Die wahren Schätze

Island Kein Land hat sich tiefer in die Finanzkrise verstrickt. Nun beginnen die Isländer, das einfache Leben wieder zu genießen und entdecken die kleinen Fischerorte im Norden

Island war immer schon früh dran. Sein Parlament ist das älteste der Welt, und das Land hatte als allererstes ein weibliches Staatsoberhaupt. Wasserstofftankstellen, Iphones oder in der Mikrowelle aufbackbares Popcorn – all diesen Meilensteinen des technischen Fortschritts bin ich erstmals in Rejkjavik begegnet. Und im Laufe der knapp 30 Besuche im Land der Familie meiner Frau habe ich gelernt, dass Isländer nie halbe Sachen machen und auch nie etwas allein tun. So kaufen sich etwa auf einmal sämtliche Familien Islands ein Sommerhaus oder ein elektrisches Fußbad. Eines schönen Augusttages etwa sah ich ein paar tätowierte Fußgelenke in einem Swimming-Pool planschen, bereits am folgenden Tag hatte sich offenbar nahezu jeder volljährige Isländer unter 25 unter die Nadel begeben. Jedenfalls schien es mir so.

Es überraschte mich, dann zu sehen, wie Island sich unter Ellbogen-Einsatz an die Spitze des Banken-Booms kämpfte, obwohl bestimmt nicht jeder Isländer sich an den finanziellen Abenteuern seines Landes beteiligte. Dennoch klommen die Isländer zusammen in ungeahnte Höhen. Als die Finanzblase zerplatzte, wurden auch alle gemeinsam auf die Klippen geschleudert.


Die Hauptstadt Rejkjavik, in der fast zwei Drittel der isländischen Bevölkerung leben, profitierte gewaltig von dem Wirtschaftsboom. Ging man aber an den gesichtslosen Glasblocks entlang, die an der Seeseite der Stadt aus dem Boden schossen und nun den netten alten Townhouses dahinter den Platz raubten, hatte man den Eindruck, einer Stadt dabei zuzusehen, wie sie ihre Seele verkauft. Auf einmal gab es mehr schwarze Range Rover als Volvos und die nachbarschaftliche Legoland-Atmosphäre, die das Land ausgemacht hatte, machte etwas Protzigem irgendwie Düsterem Platz.

Die neuen Einkaufszentren stehen leer

Als ich Anfang August vom Keflaviker Flughafen in die Stadt fuhr, sah ich riesige neue Einkaufszentren auf leere Parkplätze herabsehen. In den neu errichteten Gebäuden trugen alle Fenster noch die weißen Kreuze aus Klebeband, die sie beim Transport erhalten, um nicht so leicht kaputt zu gehen. Jahrelang bekam ich für mein britisches Pfund zwischen 90 und 120 Kronen, am Flughafen entdeckte ich, dass es nun 211 wert war. Ich wusste, dass die Bankenkrise die Ersparnisse der Isländer vernichtet hatte und in der Tundra nun Schulden und Arbeitslosigkeit grassieren. Nach all den Jahren, in denen man für ein Glas Bier sechs Pfund bezahlen musste, fiel es mir dennoch äußerst schwer, bei meiner Ankunft am Flughafen nicht in einem Freudentanz auszubrechen. Ein Werbe-Slogan kam mir in den Sinn: „Wir haben uns ruiniert, damit ihr euch nicht ruinieren müsst.“ Aber das erzähle ich meinen Schwiegereltern wohl besser nicht.

Früher konnten Touristen es sich nicht leisten, lange in Island zu bleiben. Die meisten beschränkten sich auf eine hippe und hedonistische Städtereise mit ein, zwei Nächten in Rejkjaviks viel gepriesenen Clubs und Bars. Man hatte gute Chancen, den Popstar Jarvis Cocker oder Blur-Sänger Damon dabei beobachten zu können, wie sie sich in den Schnee übergaben. Ich fand immer, dass man bei derartigen Reisen das Charakteristische an Island verpasst. Das Land ist voller kraftvoll-majestätischer Aussichten über sich rau und brutal erstreckende Landschaften von Tolkin'scher Stärke: Gipfel, die noch nie jemand erklommen hat. Einsame, donnernde Wasserfälle. Lava-Felder, die so groß sind, dass sie den ganzen Horizont umspannen. Eiswüsten und Gletscher, auf denen die Menschheit noch keine Spuren hinterlassen hat. Eine unfertige Ecke des Universums, wie ein viktorianischer Reisender sich einmal auszudrücken pflegte.

