anruft?

Wenn Tim und Alex gefragt werden, woher sie kommen, antworten beide: Kanada. Alle paar Monate reisen sie nach Moskau, um ihre Eltern zu besuchen. Gab es viel Streit? „Natürlich hatten wir sehr schwierige Zeiten“, sagt Tim. „Aber was nutzt es, wenn ich wütend auf meine Eltern bin? Was die Familie und den Zusammenhalt angeht, ist der Weg, den sie gegangen sind, natürlich nicht gerade hilfreich gewesen.“

Alex fragt sich manchmal, warum seine Eltern überhaupt Kinder bekommen haben: „Ich freue mich ja, dass sie etwas hatten, woran sie so sehr glaubten. Aber ihre Entscheidungen bedeuten, dass ich zu dem Land, für das sie ihr Leben riskiert haben, überhaupt keine Verbindung spüre. Ich wünschte, ich müsste nicht für ihr Handeln büßen. Das ist so ungerecht.“

Vor sechs Jahren, sagt Alex, habe er sehr mit der Frage gerungen, ob er seine Eltern hassen oder sich verraten fühlen sollte. Doch er kam zu dem Schluss, dass sie die Menschen blieben, die ihn liebevoll großgezogen hatten. Egal, was für Geheimnisse sie vor ihm verbargen.

Shaun Walker lebt in Moskau und ist Russland-Korrespondent des Guardian

Übersetzung: Michael Ebmeyer

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Geschrieben von

Shaun Walker | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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