Die Vertreibung des Gaddafi-Clans und der Zusammenbruch des auf Volkskomitees beruhenden Dschamahirija-Systems haben bei vielen Beobachtern zu einem Gefühl der Unsicherheit geführt. Wohin steuert Libyen? Schließlich ist der National Transitional Council (NTC) keine Partei und wird nicht über Wahlen hinaus existieren. Vielen seiner Mitglieder, die schon unter Gaddafi öffentliche Ämter bekleidet haben, werden künftig derartige Funktionen verwehrt bleiben. Es fragt sich, wer Libyen in den kommenden Jahren dominiert und führt – der Status quo besagt, dass durch Gaddafis Unterdrückung der Zivilgesellschaft und aller Formen von Opposition das Land einen Zustand fragiler Schwäche durchlaufen wird.
Im Augenblick zeichneten sich auf der politis
er politischen Landkarte vier Lager ab, bestehend aus Nationalisten und Liberalen, Islamisten und Säkularen, meint Noman Benotman, der einst zur Libyschen Islamischen Kampfgruppe (Libyan Islamic Fighting Group/LIFG) zählte, 2008 ausstieg und seither als Analyst für den von Dissidenten der islamistischen Szene gegründeten Think-Tank Quilliam Foundation arbeitet.Schroff und ungestümDas nationalistische Lager ist mit einem Anteil von 40 bis 50 Prozent an der Anti-Gaddafi-Front bei Weitem das größte. Es rekrutiert weniger ideologisierte Akteure als patriotische Libyer, die versuchen werden, einen auf der eigenen Kultur basierenden bürgerlichen Staat aufzubauen. Sie haben keine dezidierte Meinung zur Rolle, die der Islam in einem solchen Konstrukt haben sollte, sehen ihn aber als integralen Teil der libyschen Tradition. Prominente Überläufer wie Abdel-Salam Jalloud und Mustafa Abdul Jalil sind Nationalisten. Nicht auszuschließen, dass es ihnen recht leicht fällt, die Massen anzusprechen, sich eine Machtbasis zu besorgen und die politische Szene zu dominieren.Die Liberalen ihrerseits können 20 bis 25 Prozent der Aktivisten auf sich vereinen. Sie wollen ein offenes, demokratisches System mit freier Marktwirtschaft und werden versuchen, einen auf bürgerlichen Werten fußenden Staat zu schaffen. Da die meisten Libyer die Liberalen für elitär halten, dürften die bestenfalls Minderheiten hinter sich sammeln.Etwa 20 Prozent der Bevölkerung tendieren schätzungsweise zu den Islamisten, die sich in glasklare Dschihadisten (etwa zwei Prozent), Salafisten (zwölf Prozent) und Islamisten im Sinne der Muslimbrüder (sechs Prozent) sortieren lassen. Die Dschihadisten dürften die Massen eher befremden, sollten sie direkt nach der Macht greifen. Ihr schroffer und ungestümer Ansatz wird sich zwangsläufig als unpopulär erweisen, was sie nicht daran hindern muss, Chaos und Anarchie zu stiften. Es ist unwahrscheinlich, dass sie mit ihrer kompromisslosen Haltung bei Wahlen antreten oder sich an Koalitionen beteiligen. Man tut gut daran, sie mehr als Sicherheitsrisiko denn als ernsthaften politischen Wettbewerber zu nehmen.Die Salafisten teilen die dschihadistische Vision von einer Gesellschaft, die von strenger, ultrakonservativer Deutung der islamischen Schriften bestimmt ist. Der Unterschied besteht allein darin, dass sie terroristische Gewalt als Mittel, diesem Ziel gerecht zu werden, ablehnen und auf Bekehrung setzen.Die von der Muslimbruderschaft in Ägypten inspirierten Islamisten werden von der Vorstellung geleitet, der Islam sei eine allumfassende Ideologie, die alle Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit einführen müssten. Auch sie verweigern sich terroristischer Obsession und ziehen einen pragmatischeren Ansatz vor. Die Islamisten werden sich um Teilhabe am demokratischen Prozess bemühen, Allianzen bilden und in mögliche Koalition eintreten. Wie die Nationalisten können auch sie die Massen erreichen und werden mit Sicherheit Libyens Zukunft beeinflussen.Zu guter Letzt sind da noch die Säkularen, die zwei bis fünf Prozent der politisch aktiven Libyer erreichen. Inspiriert von Mustafa Atatürk, würden sie am liebsten einen ultra-säkularen Staat errichten, den keine Religion malträtiert. Wegen dieser Position marginalisiert, finden sie in der heutigen libyschen Gesellschaft keinen Widerhall. Den Islamisten werden sie dennoch ein Dorn im Auge sein.Stämme als StimmblöckeNeben diesen Fraktionen gibt es im Post-Gaddafi-Libyen weitere – schon existierende oder entstehende – Gravitationszentren, die versuchen dürften, Einfluss zu gewinnen. Vieles wird davon abhängen, ob es gelingt, aus der Asche des Gaddafi-Staates eine vitale Zivilgesellschaft als Korrektiv zum Parteigefüge aufzubauen. Die galt bisher als unerwünscht, weil ein ausgeprägtes Stammessystem gefördert wurde. Dabei waren die Stämme weniger ideologisch geprägt, als auf Loyalität gegenüber den eigenen Leuten bedacht. Sie können nun allerdings von ihren Führern als Stimmblöcke mobilisiert werden und bei Wahlentscheidungen eine Schlüsselrolle spielen.Schließlich könnte die unter Gaddafi 42 Jahre lang wohlumsorgte und hofierte Armee ein Machtzentrum sein. Wie in Ägypten haben auch hier führende Militärs starke wirtschaftliche Interessen, die es zu wahren gilt. Ihre Einmischung in die Politik kann nicht ausgeschlossen werden, scheint aber momentan eher unwahrscheinlich.Es bleibt die ethnische Dimension: Gaddafi unterdrückte die Sprache und Kultur der Berber und versuchte, der politischen Mobilisierung entlang religiöser Linien entgegenzuwirken – seine Gesellschaft sollte homogen sein. Von den Berbern – ihr Bevölkerungsanteil liegt bei zehn bis 15 Prozent – wurde erwartet, ihre eigene Kultur zugunsten der arabischen aufzugeben. Wenn sie unter den neuen Umständen auch keine Autarkie anstreben, so werden sie doch nur diejenigen unterstützen, die ihre kulturelle und ethnische Autonomie respektieren.Bei den 2012 zu erwartenden Wahlen dürften die nationalistisch grundierten Parteien triumphieren, aber auch der politische Islam sollte mehr als nur Außenseiterchancen behaupten. Angesichts der noch großen Zahl Gaddafi-Getreuer, des Fehlens einer Zivilgesellschaft und vorsichtig abwartender Dschihadisten wird es kein leichtes Unterfangen sein, freie und faire Wahlen abzuhalten.