Die Stadt und die Schulden

Spurensuche Eine politische Safari durch die City of London soll helfen, die Ursachen der Finanzkrise zu verstehen.
Occupy muss draußen bleiben. Wer nicht protestiert, darf auch in die Banken hinein.
Occupy muss draußen bleiben. Wer nicht protestiert, darf auch in die Banken hinein.

Foto: Leon Neal / AFP / Getty Images

Unser erster Tour-Guide entspricht haargenau dem alten Klischee des fröhlichen Bankers. Fast könnte man sein Outfit für ein fertig gekauftes Kostüm halten: die strahlend roten Hosenträger, die breite, getupfte Krawatte und selbst das sorgfältig gefaltete Taschentuch, das aus der linken Brusttasche seines Anzugs ragt. Aber Justin Urquhart Stewart ist kein kostümierter Schauspieler, sondern Banker mit mehr als zwanzig Jahren Berufserfahrung. Wenn man nicht selbst in der Finanzbranche tätig ist, hat man normalerweise kaum die Gelegenheit, jemandem wie ihm Fragen zu stellen.

Debt and The City: A Political Tour ist eine Art Safari durch die Finanzkrise. Über sechs Stunden lang werde ich zusammen mit sechs weiteren Tour-Teilnehmern von den kalten Steintreppen der Londoner Börse hinauf in die Konferenzräume und verspiegelten Aufzüge der Unternehmen. Unterwegs werden wir Banker, Immobilienberater und Finanzjournalisten treffen und uns die Freuden der Absicherung durch Verbriefung, des Glass-Steagall Acts oder von Collateralised Debt Obligations näherbringen sollen.

Zuerst gibt uns Stewart eine kurze Zusammenfassung der Geschichte des britischen Finanzdistrikts, führt uns durch die engen Gassen der Londoner City, vorbei an Plakaten, die auf die Cafés hinweisen, in denen sich die Banker und Geschäftsleute vergangener Jahrhunderte getroffen haben. Wir lernen, dass es sich bei der Finanzkrise um so etwas wie eine nationale Tradition handelt. „Schon zur Zeit Edward I ist England verschuldet“, sagt unser Führer. „Die Geschichtsstunde soll noch einmal deutlich machen, dass das, was heute passiert, nichts Neues ist“, erklärt Tour-Direktor Nicholas Wood. Der ehemalige Journalist war fünf Jahre lang Balkan-Korrespondent der New York Times, bevor er 2009 das Unternehmen Political Tours gründete. Im vergangenen Jahr organisierte er Touren, die wissenshungrige Touristen nach Lybien, Kosovo und Nordkorea führten. Der Crash-Kurs in Sachen Finanzkrise ist sein erstes Projekt im Vereinigten Königreich. Er soll als Prototyp für eine zweitägige Tour durch die City dienen, die er von Anfang Oktober ab plant. „Es gibt Führungen zu Kunst und Geschichte. Warum sollte es keine ernsthafte politische Tour geben können?“, fragt Wood. „Mit ihr wollen wir sagen: Seht her, die Banken dienen einem eindeutigen Zweck. Wie also konnte es dazu kommen? Es ist sehr leicht, die Sache den Bankern in die Schuhe zu schieben. Aber in Wirklichkeit betrifft sie noch eine ganze Reihe anderer Leute. Wir haben uns über die billigen Kredite und den steigenden Wert unserer Häuser gefreut. Die Politiker freuten sich über die Steuereinnahmen.“

Die fetten und die mageren Jahre

Wir folgen Stewart zu dem Platz, an dem die Londoner Börse ursprünglich stand – heute befindet sich hier passenderweise ein Einkaufszentrum für Luxusartikel – wo er uns mit der wichtigen Unterscheidungen zwischen Handels- und Investmentbanken bekannt macht, deren jahrzehntelange Trennung 1986 mit dem „Big Bang“ hinfällig wurde .

Es nie eine gute Idee gewesen , die beiden zu vermischen, so Stewart. „Es ist ein wenig so, wie wenn man Nitrogen und Glyzerin mischt.“. „Das eine ist viel aggressiver als das andere und das kann nicht funktionieren.“ Der Big Bang sei aber nur der erste Schritt auf dem Weg zur gegenwärtigen Krise gewesen. Einen Teil der Verantwortung trage Thatcher, mehr noch aber Bill Clinton: Angetrieben von dem Wunsch, jeder Amerikaner solle eine eigene Wohnung besitzen, entschloss sich dieser, das unheilvolle System der Subprime-Hypotheken in die Welt zu setzen.

