Hashem al-Souki sitzt in der kleinen Bibliothek von Skinnskatteberg, als ihm bewusst wird: Es sind nun sieben Monate vergangen, seit er nach Schweden kam, und er wartet immer noch darauf, zu erfahren, ob sein Antrag auf Asyl bewilligt wird. Mit jedem Tag wächst der Zweifel, ob das, was er anfangs für eine Formalität hielt, vielleicht niemals passieren wird. Nun scheinen sich seine Ängste zu bestätigen. Sollte sich alles, wofür er immer wieder gebetet hat, in Rauch auflösen? Er ist in Sicherheit. Die Familie ist es nicht, seine Frau und die drei Kinder sind in Ägypten auf sich allein gestellt.
So hatte Hashem sich das nicht vorgestellt, als er Syrien verließ. Der Krieg trieb ihn von einer Stadt in die nächste. Im Juni 2013 gelang ihm, zusammen mit seiner Frau Hayam und den kleinen Söhnen Osama, Mohammed und Milad, die Flucht nach Ägypten. Doch war in der postrevolutionären Gesellschaft dort an ein geregeltes Leben nicht zu denken. Im April 2015 begab sich Hashem in die Hände von Schleusern und setzte per Boot nach Italien über. Zwei Wochen später erreichte er Schweden und hofft seither auf Asyl.
Allein in der Bibliothek sitzend, schreibt er an einen Freund: „Leider sind meine Träume geplatzt.“
Sieben Monate zurück. Anfang Mai 2015 ist Hashem gerade in Südschweden angekommen und voller Zuversicht. Er besteigt einen Zug Richtung Norden und verbringt den Abend mit seinem Schwager Ehsan, der bereits ein Jahr zuvor nach Schweden kam. Am nächsten Tag setzt ihn Ehsan in den Zug nach Gävle, der nächsten Stadt mit einem Büro der Einwanderungsbehörde, die in Schweden „Migrationsverket“ heißt.
„Hallo“, sagt Hashem zu dem Wachmann, als er dort ankommt. „Ich bin Syrer. Ich bin Flüchtling.“ Der Mann lächelt. „Willkommen.“ Er bringt Hashem zu einer Frau, die ihn aufnimmt und ihm den Schlüssel für ein Zimmer aushändigt. Später schickt man ihn in einem Bus auf die Reise in seine Dauerunterkunft. Das Fahrzeug gleitet ruhig durch die Landschaft, vorbei an Feldern, Seen und tiefen Wäldern. Hashem ist verblüfft, dass alles so entspannt wirkt, wenige Autos unterwegs sind und es überall schön grün ist. So etwas hat er noch nie gesehen. Das gilt auch für das Dorf, in dem er Stunden später ankommt. Es heißt Skinnskatteberg, ein kleiner, abgelegener Ort mit gut 4.000 Einwohnern, 160 Kilometer nordwestlich von Stockholm. Nicht gerade der Platz, an dem man 70 verängstigte Ausländer für gewöhnlich einquartiert, nur ist der Andrang so groß, dass die Behörden kaum noch Häuser finden, um Neuankömmlinge unterzubringen. Das provisorische Domizil, ein ehemaliges Hotel, ist das Beste, was sie für Hashem und die Gruppe, mit der er gekommen ist, finden konnten. Vor dem Haus gibt es eine Rasenfläche, auf der ein paar Stühle herumstehen. Dahinter beginnt ein leicht abschüssiger Wald. Wenn man vor die Tür tritt, eröffnet sich der Blick auf Skinnskatteberg und die Spitze einer weißen Kirche.
Allein am See
Seitdem er im Gefängnis gefoltert wurde, hat Hashem mit Symptomen des Posttraumatischen Belastungssyndroms (PTSD) zu kämpfen, also versucht er in Skinnskatteberg, den Mitarbeitern der Einwanderungsbehörde sein Problem auf Arabisch zu erklären. Ohne Dolmetscher verstehen sie ihn nicht. Hashem ist es peinlich, weiter auf sie einzureden. Ohnehin müssen die Betreuer Skinnskatteberg wieder verlassen. Sie werden erst in einer Woche zurück sein. Für die nächsten Tage sind die Bewohner auf sich allein gestellt.
