Die Stadt, die vom Himmel fiel

Myanmar Naypyidaw ist eine Metropole der besonderen Art. Ihr fehlt es an nichts, von Bewohnern einmal abgesehen
Ausgabe 15/2015

Wenn man durch Myanmars Kapitale Naypyidaw fährt, könnte man leicht vergessen, dass man in einem der ärmsten Länder Südostasiens ist. Die in weichen Pastelltönen gehaltenen, villenartigen Hotels und gigantischen Einkaufszentren wirken wie visionäre Kulissen. Die stets frisch gefegten Straßen werden von Blumenrabatten und akkurat beschnittenen Hecken gesäumt. Blumenskulpturen umgeben Verkehrsadern und Plätze.

Die Ausdehnung dieser surrealen Stadt lässt sich nur schwer ermessen. Mit geschätzten 4.800 Quadratkilometern nimmt sie mehr als das Sechsfache der Fläche New York Citys ein. Die bis zu 20-spurigen Straßen wurden für Autos und Motorräder gebaut, nicht für Flaneure und Fuhrwerke, die sie nun tatsächlich benutzen. Es geht das Gerücht, es gäbe diese gewaltigen Boulevards, damit im Fall von Anti-Regierungs -Protesten auch Flugzeuge auf ihnen landen können. Die Pisten führen vorbei an einem Safaripark mit klimatisiertem Pinguingehege und vielen Golfplätzen. Anders als im Rest des Landes ist die Stromversorgung stabil, viele Restaurants bieten freies und schnelles WLAN an. Das Einzige, was es in Naypyidaw offenbar nicht gibt, sind Menschen. Die gewaltigen Avenuen wirken wie leergefegt, selbst die Luft scheint stillzustehen. Offiziellen Angaben zufolge leben eine Million Menschen in der Stadt, aber es darf bezweifelt werden, ob diese Zahl der Wahrheit auch nur nahekommt. Teilweise mutet die Szenerie gespenstisch an, man wähnt sich in einer postapokalyptischen US-Vorstadt, wie sie ein David-Lynch-Film zeigen würde.

Than Shwes Vermächtnis

Willkommen also in einer der merkwürdigsten Hauptstädte der Welt! Inmitten von Reisfeldern und Zuckerrohrplantagen wurde Naypyidaw (was oft mit „Königssitz“ übersetzt wird) von Grund auf neu gebaut und im November 2005 von der damaligen Militärregierung offiziell als neue Kapitale vorgestellt, deren seltsame Ödnis inzwischen internationale Berühmtheit erlangt hat. Ständig stößt man auf Straßenkehrer. Immer zu zweit und mit neongrünen Westen bekleidet, fegen sie die makellosen Trassen täglich für mehrere Stunden, flankiert von einer kleinen Arbeitsarmee, die überall mit Ausbesserungsarbeiten beschäftigt ist.

Obwohl in Myanmar seit 2011 offiziell ein ziviles Kabinett die Staatsgeschäfte übernommen hat, sprechen die Einheimischen nur äußerst vorsichtig mit uns. „Die Regierung heißt jetzt zwar anders, ist aber immer noch die gleiche“, meint ein 26-Jähriger, der vor zwei Jahren aus einer Kleinstadt im Südbezirk Karen-Staat nach Naypyidaw gezogen ist. „Diese Stadt ist in erster Linie Regierungsangestellten vorbehalten. Die meisten anderen sind nicht allzu glücklich und leben nur hier, um zu arbeiten und Geld zu verdienen.“ Um die Entstehung der Stadt ranken sich Gerüchte und Spekulationen. Hat es sich um ein Prestigeprojekt des einstigen Militärdiktators Than Shwe gehandelt? Mancher glaubt, in dem „gewagten“ Namen, den man dieser Megakommune gab, Illusionen von Größe oder vielleicht ein Zeichen für Shwes mögliche Demenz zu erkennen, wie sie ihm in einer diplomatischen Depesche der US-Regierung von 2006 attestiert wurde, die Wikileaks drei Jahre später veröffentlichte.

