Wer kurz vor Sonnenaufgang am schlammigen Ufer des Copal Urco steht, kann leicht verstehen, warum der Amazonas Legenden gebiert. Der gewaltige Fluss zieht in der Dämmerung fast unsichtbar vorbei. Das Sirren der Insekten dringt aus der undurchlässigen Dunkelheit des Waldes. Wenn der Tag beginnt, wird die Luft feucht und schwer – die Dunkelheit lässt riesige, dicht bewachsene Bäume hervortreten. Doch auch das intensivste Licht schafft es nicht, besonders weit in den Dschungel vorzustoßen. Das Blattwerk schiebt sich wie ein Wall vor ein undurchdringliches Reich.
Hier finden Legenden ihren Ursprung, man erzählt von altertümlichen, aus Stein erbauten Städten voller Schätze – von Geistern, die auf ein Pfeifen reagieren. Von weißen Stämme, die auf schiffbrüchige Eroberer zurückgehen. Von all diesen Sagen hält sich am beharrlichsten jene von den „Unberührten“, den Gemeinschaften isolierter Nomaden, die tief im Regenwald immer noch wie ihre Vorfahren vor Jahrhunderten völlig abgeschnitten von der modernen Welt leben sollen .
Ein flüchtendes Wesen
In der Umgebung des Fischerdorfes von Copal Urco hatten einige dieser Eremiten vor Jahrzehnten während des gewaltigen Kautschuk-Booms flüchtigen Kontakt mit der Außenwelt, zogen sich dann aber verängstigt, abgestoßen und abgewiesen wieder zurück. Seither hätten sie ihre Spuren erneut verwischt, sagt das Oberhaupt des Dorfes, der 38-jährige Roger Yume: „Wir haben die Zeichen gesehen – Fußabdrücke, Schneisen in den Büschen, hin und wieder der kurze Blick eines flüchtenden Wesens. Es gibt keinen Zweifel: Sie existieren, unsere Brüder existieren.“
Wird das Leben isolierter Stämme in Brasilien und Ecuador allgemein anerkannt, so lacht die Regierung in Lima über die Behauptung, es gäbe solche prähistorischen Phänomen auch im peruanischen Teil des Amazonas. Präsident Garcia behauptet, die „Figur des eingeborenen Dschungelbewohners“ sei eine Finte, um zu verhindern, dass diese Gebiete erschlossen würden. Daniel Saba, einst Präsident der staatlichen Ölgesellschaft Perus, hat noch mehr Spott parat: „Es ist absurd zu glauben, es gebe isoliert lebende Stämme, wenn die noch niemand gesehen hat. Wer also sind diese Isolierten, von denen die Leute reden?“
Eine hochaktuelle Frage. Zum Staatsgebiet Perus gehören 70 Millionen Hektar Amazonasregion, deren Ausmaß nur von Brasilien übertroffen wird. Fast drei Viertel des Regenwaldes sind bereits für Öl- und Gasprojekte parzelliert. 56 der 64 Parzellen entstanden nach 2004. „Den peruanischen Amazonas überrollt eine Welle der Erschließung von Kohlenwasserstoffen“, sagt Matt Finer, Co-Autor einer Studie über Öl- und Gasprojekte, die von der Duke University und der Organisation Save America‘s Forests in Auftrag gegeben wurde.
Ölförderung ist kein feinsinniges Unterfangen. Man braucht Helikopter, Lastzüge, Bohr-Plattformen, Schächte, Pisten und Pipelines. Die Technik ist heute zwar umweltfreundlicher, trotzdem werden Gewässer verschmutzt, Tiere verschreckt, Regionen entvölkert. Die Arbeiter bedrohen die indigenen Stämme mit Krankheiten, gegen die es für Eingeborene keine Abwehrkräfte und keine Immunität gibt. Vor Jahrhunderten löschten die von den spanischen Eroberern ins Land geschleppten Infektionen große Teil der indigenen Bevölkerung Lateinamerikas aus – Missionare, Wissenschaftler und Journalisten bewirkten in jüngster Zeit Ähnliches, oft mit tödlichen Folgen für abgeschottete Gemeinschaften.
