Irgendetwas ist komisch hier. Ich bin im Fitnessstudio – Im The Gym in Vauxhall, Süd-London, um genau zu sein – und Michaeljohn Gonzalez pumpt Eisen. Das allein ist für ein Fitnessstudio alles andere als ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist die Zeit: Es ist vier Uhr in der Frühe.
Und Gonzalez ist nicht allein: Auf dem Laufband joggt der Türsteher Ahmed Mohammed. Neben ihm trainiert der Restaurantmanager Alan Dyer an der Brustmaschine. Im oberen Stock steht der blauhaarige Rikscha-Fahrer Jakob Grzebeniak am Boxsack.
Durchgängig geöffnete Fitnessstudios gibt es in Großbritannien zwar schon seit gut zehn Jahren, in den vergangenen Monaten haben sie aber gewaltig an Popularität hinzugewonnen. So gehörten zur The Gym Group vor einem Jahr zehn durchgängig geöffnete Studios. Heute sind es 18, dieses hier inbegriffen. Weitere 17 befinden sich in Planung. Pure Gyms, eine andere britische Kette, betrieb noch vor einem Jahr 12 Filialen, 2013 werden es schon 45 sein. Einer von fünf Pure Gym-Kunden trainiert nachts, zwischen zehn Uhr abends und sechs Uhr morgens. Ich habe eine Nacht dort verbracht, um herauszufinden, worin der Reiz liegt.
Keine blöden Anmachen
Die meisten Clubs schließen um zehn Uhr abends, im The Gym hingegen sind immer noch an die 70 Leute auf den Laufbändern und an den Gewichten zugange, als ich um elf Uhr dort ankomme. Der achtunddreißigjährige Sicherheitsmann Kevin Jey – der zweimal täglich, sechs Mal die Woche, jeweils für fünf Stunden herkommt – ist einer von ihnen. Warum? „Es ist hier viel günstiger als in anderen Studios“, sagt er. Er sollte es wissen, schließlich hat er schon an die 50 ausprobiert. „Da, wo ich zuletzt hingegangen bin, habe ich zwischen 45 und 50 Pfund pro Monat bezahlt, das davor kostete 95.“ Im Gegensatz dazu bezahlt man im The Gym nur 15, 99 Pfund und Pure Gym nur zwei Pfund mehr. „Man hat nicht das Gefühl, dass man ausgenommen wird“, sagt die 24-jährige Melody, die um Mitternacht auf einem Indoor-Bike sitzt. Jetzt werden die Umkleidekabinen sauber gemacht. Es sind nur noch 30 Leute da – für Melody ist das der Grund, so spät zu kommen: „Jetzt kann ich immer gleich die Geräte benutzen, die ich möchte", sagt sie.
In Anbetracht des Preises ist die Auswahl an Geräten beeindruckend. Zwar gibt es weder ein Schwimmbad noch eine Sauna, aber 30 Laufbänder, 30 Indoor-Bikes, 12 Rudermaschinen und jede Menge Hantelbänke.
Um zwei sind es noch 15 Leute – 14 Männer und eine Frau: die neunzehnjährige Demmi Russell, die nachts herkommt, weil sie tagsüber auf's College geht und danach bis zehn Uhr abends in einem Wettbüro arbeitet. Sie mag den Laden, weil sie sich hier sicher fühlt. „Als Frau ist es schwer, ein Studio zu finden, in dem man sich wohl fühlt. Aber hier werd ich auch um drei Uhr morgens von niemandem angemacht.“
Vierzig Minuten später ist fast niemand mehr da – nur noch Genovese, der den Laden schmeißt, der Mann, der die Umkleiden sauber macht und zwei Fitness-Fanatiker, die keine Lust haben, mit mir zu sprechen. Um Viertel vor drei kommt Marco, ein 28-jähriger Reiseberater, dicht gefolgt von der 24-jährigen Jonelle Roberts. Sie kommen aus unterschiedlichen Gründen her. Marco leidet unter Schlaflosigkeit, Roberts kommt von der Spätschicht im Klamottenladen Selfridge's – aber beide finden das Studio aus den gleichen Gründen gut. „Es gibt keinen Vertrag, also kann man aufhören, wann immer man will“, sagt Roberts, während er gerade 300 Sit-Up macht. „Wenn ich mal eine Weile nicht herkommen kann, setze ich einfach aus.“
Ohne feste Bindung
Die vertragsfreie Nutzung ist ein Luxus, den nur wenige Studios ihren Kunden gewähren. Erst vor kurzem geriet die Studiokette LA Fitness in Großbritannien in die Schlagzeilen, weil die Kette ein Paar, das in finanzielle Schwierigkeiten geraten war, nicht aus dem Vertrag entlassen wollte. Für John Treharne, der The Gym 2008 gegründet hat, nachdem er sich von der US-amerikanischen und deutschen 24/7-Fitnessstudio-Kultur hatte inspirieren lassen, kommt das nicht in Frage. „Ich hab von Mitgliederverträgen noch nie etwas gehalten. Man braucht sie nicht, auch nicht aus wirtschaftlichen Gründen. Im Gegenteil: Man erhöht nur seine Attraktivität, wenn man die Leute nicht fest an sich bindet.“ Wie aber verdient er mit The Gym dann Geld, wenn der Laden nie dicht macht, keine Verträge abschließt und seine Filialen größer und besser ausgerüstet sind als die der Konkurrenz? „Die Verwaltungskosten sind viel niedriger“, sagt Treharne. Man muss bei uns keine Papier-Formulare ausfüllen, das geht alles online und in ein paar Minuten kann man mit dem Training beginnen. „Andere Ketten haben womöglich in jeder Filiale jemanden, der sich um die Mitglieder kümmert. Wir haben dafür überhaupt niemanden.“
Zurück in Vauxhall, es ist mittlerweile fünf, die Umkleiden sind wieder geöffnet und etwa ein Dutzend Männer trainieren. Mittlerweile sind auch schon wieder welche mit einem annähernd normalen Schlafrhythmus darunter, aber auch ein paar von der alten Garde sind noch da: Daniel Williams zum Beispiel, der um drei kam, um den Hantelraum ganz für sich allein zu haben und der sich noch einmal hinlegt, wenn er fertig trainiert hat. Oder Gonzalez, der via Skype Hollywood-Starlets coacht und deshalb nach LA-Rhythmus arbeitet. Er wohnt gleich über dem Fitnessstudio. „Das ist praktisch“, sage ich. Praktisch? Er lacht. „Das Studio ist der Grund, weshalb ich hierhergezogen bin.“
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