Doppelte Standards

Libyen Der internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag gibt mit seiner Anklage das Signal zum finalen Schlagabtausch mit Gaddafi. Doch die Beweislage ist eher dürftig

Die Beweislage, die ICC-Chefankläger Moreno-Ocampo für seine Gaddafi-Anklage geltend macht, stützt sich überwiegend auf „Augenzeugen“-Berichte: Von angeordneten Schüssen auf Demonstranten, Artilleriefeuer auf Trauergemeinden, Vergewaltigungen und Folter ist die Rede. Bezweifelt werden muss, ob diese Anschuldigungen für einen Haftbefehl ausreichen. Es ist in der Geschichte des ICC erst das zweite Mal, dass gegen einen amtierenden Staatschef (auch wenn Gaddafi formal dieses Amt gar nicht bekleidet) Anklage erhoben wird. Bisher galt das nur für den sudanesischen Präsidenten al-Baschir, der seit März 2009 per internationalem Haftbefehl verfolgt wird. Auch in den anderen Fällen, in denen das ICC ermittelt, prozessiert oder bereits Urteile gesprochen hat, handelt es sich ausschließlich um Afrikaner. Johan Galtung, Nestor der internationalen Friedensforschung, vermutet dahinter die Fortsetzung kolonialer Tradition: Das Völkerstrafrecht werde einseitig „im Interesse des Westens angewandt“.

Dieser Verdacht erhärtet sich, wenn man die Ermittlungstätigkeit des ICC genauer betrachtet. Das Haager Gericht hat in der Vergangenheit zahlreiche Strafanträge abgelehnt, die wegen des Irak-Krieges gestellt wurden. Und das vorzugsweise mit zwei Argumentationen: „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gemäß Art. 7 des ICC-Statuts seien Handlungen, „die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung begangen“ werden. Beim Irak-Krieg habe das den alliierten Streitkräften aber nicht nachgewiesen werden können. Es ging vorrangig um Vergehen britischer Soldaten. Gegen Angehörige der US-Armee wurde gar nicht erst ermittelt, da die USA den ICC nicht anerkennen. Es blieben Fälle des Verdachts auf Kriegsverbrechen übrig, von denen dann zu sprechen ist, wenn absichtlich Zivilisten angegriffen werden oder bei Angriffen auf militärische Ziele unverhältnismäßig viele zivile Opfer in Kauf genommen werden. Bei den Untersuchungen zum Irak kam Chefankläger Moreno-Ocampo zu dem Ergebnis, dass zwar möglicherweise Kriegsverbrechen stattgefunden hätten, diese aber auf keinen Fall „in großem Umfang verübt“ wurden. Das heißt, die vom ICC-Statut, Artikel 8, geforderte „besondere Schwere“ des Verbrechens habe nicht vorgelegen. Ausdrücklich wurde bei dieser Begründung auf unvergleichlich größere Kriegsverbrechen im Kongo, in Nord-Uganda und Darfur hingewiesen.

Gaddafis Angebot

Man sieht, dass es für den Chefankläger einen großen Ermessensspielraum gibt, Anklage zu erheben oder darauf zu verzichten. Im Fall Gaddafi verdient deshalb um so mehr der Klage-Kontext Beachtung, wie er mit den NATO-Luftangriffen, einem von außen lancierten Regimewechsel und dessen politischer Begründung gesetzt ist. Am 11. März 2011 hatte Präsident Obama behauptet, es gälte in Libyen einen „Völkermord“ zu verhindern, den Gaddafi angekündigt habe. Hierzu gibt es eine aufschlussreiche Einlassung des Professors für öffentliche Angelegenheiten an der Universität von Texas, Alan J. Kuperman, der in einem Artikel für The Boston Globe schreibt: „Gaddafi (hat) niemals mit einem Massaker an der Zivilbevölkerung in Benghazi gedroht, wie von Obama behauptet. Die Warnung 'es werde kein Pardon gegeben' vom 17. März richtete sich allein gegen die Aufständischen, wie die New York Times berichtete. Zudem habe der libysche Machthaber denjenigen eine Amnestie versprochen, die 'ihre Waffen wegwerfen'. Gaddafi bot den Rebellen sogar einen Fluchtweg und offene Grenzübergänge in Richtung Ägypten an, um einen 'Kampf bis zum bitteren Ende' zu vermeiden.“

