Diesen Prozess kannst du nur verlieren

Erbe Kafka hätte seine Werke am liebsten verbrannt gehabt. Das geschah nicht. Der Streit um seinen Nachlass will nicht enden
Ausgabe 12/2019
Manuskript des Romans „Der Prozess“ von Kafka
Manuskript des Romans „Der Prozess“ von Kafka

Foto: Imago/CTK Photo

Als der an Tuberkulose erkrankte Franz Kafka 1924 auf dem Sterbebett liegt, schreibt er an seinen besten Freund Max Brod. Die Zeilen werden eine Art Testament („... vielleicht stehe ich dieses Mal doch nicht mehr auf“). Kafka nennt darin die wenigen Texte, die seiner Meinung nach „Bestand haben“, unter anderem Das Urteil und Die Verwandlung. „Dagegen ist alles, was sonst von mir vorliegt (…) ausnahmslos zu verbrennen und dies möglichst bald zu tun bitte ich Dich.“

Die Notiz, die in Kafkas Schreibtisch in der Prager Wohnung seiner Eltern entdeckt wird, in der er bis zu seinem Tod lebte, bringt Max Brod in ein enormes Dilemma. Seit die beiden sich 22 Jahre zuvor während ihres Jurastudiums an der Karls-Universität zum ersten Mal begegnet sind, betrachtet Brod, selbst weithin als literarisches Wunderkind anerkannt, seinen Freund Kafka als die große Mission seines Lebens. Brod hat dessen Einzigartigkeit erkannt – von ihm stammt der Begriff kafkaesk.

„Was mir wichtig war“, sagt Brod später, „war die Sache selbst, einem Freund zu helfen, auch gegen dessen Wunsch.“ Als er Kafkas posthume Anweisung liest, bleibt er dem Werk treu, nicht dem Autor. Brod richtet sich als Nachlassverwalter nicht nach dessen Wunsch, die unvollendeten Manuskripte, Notizbücher und Briefe, die Kafka zurücklässt, zu vernichten. Stattdessen bewahrt Brod sie vor der Vernichtung und löst damit einen Rechtsstreit aus, der sich von seinem Tod im Jahr 1968 fast bis zum heutigen Tag erstreckte – eine Ironie, die der Autor des Prozesses bestimmt verstanden hätte.

Ilse, was willse?

Jetzt hat der Jerusalemer Autor Benjamin Balint diesen Rechtsstreit in einem spannenden Buch aufgearbeitet: Kafkas letzter Prozess,ein enorm gelungener journalistischer Bericht dieses 50 Jahre langen Nachlassdramas. 1939 kann Brod vor der Ankunft der Nazis aus Prag fliehen – in seinem ramponierten Koffer die Manuskripte Kafkas. „Ein Exilant“, bemerkt Brod, „ist ein Flüchtling mit einer Bibliothek.“

Die Bibliothek, die Brod bei sich trägt, enthält alle Angst Kafkas vor den Schrecken, die noch kommen sollten. Brod, der schon lang Zionist ist, reist nach Jerusalem, wo er sich nach dem Krieg der Edition der Schriftstücke widmet, zu denen auch das unvollendete Manuskript des Prozesses gehört. Nach seinem Tod überlässt er alle Papiere Kafkas – einschließlich eines Bündels unveröffentlichter Briefe zwischen dem Schriftsteller und der Liebe seines Lebens, Felice Bauer – seiner Sekretärin, Ilse Ester Hoffe. Freilich ohne Anweisungen, wie mit dem Nachlass verfahren werden soll – was den Rechtsstreit dann auch so kompliziert machen wird. Die Erbin Hoffe lehnt Angebote der Israelischen Nationalbibliothek ab, die wiederum behauptet, Brod habe die Manuskripte dem Archiv der Bibliothek übergeben wollen. Dann ersteht das Deutsche Literaturarchiv in Marbach im Jahr 1988 für eine Million Pfund das Manuskript von Der Prozess, und als Hoffe im Jahr 2007 im Alter von 101 selbst stirbt, laufen gerade die Verhandlungen um den Rest der Sammlung.

Jetzt nimmt der Rechtsstreit so richtig Fahrt auf! Die beiden Töchter Hoffes, Ruth und Eva, erheben Anspruch auf die Manuskripte. Ihre Rechte werden vor dem Nachlassgericht aber von den Staaten Israel und Deutschland durch die Bevollmächtigten ihrer jeweiligen Bibliotheksarchive angefochten. Eva Hoffe, die im vergangenen August gestorben ist, erscheint 2007 zum ersten Mal vor Gericht, um ihr Recht auf die Manuskripte zu verteidigen, muss aber mit ansehen, wie die Richter 2012 und im Berufungsverfahren 2015 gegen sie und zugunsten des Archivs in Jerusalem entscheiden.

Balints Buch beginnt mit dem letzten von Hoffes abgewiesenen Berufungsverfahren im Jahr 2016. Zu diesem Zeitpunkt ist sie 82 Jahre alt und es geht mittlerweile um weitaus mehr als um den Erhalt von Kafkas Notizbüchern. Die gerichtliche Auseinandersetzung umfasst über ein Jahrhundert dramatische, komplizierte, katastrophale deutsch-israelische Geschichte, und es ist eine Auseinandersetzung, in der die Weltliteratur zum Spielball nationaler Interessen gemacht wird.

Sieger scheint es hier keine zu geben. Es kann sie auch gar nicht geben, wenn man die Literatur Kafkas kennt. Wie sagt doch Josef K.s Onkel in dessen unvollendetem, ewig aktuellem Roman: „Einen solchen Prozeß haben, heißt ihn schon verloren haben.“

Info

Kafkas letzter Prozess Benjamin Balint Anne Emmert (Übers.), Berenberg 2019, 336 S., 25 €

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Übersetzung aus dem Guardian: Holger Hutt
Geschrieben von

Tim Adams | The Guardian

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