Andere Theorien mutmaßen, eine immer paranoidere Junta hätte die Hauptstadt aus Angst vor einer drohenden US-Invasion von der Küste weghaben wollen. Stattdessen touchiert das Zentrum von Myanmars politischer Macht nun Regionen, in denen Separatisten und ethnische Minderheiten wie die Karen und Rohingya mehr Rechte einfordern und zum Teil den Guerillakampf suchen.

General Shwe, so heißt es, habe sich bei Naypyidaw an Vorbilder wie Canberra oder Brasilia gehalten. Regierung und Verwaltung sollten abgeschottet sein. Ihnen durften Straßenhandel, Verkehrslärm und Überbevölkerung, wie sie die ehemalige Hauptstadt Rangun beherrschen, nichts mehr anhaben können. Doch nur wenige glauben einer solchen Version. „Indem sie sich aus der wichtigsten Stadt Myanmars zurückzogen, schützten sich Than Shwe und seine Umgebung gegen einen möglichen Volksaufstand“, schreiben etwa die Aktivisten Benedict Rogers und Jeremy Woodrum in ihrem Buch Than Shwe. Unmasking Burma’s Tyrant.

Mit dem Leben auf Reisen

Ob das zutrifft? Jedenfalls ist in Naypyidaw der gewaltige Komplex aus Regierungsbauten von Wassergräben umgeben und erinnert an ein Fort. Es fällt schwer, sich aus der Entfernung, wie sie durch Stahlgitter und Checkpoints verordnet wird, überhaupt einen Eindruck von den Gebäuden zu verschaffen. Sie sollen durch ein unterirdisches Tunnelsystem verbunden sein, das im Notfall eine Evakuierung erlaubt. Dies gilt wohl ebenso für das Hauptquartier der Armee, das von imposanten Metallzäunen und vielen Soldaten geschützt wird. Auf diese Weise entzieht sich dieser Distrikt jeder unmittelbaren Wahrnehmung. Wie überhaupt zu bemerken ist, dass es für Naypyidaw kein öffentliches Areal wie den Tahrir-Platz in Kairo gibt, wo Menschen wie von selbst zusammenströmen, wenn sie auf die Straßen gehen. Ein indischer Journalist, der Naypyidaw besuchte, gebrauchte in seinen Reportagen später das Wort „kartografierte Diktatur“. In der Tat scheint die autoritäre Atmosphäre bereits im Stadtplan angelegt. Geschichten von Menschen, die gezwungen wurden, nach Naypyidaw zu ziehen oder die Stadt als unsichere Kantonisten zu verlassen, trübten das Prestige dieses urbanen Konglomerats von Anfang an.

Von Naypyidaw nach Rangun sind es über 300 Kilometer. Die Autobahn führt durch Felder und sanfte Hügel nach Norden. Als wir sie benutzen, ist die Trasse fast völlig leer, nur hin und wieder fährt ein Auto oder ein als Minibus improvisierter Lkw vorbei, auf dessen Ladefläche sich Dutzende von Passagieren drängen. Am Straßenrand ermahnen Warnschilder die Fahrer, das Geschwindigkeitslimit einzuhalten. „Das Leben ist eine Reise. Vollenden Sie diese Reise“, lautet eines davon. Obwohl die Piste verlassen wirkt und Reisende sagen, es handle sich um die beste Straße im ganzen Land, gibt es Anekdoten über schwere Unfälle. Hinter vorgehaltener Hand wird von einer „Straße des Todes“ gesprochen. Kritiker monieren, beim übereilten Bau der Betontrasse zur neuen Hauptstadt habe man zu geringen Wert auf Verkehrssicherheit gelegt.

Fragt man in Rangun Mitarbeiter ausländischer Hilfsorganisationen, ob sie bereit wären, sich in Naypyidaw niederzulassen, wird nur gelacht. Man nimmt lieber die fünfstündige Fahrt im Auto nach Rangun in Kauf. In letzter Zeit erfreut sich auch das Flugzeug immer größerer Beliebtheit. Jedoch muss man sich fragen, ob die 350 Dollar, die ein Hin- und Rückflug kostetn, an anderer Stelle nicht sinnvoller eingesetzt wären. „Es ist eine Herausforderung“, räumt die Mitarbeiterin einer britischen Nichtregierungsorganisation in Rangun ein. Sie sei am Vortag morgens zu einem Treffen nach Naypyidaw und am gleichen Abend wieder zurückgeflogen. „Die Stadt ist ziemlich skurril, aber nun einmal die Hauptstadt. Folglich müssen wir hin. Manchmal sagen wir im Scherz, ein paar Tage Naypyidaw seien recht erholsam. Wenigstens gibt es dort keinen Verkehrsstau.“