Sicher, der Haager Weltgerichtshof ist nicht verantwortlich für die Entscheidungen des Sicherheitsrats, weder für die ein militärisches Eingreifen der NATO autorisierende UN-Resolution 1973 vom 17. März noch für den Auftrag des Sicherheitsrats vom 26. Februar an das ICC, Ermittlungen in Sachen Gaddafi aufzunehmen. Er ist aber voll verantwortlich für einen korrekten, rechtsstaatlichen Kriterien entsprechenden Vollzug dieses Auftrags. Da ist es wenig hilfsreich, wenn nur nach einer Seite ermittelt wird und das Kriegshandeln der Rebellen völlig ausgeblendet bleibt, wenn es keine Beweisaufnahme vor Ort gibt und kein Ermittlungsteam nach Libyen entsandt ist. Wenn der ICC-Ankläger mit erstaunlicher Geschwindigkeit zu einer Anklageschrift kommt, aber andere, beim ICC anhängige Verfahren – etwa zum Überfall auf die Gaza-Flottille am 31. Mai 2010 oder zur israelische Gaza-Invasion 2009/2010 – harren weiter der Erledigung.

Vor allem keine Bilder

Selbst wenn man dem Gericht bescheinigen wollte, dass es trotz aller Eile juristisch korrekt vorgegangen sei, bleiben am Ende magere Beweise für die erhobenen Vorwürfe, die sich auf den Zeitraum vom 15. bis 28. Februar 2011 beziehen. Wer sich die vorliegenden Daten vergegenwärtigt, kommt zu dem Ergebnis, dass es in jener Zeit vereinzelte Konfrontationen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten beziehungsweise bewaffneten Oppositionellen gegeben hat, aber nichts auf einseitig vorgenommene Angriffe der Staatsmacht auf Zivilpersonen hindeutet. Spätestens seit dem 20. Februar waren die Oppositionellen bewaffnet und hatten zum Teil schweres Gerät der libyschen Armee erbeutet. Für das Maschinengewehrfeuer auf eine Trauergemeinde in al Baida am 18. Februar – auch dies ein Punkt der Anklage des ICC – gibt es außer Augenzeugenberichten keinerlei Belege. Vor allem keine Bilder, was heutzutage, da alles per Handy in Echtzeit um den Globus geschickt werden kann, doch seltsam erscheint. Selbst al-Jazeera stützt sich allein auf ein Telefongespräch mit einem „Augenzeugen“, allerdings nicht in al Baida, sondern in Benghazi. Die FAZ sprach am Tag nach dem Vorfall von einem „Massaker“, seitdem kursieren unterschiedliche Angaben über die Zahl der Toten. Bei alledem muss berücksichtigt werden, dass zu diesem Zeitpunkt die Rebellen sowohl in al Baida als auch in Benghazi bereits die Macht übernommen hatten.

Auch ein Blick auf die Opferzahlen in der Rebellen-Hochburg Benghazi zeigt, dass zwar viele Tote zu beklagen waren (Ärzte dort sprachen nach dem Ende der Kämpfe von 256 Toten und rund 2.000 Verletzten), es sich hierbei aber augenscheinlich nicht nur um Zivilpersonen und nicht nur um Oppositionelle handelte. Von “Massakern“ an der Zivilbevölkerung, von „Völkermord“ oder davon, dass Gaddafi sein eigenes Volk „abschlachte“, wie es Susan Rice, US-Botschafterin bei der UNO, formulierte, kann also nicht die Rede sein. Hätte der ICC-Chefankläger bei Libyen die gleichen Maßstäbe angelegt wie beim Irak, hätte er niemals Anklage wegen besonders schwerer Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit erheben dürfen. Hier werden doppelte Standards gebraucht.

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Geschrieben von

Peter Strutynski | The Guardian

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