Der Besucher kann sich mehr Zeit nehmen

Jetzt kann der Besucher sich einen gemächlicheren Aufenthalt in Island leisten. Ich empfehle, sich von der Hauptstadt und ihren geisterhaften Vororten zu entfernen. Der Anblick der an den nationalen Leichtsinnigkeit erinnernden Stätten aus dunkel getöntem Glas und Aluminium verursacht Übelkeit – ein übler Kater nach dem großen Rausch. Die ernüchterten Bewohner können sich glücklich schätzen, einige der weltweit großartigsten Landschaften gleich vor der Haustür zu haben. Egal, ob man sie in einem Bogen umfährt oder mit dem Flugzeug über die völlig unbewohnte Mitte der Insel hinwegfliegt – immer gibt es zwischen Rejkjavik im Südwesten und dem kleinen Fischerdorf Dalvik im Norden, Wildnis zu bestaunen, die nicht von dieser Welt zu sein scheint.

Das von Bergen umgebene , auf einen tiefen kalten Fjörd hinausblickende Darvik ist typisch für die spärlichen Siedlungen entlang der Küste. 1.500 Einwohner leben in hellen, modernen Häusern aus Holz und Beton und arbeiten entlang einer rein funktional ausgerichteten Uferfront voller Einkaufszentren und Fischkutter. Die Hauseinfahrten weisen durch die harten Winter Risse auf, der Rasen der Vorgärten ist nach einem Tag mit 20-stündiger Sonnenbestrahlung und vereinzelten Schauern schreiend grün. Die wichtigste öffentliche Anlage ist das geothermisch beheizte Schwimmbad, in dem die Einheimischen plauschen und glucksen, während sie bis zum Nacken in dampfenden Freiluft-Zubern sitzen.

Wenn man die leicht nach Kabeljau riechenden Straßen entlanggeht, fällt es einem nicht schwer, sich vorzustellen, all der verrückte Bankenkram habe sich nie ereignet. Dies ist eine glückliche, prosperierende, kollektivistische Gemeinde mit alteingesessenen Menschen, die althergebrachten Berufen nachgehen: Ein ehrlicher Tag harter Arbeit beim Fischen auf dem Meer für einen ehrlichen Tageslohn.

Der kleine Fischerort ist auf einmal überlaufen

Dalvik ist all das, was Rejkjavik nicht ist – womit sich wohl teilweise erklären lässt, warum das alljährlich stattfindende Fischfestival auf einmal zu einem Phänomen von nationaler Bedeutung geworden ist. Im vergangenen Sommer, als die Banken kollabierten und die Krone den Sinkflug antrat, sahen die Organisatoren erstaunt, wie sich 30.000 geschockte Isländer in ihrem kleinen Ort zusammendrängten. Am ersten Augustwochenende dieses Jahres unternahm mit 40.000 Menschen sogar ein Achtel der gesamten Bevölkerung diese Pilgerreise.

In einer Hinsicht ist die plötzliche Beliebtheit des Fischfestivals schierer ökonomischer Notwendigkeit geschuldet. Nur sehr wenige Isländer können sich gegenwärtig leisten, ins Ausland zu fahren und wenn sie Urlaub im eigenen Land machen, können wenigstens einmal all die Wohnwagen zum Einsatz kommen, die tausende von ihnen in einem dieser Schübe massenhafter Kaufhysterie auf Raten gekauft hatten. Und auch das Selbstverständnis des "Großen Fischtages" übt nun eine gewisse Anziehungskraft aus. „Ich mag diese Festivals nicht, bei denen deine Kinder dir die ganze Zeit am Rockzipfel zerren und Geld haben wollen, um Karusell zu fahren , sich Süßigkeiten oder einen Luftballon zu kaufen“, sagt der gutgelaunte Organisator des "Großen Fischtages", Julius Juliusson. „Bei uns lautet die oberste Regel, dass alles kostenlos ist – das Essen, die Karusells, die Shows ...“ Der Mann hat ein Denkmal verdient.

Auf einer tieferen, sozialpsychologischen Ebene kommen die Menschen an diesen nostalgischen Ort, um aus den traditionellen Werten, die beim Fischfest zum Ausdruck kommen, Trost zu schöpfen und sich neue Anregungen zu holen. Dalvik verkörpert das traditionelle Island: Egalitär, wohlhabend, ohne protzig zu sein – und mariniert in Omega-3. Fisch stellt immer noch 40 Prozent der nationalen Exporte dar und da das Land die am besten verwalteten Fischereien Europas sein eigen nennt, hofft es sogar noch auf einen stetigen Zuwachs.