Nachdem Ölarbeiter Mitte der achtziger Jahre in das Territorium der Nahua vorgestoßen waren, starb nachgewiesenermaßen über die Hälfte des Stammes. „Wenn Unternehmen in ihre Gebiete eindringen, ist es wahrscheinlich, dass sie die Indianer völlig ausrotten“, sagt Steven Corry von der Lobby-Gruppe Survival International.
Die Ölfirmen räumen selbst ein, ihre Präsenz habe ernsthafte Folgen für indigene Stämme. Die Frage ist daher: Gibt es da wirklich noch welche? Wenn ja, müsste nach den Gesetzen Perus die Ölförderung eingestellt oder zumindest erheblich eingeschränkt werden. Dies freilich würde die Hoffnungen auf den großen Geldsegen begraben, der einem 28-Millionen-Volk helfen soll. Anthropologen halten den Verzicht darauf für einen geringen Preis, um ein reiches Mosaik menschlicher Lebensformen zu erhalten.
Viel Gerede, kein Beweis
Ein Schauplatz dieses existenziellen Kampfes befindet sich auf Parzelle 67, einem Territorium im nordewestlichem Maranon-Becken, das die Ölfelder Paiche, Dorado und Pirana umfasst, auf denen man 300 Millionen Barrel Öl zu fördern hofft – ein geologischer und kommerzieller Hauptgewinn. Der Eigentümer – die britisch-französische Gesellschaft Pereno – plant Investitionen von zwei Milliarden Dollar, um von zehn Plattformen aus 100 Ölbohrungen vorzunehmen. Es gab umfangreiche seismische Tests, die Bohranlagen stehen, Schleppzüge warten auf die ersten Fässer mit Rohöl.
Für niedergelassene indigene Gemeinschaften wie die in Copal Urco steht fest, dass dies für ihre „verborgenen Brüder“ den Tod bedeutet. Sie sagen, es gäbe noch drei isolierte Stämme auf dem Fördergebiet von Pereno – die Pananujuri, die Taromenane und die Trashumancia. Der Verband der Indigenen Perus schätzt ihre Zahl auf etwa 100 Menschen. Geschichten über sie werden entlang des Flusses Napo weitergetragen, etwa durch den 22-jährigen Denis Nantip, der erzählt, sein Onkel habe 2004 eine Gruppe von ihnen getroffen. „Tief im Inneren des Waldes badeten sie im Fluss und merkten plötzlich, dass sie angestarrt werden. Sie trugen Speere, an Schnüren befestigte Blätter bedeckten ihre Genitalien.“ Den Eindringlingen geschah nichts, aber sie wagten es nie wieder, in diesen Teil des Waldes vorzudringen.
Wie die peruanische Regierung spricht auch Pereno von Gerüchten und Legenden, die von Leuten in die Welt gesetzt würden, die sich ökonomischer Vernunft widersetzen. „Diese Geschichte gleicht der vom Ungeheuer in Loch Ness, viel Gerede, kein einziger Beweis“, meint Rodrigo Marquez, Perenos Regionalmanager für Lateinamerika. „Wir haben detaillierte Untersuchungen angestellt, um herauszufinden, ob es noch isolierte Stämme gibt. Wenn ja, wäre dies eine äußerst ernsthafte Angelegenheit, doch fehlt jeglicher Anhaltspunkt.“
Ein Team aus Anthropologen, Biologen, Historikern, Archäologen und Forstwirten hat Parzelle 67 durchkämmt. Sie hielten nach Fußabdrücken, Behausungen, Speeren, Tierfallen und Flecken bebauten Landes Ausschau. Sie befragten den Stamm der Arabella, der erst nach 1940 mit der Außenwelt in Kontakt geriet, ob sie Spuren bemerkt hätten. Sie suchten in Sprachmustern und Geschichten der Arabella nach Hinweisen. Ergebnis: negativ. Kein zwingender Beweis, keine eindeutigen Anhaltspunkte. Ein Report kommt zu dem Schluss: Wenn es in diesem Gebiet je isolierte Stämme gegeben habe, seien die längst ausgestorben oder nach Ecuador weitergezogen. Für das Ölgeschäft fällt damit die letzte Barriere auf dem Weg nach Parzelle 67, den zu gehen nach Ansicht der Regierung des Präsidenten Alan Garcia von nationalem Interesse ist. Sollte es die unberührten Stämme doch geben, werden sie nun endgültig verschwinden und in die Legenden des Amazonas eingehen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.