Immerhin hat Hashem nun einen Ort, an dem er leben kann und der ihm sympathisch ist. Am südlichen Ende des Dorfes entdeckt er einen See und genießt es, an dessen Ufer entlangzuwandern. Es gefällt ihm, dass man am Himmel keine Kampfjets hört. Was das angeht, könnte er nicht weit genug von Syrien entfernt sein.
Dann sind die Leute von der Einwanderungsbehörde wieder da. Hashem geht in den Speisesaal, um sich zu erklären. Wieder fehlt ein Dolmetscher, wieder versteht ihn niemand. Hashem ist der Hölle Syriens entkommen und fühlt sich plötzlich auch hier ins Fegefeuer geraten. Nach vier Wochen kann er seine Krankheit erklären und wird verstanden.
Die Nachrichten vom Rest der Familie in Ägypten klingen beängstigend. Für Kairo hat das UN-Flüchtlingshilfswerk die Beihilfen gekürzt. Hashems Frau kann zwar als Arabisch-Lektorin an einer Schule für syrische Flüchtlinge arbeiten, doch reicht der magere Lohn nicht zum Leben. Für Migranten kann Kairo zum Spießrutenlauf werden. Die Fremdenfeindlichkeit, die 2013 einen Höhepunkt erreicht hat, ist verebbt, aber wie eine Ausgestoßene fühlt sich Hashems Frau trotzdem und hat Angst, für längere Zeit das Haus zu verlassen.
Seit die Leute vom schwedischen Migrationsverket wissen, was mit Hashem passiert ist, haben sie ihm ein eigenes Zimmer besorgt. Langeweile und Einsamkeit werden so eher verstärkt. Die mündliche Befragung, die über seinen Asylstatus entscheidet, ist für Ende August angesetzt. Hashem zählt die Tage. Am See gibt es einen Stein, den er oft besucht. Dann setzt er sich für ein paar Minuten, blickt über das Wasser und denkt über sich nach.
Die Zeit will nicht vergehen, bis eines Tages ein paar Leute aus dem Dorf anfangen, im Gemeindesaal Schwedisch zu unterrichten. Kein offizielles Programm. Ein paar Rentner haben beschlossen, etwas zu unternehmen. Hashems Lehrerinnen, Kerstin und Eva, gaben zuvor noch nie Schwedisch- Unterricht, etwas unsystematisch fallen ihre Stunden aus, doch geht es dabei um so viel mehr als Sprache.
Besonders mit Kerstin freundet sich Hashem an. Sie ist schon etwas gebrechlich und lebt allein in einem Holzhaus am Wald. Er repariert ihren Computer und wird nach dem Unterricht regelmäßig zu Tee und Zimtschnecken eingeladen. Ein Haus wie das von Kerstin hat er noch nie gesehen. In einem Zimmer steht ein gigantischer Webstuhl, in einem anderen ein Tisch aus dem 17. Jahrhundert und ein aus einem Wagenrad gefertigter Lampenschirm. Hashem fühlt sich durch und durch willkommen.
Endlich steht der Tag des Gesprächs bevor. Hashem ist nicht nervös – er ist aufgeregt. „Morgen ist mein Schicksalstag“, sagt er zu Kerstin. Er duscht und rasiert sich, stellt den Wecker, doch das erweist sich als unnötig. Am nächsten Morgen ist er schon früh wach und hat reichlich Zeit. Den Bus kurz vor sieben wird er auf keinen Fall verpassen. Hashem nutzt die Fahrt, um seine Gedanken zu sortieren. Er will das, was ihm widerfahren ist, so gut wie nur irgend möglich schildern. Er geht in Gedanken alles noch einmal durch. Was ist alles passiert, seit er Syrien verlassen hat?
Wartenummer 806
In Västerås, im Büro der Einwanderungsbehörde, trifft er seinen Sachbearbeiter, der ihm über einen Dolmetscher Fragen stellt. Woher in Syrien kommt er? Kann er die Gegend näher beschreiben? Wie war er vom Krieg betroffen? War er jemals politisch aktiv? Warum ging er weg? Die Fragen sind entschieden, aber respektvoll.