„Die ganze Idee bestand darin, die Hypotheken und somit das an ihnen hängende Risiko über die ganze Welt zu verteilen“, erklärt Stewart. „Sie wurden auf die gleiche Art verteilt, wie ein Kuhfladen, auf den man mit einer Schaufel eindrischt: Sie flogen in alle Richtungen. Das führte dann dazu, dass die Banken nur noch Däumchen drehten und sich gegenseitig nicht mehr über den Weg trauten. Niemand wusste, wer die Schuldscheine im Depot hatte. Und wenn dem Bankensystem das Vertrauen abhanden kommt, gerät es in die Krise. Das ist, was London gegenwärtig durchmacht. Auf zehn Jahre Aufschwung folgen zehn magere Jahre. Wir brauchen mindestens noch sieben weitere, um aus der Sache wieder herauszukommen.“

Die Teilnehmer der heutigen Führung sind sehr verschieden. Ein paar haben bereits an Woods achttägiger Tour durch das Kosovo teilgenommen. Zu ihnen gehört die pensionierte Immobilienanalystin Elizabeth Balsom. Anders als sie ist der 24 Jahre alte Student Ben Forrest nicht mit den Hintergründen vertraut und hat noch keine Erfahrungen auf dem Gebiet gesammelt. „Bei manchen Fragen konnte ich ehrlich gesagt nicht mehr ganz folgen“, gibt er zu.

Und es wird noch verwirrender. Als die Geschichtsstunde vorbei ist, machen wir uns zu den Büros von Stewarts Unternehmen Seven Investment Management auf. Der Senior Portfolio Manager Chris Darbyshire macht uns mit der Verbriefung bekannt, dem Prozess, in dessen Verlauf die Sub-Prime Hypotheken in Pakete zusammengeschnürt und als Anleihen verkauft wurden, zuerst in kleinen Gruppen von Immobilien aus einzelnen Ländern, dann gebündelt, in einem Amerika-weiten Finanz-Glückstopf namens Collateralised Debt Obligations (CDOs). Diese wurden dann im Anschluss weltweit verkauft.

Besuch bei Ernst & Young

Nach dem Vortrag über CDOs gibt es erst einmal ein nobles Mittagessen im Coq D'Argent – allerdings in Verbindung mit einem weiteren Vortrag: Die Wirtschaftsjournalistin Kate Walsh erzählt uns etwas über diejenigen, die die Medien als die Sündenböcke ausgemacht haben, was sie allerdings für „kompletten Unsinn hält“

Schließlich überqueren wir die Themse und besuchen die Firma Ernst & Young, um dort einen der führenden britischen Experten für die Regulierung der Finanzmärkte zu treffen. Der frühere Abteilungsleiter bei der Financial Services Authority, John Liver, ist sowohl Partner bei Ernst & Young als auch Vorsitzender von dessen internationalem Team für Reformen zur Regulierung. Er liefert uns einen kondensierten und offenen Bericht darüber, was sich seiner Meinung nach alles ändern müsste: „Wir befinden uns mittlerweile in einer Situation, dass die Steuerzahler die Bankenindustrie mit wahrscheinlich 15 Billionen Dollar unterstützt haben, wahrscheinlich über eine Billion davon in Großbritannien. Es ist jetzt kein öffentliches Geld mehr da. Also müssen wir etwas anders unternehmen. Etwas anderes wären radikale Veränderungen in der Industrie der Finanzdienstleistungen.“

In Lichtgeschwindigkeit geht Liver eine Liste anstehender Reformen durch: Derivate sollen transparenter werden, Schutzmaßnahmen gestärkt, Institutionen entflochten, so dass sie pleite gehen können, ohne auch die anderen zu Fall zu bringen. Er endet mit einem zuversichtlichen Ausblick. „In drei Jahren wird die Branche sich im Vergleich zu vor zwei Jahren gehörig verändert haben.“

Die Tour ist zu ende. Zurück auf der Straße sind wir ein wenig besser informiert, wenn auch ebenfalls ein wenig erschlagen. Ich frage Wood, welche politischen Safaris er in Zukunft plant. „Ich möchte eine Tour machen, die einen Blick auf die Ausgabenkürzungen und deren Auswirkungen wirft. Nehmen Sie Städte wie Birmingham und Cardiff, die extrem stark von Transferleistungen abhängen. Wir werden hier Kürzungen durchgesetzt? Bei allen unseren Touren – das hier ist die einzige Ausnahme – gehen wir zu den Leuten und fragen sie, wie sie leben.“

Das dürfte heute nicht jedermanns Vorstellung von Spaß entsprechen. Ob das gut ist oder schlecht – hinterher empfinde ich für die Banker mehr Sympathie. Wenn an den Regeln des Spiels herumgefriemelt wurde, kommt es einem blöd vor, die Spieler zu hassen.

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Übersetzung der gekürzten Fassung: Holger Hutt
Geschrieben von

Tom Meltzer | The Guardian

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