Spaß haben und Fisch essen

Aber Juliusson ist viel zu aufgeregt, um dieses große Fest in einem sozio-kulturellen Kontext zu betrachten oder auch nur die vielen örtlichen Sponsoren zu würdigen. „Ich will hier nichts und niemanden promoten. Hier geht es lediglich darum, dass Leute zusammenkommen, Spaß haben und Fisch essen!“

Und das tun sie. Das ganze Wochenende trägt die Atmosphäre eines familienfreundlichen Raves mit einer kulinarischen Verpflegung, die an ein biblisches Wunder gemahnt. Freitagabend geht es damit los, dass alle sich auf dem Fußballplatz unterhaken. Anderswo würden die Leute vor so etwas sicher zurückschrecken, nicht aber hier. Die Menschen sind verunsichert und suchen den Zusammenhalt, außerdem ist auf Island ohnehin jeder mit jedem verwandt, wenn man zehn Generationen zurückverfolgt. Nach der Eröffnung marschieren mehrere tausend Besucher gemeinsam in die Stadt und verteilen sich auf die fünfzig Haushalte, die sich freiwillig dazu bereit erklärt haben, ihnen Fischsuppe zu servieren, für sie zu musizieren und ihre Kinder auf die Toilette zu lassen. Es ist eine außerordentliche Zur-Schau-Stellung gemeinschaftlichen Stolzes, gegenseitigen Vertrauens und Großzügigkeit.

Walfleisch-Sushi und Wikinger-Starrsinn

Am Samstag gibt es wieder Live-Musik, Volkstanz und natürlich noch mehr Fisch. Ich greife mir ein Stück aufgespießtes Sushi und gebe es meiner jüngsten Tochter zu essen. Die Dame in der weißen Schürze, die hinter dem Tisch steht, klärt mich daraufhin darüber auf, dass es sich bei dem Sushi um Walfleisch handelte.

Einerseits behauptet zwar niemand, dass der Minkwal, den ich gerade an meine Tochter verfüttert habe, zu den bedrohten Arten gehört – konservative Schätzungen gehen davon aus, dass seine Population allein in der Nordsee 90.000 Exemplare beträgt und Island hat 2007 nur 37 von ihnen gefangen. Andererseits frage ich mich, warum man diese Tiere überhaupt fangen muss. Neben der Fischerei und der Stromerzeugung ist der Tourismus einer der wenigen Wege, die Island den Weg von dem riesigen Schuldenberg weisen könnten. Das Harpunieren von Greenpeace-Pin-Ups ist da nun wirklich nicht, was sich das Fremdenverkehrsamt erträumt und die Nachfrage nach Walfleisch auf dem Weltmarkt ist auch alles andere als groß.

Hier kommt der alte Wikinger-Starrsinn zum Vorschein, der den Nationalcharakter der Isländer immer noch in den verschiedensten Schattierungen durchzieht. Schlechte Nachrichten für die Krisenmanager des internationalen Währungsfonds: Diese Leute hassen es wirklich, gesagt zu bekommen, was sie tun sollen.

Den ganzen Vormittag hindurch streifen die angereisten Stadtbewohner durch den mit Wohnwagen vollgestopften Hafen. An alle Errungenschaften des technischen Fortschritts gewöhnte Paare im mittleren Alter, die so etwas mit Sicherheit noch nie gesehen haben, betrachten einen Seeteufel und denken sich dabei wohl: Okay, es ist nicht sexy, es ist auch nicht von Nokia oder einem anderen Markenhersteller, aber wenigstens ist es eine wirkliche Ware, die man an echte Menschen verkaufen kann – und nicht nur ein Stück Papier, welches einem Optionen auf an den Kurs des Yen-geknüpfte Derivate sichert.

Zum Abschluss der Veranstaltung versammeln sich die 40.000 Besucher am Meer und bewundern ein ohrenbetäubendes, verschwenderisches Feuerwerk. Auch zu Sylvester 2007, als die Bankenblase kurz vorm Platzen ihre größte Ausdehnung erreicht hatte, jagte das Land über eine Megatonne Feuerwerkskörper in die Luft und verpulverte in einer halben Stunde 10 Millionen Pfund. Aber statt mit Scham und Stille zu reagieren, bringt die Menge nun mit einem minutenlangen Jubelgeschrei ihr starkes Wir-Gefühl zum Ausdruck. Vereint in der Bewunderung des leuchtenden Spektakels. Man muss wirklich den Hut vor den Isländern ziehen. Sie können es sich zwar nicht mehr leisten, lassen es aber immer noch krachen!

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Übersetzung der gekürzten Fassung: Holger Hutt
Geschrieben von

Tim Moore, The Guardian | The Guardian

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