Am Tag darauf sieht Hashem in Skinnskatteberg auf der Website der Behörde nach, ob sein Fall schon entschieden wurde. Er tut das von nun an jeden Morgen. Er weiß zwar, dass es bestimmt ein paar Wochen dauert, aber nachsehen kann schließlich nicht schaden. Nach ungefähr einem Monat beginnt es wehzutun. Jedes Mal, wenn er sich einloggt, ist sein Status unverändert. Als der September zu Ende geht, beginnt er sich große Sorgen zu machen. Wurde ihm nicht geglaubt?
In diesem Herbst kommen mehr Flüchtlinge nach Europa als jemals zuvor. Schweden nimmt nach wie vor einen überdurchschnittlich großen Anteil auf. Die Plätze in den Flüchtlingsunterkünften werden knapp, während Oppositionspolitiker die Politik der offenen Tür beenden wollen. Die Regierung scheint die Nerven zu verlieren und kündigt an, 2016 keine dauerhaften Aufenthaltsgenehmigungen mehr zu erteilen und den Familiennachzug einzuschränken. Als Hashem in der Bibliothek davon erfährt, dreht sich alles um ihn. Wird sein Fall noch rechtzeitig entschieden? Er befürchtet das Schlimmste. Fast reflexhaft starrt er auf die Seite der Einwanderungsbehörde: vor dem Frühstück – nichts; nach dem Frühstück – immer noch nichts; vor dem Mittagessen, nach dem Mittagessen ...
Ende Oktober ist er in den Gemeindesaal zum Schwedisch-Unterricht unterwegs. Vorher checkt er noch schnell die Seite: weiterhin nichts. Während der Kaffeepause holt er sein Smartphone erneut heraus, gibt den Zugangscode ein und überfliegt die Seite. Er traut seinen Augen nicht und sieht erneut auf das Display. „Antragsstatus“, steht da auf Arabisch. „Ihr Antrag auf Aufenthalt und das Recht zu arbeiten, auf Staatsbürgerschaft oder Asyl ist bei uns eingegangen.“ Er scrollt weiter zum nächsten Absatz. „Die schwedische Einwanderungsbehörde hat bezüglich der Bewilligung oder Ablehnung Ihres Antrags eine Entscheidung getroffen.“ Das ist alles. Nichts, was erklären würde, wie die Entscheidung ausfiel. Nichts, woraus sich ersehen ließe, ob sein Fall einer der ersten ist, die nach den restriktiveren Vorgaben behandelt wurden, oder einer der letzten war, bei denen noch alte Standards galten. Es ist eine Entscheidung gefallen, mehr erfährt er nicht.
Hashem muss zum Migrationsverket in Västerås, um zu erfahren, ob er feiern oder verzweifeln soll. Also steht er erneut in der Dunkelheit und wartet auf den Bus. Während der Fahrt sitzt er still, hofft und betet. Obwohl er noch eine ganze Stunde Zeit hat, beeilt er sich, so schnell wie möglich zum Migrationsverket zu gelangen, wo noch niemand da ist. Hashem geht umher. Setzt sich, um zu rauchen. Als er zurückkommt, bleibt noch immer eine halbe Stunde Zeit. Die Angst steigt wieder in ihm hoch. Warum hat die Bearbeitung seines Antrages so lange gedauert? Vielleicht erhält er keine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis. Wenn sie befristet ist, kann er sicher keinen Antrag auf Familiennachzug stellen. Dann wäre alles umsonst gewesen: der Weg übers Mittelmeer, quer durch Europa.
Es ist nach neun – jetzt sollte das Amt eigentlich öffnen, doch die Türen bleiben verschlossen. Hinter ihm wächst die Schlange der Wartenden. Hashem fröstelt, sein Herz rast. Noch Minuten, dann weiß er, ob Schweden eine Zukunft ist.
Endlich öffnet sich die Tür und die Menschenmenge strömt ein. Hashem zieht ein Ticket – Nummer 806 – und ist einer der Ersten, die aufgerufen werden. Die Frau hinter dem Tresen grüßt ihn nüchtern und schiebt ihm einen Umschlag zu. Er reißt ihn auf, holt eine Karte heraus und starrt ungläubig auf das, was da steht. Zweieinhalb Jahre nach seiner Flucht aus Syrien und sieben Monate, nachdem er die Fahrt über das Mittelmeer überlebte, liest er endlich die Worte, auf die er so lange gewartet hat: „Permanent uppehällstillständ“ – „dauerhafter Aufenthalt“.
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