Umzug oder Abstieg

Zurück in Naypyidaw sitzen ein paar UN-Angestellte mit ihren Laptops in einem der riesigen Einkaufszentren und unterhalten sich. Sie sind zum ersten Mal in Myanmar und hadern mit ihrem Schicksal, weil sie hierher geschickt wurden, nicht nach Rangun. „Die Hotels wirken von außen recht ansprechend, aber innen fällt manches schon auseinander“, klagt eine UN-Mitarbeiterin. „Wir hatten wirklich keine Ahnung von dem, was uns hier erwartet. Wir dachten, Myanmar sei noch recht wenig entwickelt, und waren überrascht, diesen Hang zur Gigantomanie zu erleben, die ohne praktischen Sinn zu sein scheint. An vielen Orten wirkt alles wie ausgestorben. Als sollte ebendieser Eindruck erweckt werden.“

Naypyidaw ist nicht die einzige Stadt, die dank eines politischen Kalküls von Grund auf neu gebaut wurde. Ähnlich verhält es sich mit dem kasachischen Astana, mit Oyala in Äquatorialguinea oder Gbadolite, dem pompösen Refugium des früheren Zaire-Diktators Mobutu Sese Seko (heute in der Demokratischen Republik Kongo gelegen). Auch Myanmar selbst kann bereits auf mehrere Hauptstädte zurückblicken: außer Rangun auch Mandalay, die letzte Königsresidenz. Sie wurde Ende des 19. Jahrhunderts unter König Mindon errichtet und liegt am östlichen Ufer des Flusses Irrawaddy.

„Der neuen Hauptstadt“ – so hieß es in einer weiteren von Wikileaks 2009 publizierten diplomatischen Depesche – „fehlt es an grundlegender Infrastruktur; die umgesiedelten Regierungsbüros können nicht normal funktionieren, Tausende von Beamten, die zwangsweise dorthin umgesiedelt wurden, müssen beträchtliche persönliche Härten in Kauf nehmen.“ Die Regierung von Myanmar, so das Kabel weiter, „drohte Beamten, die sich der Versetzung verweigerten, mit Gefängnisstrafen oder der Streichung ihrer Pensionen“.

Niemand kann sagen, wann genau die Arbeiten an der neuen Stadt begonnen haben. Vieles spielte sich im Geheimen ab. Wenn man sich aber das schiere Ausmaß des Unterfangens ansieht, ist es schwer vorstellbar, dass Planungs- und Bauphase weniger als zehn Jahre gedauert haben. „Die Gegend rund um Naypyidaw wurde entvölkert, um das riesige Gelände von der Außenwelt abzuschirmen“, schrieb damals eine thailändische Zeitung. „Ganze Dörfer verschwanden von der Landkarte. Es wurden Bewohner umgesiedelt, deren Familien jahrhundertelang die Gegend bewirtschaftet hatten. Wer sich dieser Armee der Entvölkerten nicht anschließen wollte, konnte sich anwerben lassen, um beim Bau der neuen Stadt mitzuhelfen und sich später vielleicht dort niederzulassen.“

Das heißt, die Menschen wurden von einem urbanen Gefüge absorbiert, das in den Randzonen Naypyidaws aufgelockert wird durch einen Zoologischen Garten, Tennis- und Golfplätze sowie einen 70 Hektar großen Park, ein Ökoresort mit Freibad und einem künstlich angelegten See. Von den Erbauern Naypyidaws können es sich freilich die wenigsten leisten, diese Attraktionen zu bezahlen und zu genießen.

Claire Provost und Matt Kennard sind Reporter des Zentrums für Investigativen Journalismus in London

Übersetzung: Holger Hutt

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Geschrieben von

Matt Kennard, Claire Provost | The Guardian

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