Porträt Sophia Jansson stammt aus einer Bilderbuchfamilie: Ihre Tante Tove Jansson erfand die Welt der Mumin-Trolle. Hatte Sophia deshalb die glücklichste Kindheit der Welt?
"Tove war eine Vollblut-Künstlerin", sagt ihre Nichte Sophia Jansson. "Nicht nur handwerklich, sondern auch, was ihren Lebensstil betraf. Sie benötigte Rückhalt und viel Raum – die Familie hat sich ihr da stets angepasst."
Heute ist es Sophia, die als Kreativdirektorin und Vorsitzende des Familienunternehmens Oy Moomin Characters den Posten der Obersten Wächterin über die Trollfamilie der Mumins innehat. Ihr Ziel sei es, die künstlerische Integrität der Mumins zu schützen, sagt sie, um der Menschen willen, die ihr eine wunderbare Kindheit bereitet haben – großen Widrigkeiten zum Trotz. Ihre Mutter starb, als sie sechs Jahre alt war, und so wuchs Sophia in einem engen Familienverband auf, zu dem ihr Vater Lars (Toves jüngster Brud
gster Bruder; zwölf Jahre nach ihr geboren und ihre „rechte Hand“), ihre Großmutter väterlicherseits und „die Mädchen“ gehörten – Tove selbst und ihre Lebensgefährtin Tuulikki Pietilä, die im Familienkreis nur Tooti genannt wurde.Zu dem Zeitpunkt, als Sophia geboren wurde, zeichnete bereits ihr Vater Lars die Mumins-Cartoons. Den ersten hatte Tove 1954 für die London Evening News gezeichnet. Von dem erdrutschartigen Erfolg der Mumins gegen Ende der Fünfziger fühlte sie sich erdrückt. Für ihre große Liebe – das Malen – blieb ihr keine Zeit mehr und sie war, so sagt es zumindest Sophia, ein hoffnungsloser Fall, wenn es darum ging, Anfragen abzusagen, die mit den Mumins zu tun hatten. Und so sprang Lars ein. Obwohl er selber Künstler und Autor war, „suchte er nicht das Rampenlicht“, sagt seine Tochter. Als alleinerziehendem Vater kam es ihm gelegen, Toves Werk fortzuführen.Sophia machte die erste Bekanntschaft mit den Mumins durch die Comicbücher. Doch die, sagt sie, seien nie ihre liebsten Kinderbücher gewesen. Genau genommen habe sie nie darüber nachgedacht, ob sie ihr gefielen oder nicht. Wie der Rest der Familie „waren sie einfach da – Teil des Inventars“. Ja, man könnte beinahe sagen, die Mumins waren ihre Familie.Viel von der Persönlichkeit der SchöpferinTove gab zu, dass ihre eigene Mutter der Mumin-Mama Pate stand und auch Sophia meint, dass ihre Großmutter in der Figur vollkommen zu erkennen ist. Die lebensnahste Figur des Buchs, der kreative, aber verantwortungsbewusste Too-Ticky, entspricht Tooti. Tove soll sowohl dem Mumintroll als auch der Kleinen Mü viel von sich selbst mitgegeben haben und ein bisschen von ihr steckt vermutlich auch in dem umherstreifenden, naturliebenden Schnupferich.Die Janssons, die der schwedischen Minderheit in Finnland angehören, waren allesamt Künstler. „Wir alle haben gemeinsam, dass wir den Dingen, die unserer Ansicht nach schön sind, Aufmerksamkeit schenken“, meint Sophia. „Einer Muschel, einem Stein, einer Blume, einer Geschichte.“ Sie alle erzählten Geschichten und lasen gerne vor und die meisten Janssons schrieben selbst – Lars veröffentlichte 1941 ein Buch, da war er gerade mal 15. „Keiner in unserer Familie ist je zur Arbeit gegangen. Wir haben immer von Zuhause aus gearbeitet. Da ich keine Geschwister hatte und die Erwachsenen alle künstlerisch tätig waren, habe ich gelernt, bei ihnen zu sein ohne lästig zu werden und ein Gespür dafür bekommen, wann Leute alleine sein müssen. Das hat mir als Kind einen großen Freiraum eröffnet.“Jeden Sommer schlugen die Janssons auf zwei kleinen Inseln im Finnischen Meerbusen ihre Zelte auf. Die eine nannten sie die „Familieninsel“, dort hatten sie seit Toves Kindertagen jeden Sommer verbracht (und tun es noch heute), die andere, die in Sichtweite der ersten liegt, ist „Toves Insel“, dorthin zogen Tove und Tooti sich Anfang der Sechziger zurück, um es etwas ruhiger zu haben und Zeit für ihre Arbeit zu finden. Die beiden lebten, ohne Elektrizität oder fließendes Wasser, beinahe 30 Jahre lang dort. Sophia stand der Zugang zu beiden Inseln frei: „Die Türen standen offen und ich kam und ging, wie es mir gefiel.“Als Sophia acht war, starb ihre Großmutter. Signe Hammarsten-Jansson, die älteste der Janssons, hatte Sophia oft auf ihren Erkundungen begleitet. „Ich war zu jung, um zu arbeiten und sie war zu alt“, erinnert Sophia sich. „Also konnten wir beide spielen. Sie war eine beeindruckende Frau.“ Signe Hammarsten-Jansson war die Tochter eines Pfarrers, der im Dienste des schwedischen Königs stand. Ihre Brüder schlugen alle vier eine wissenschaftliche Laufbahn ein, doch Signe wollte immer Künstlerin werden. In ihrer Jugend war sie ein umtriebiges Mädchen, das es liebte, zu zelten und zu jagen. Sie gründete die schwedischen Pfadfinderinnen und ging 1910 ganz alleine nach Paris, um dort Architektur zu studieren. Sie heiratete einen der bekanntesten finnischen Bildhauer, Viktor Jansson, der vor seinem Tode 1958 der große Künstler der Familie war – bis Tove ihm diesen Rang ablief.Spielen am GezeitentümpelDie Großmutter spielt sowohl in Sophias Erinnerungen als auch Toves Büchern eine große Rolle. „Sie gehörte zu der Sorte Großmütter, die sowohl zu ihrem eigenen Vergnügen, als auch um ihrer Enkelin Willen spielen“, sagt sie. „Auf der Insel gab es Gezeitentümpel, an denen sie kleine Häfen, Brücken, Häuser und Dogenpaläste baute.“ Als Sophia zwölf war, veröffentlichte Tove das Sommerbuch, ihren ersten Roman für Erwachsene, der in den nordischen Ländern zu den Klassikern zählt. Schauplatz ist eine kleine Insel, es ist eine Ansammlung von wunderschön erzählten Geschichten über eine Großmutter und ein kleines Mädchen namens Sophia.„Ich habe einfach akzeptiert, dass es ein Buch über mich und meine Großmutter gab, das nur zum Teil den Tatsachen entsprach“, sagt Sophia. Das Buch vermischt Fakten und Fiktionen, auch die Beziehung zwischen Tove und ihrer eigenen Mutter spielt eine entscheidende Rolle. Doch die Insel ist „Toves Insel“, Großmutter ist Sophias Großmutter, einige der Ereignisse haben sich genau so zugetragen und „die Atmosphäre trifft es genau“, bestätigt Sophia. Aber ob das Ganze nun Fakt oder Fiktion ist, sei nicht der Punkt, meint sie: „Tove ging es nie darum, etwas zu dokumentieren, sie war eine Geschichtenerzählerin. In dem Buch geht es um die Beziehung zwischen einer sehr alten und einer sehr jungen Person – um gegenseitiges Unverständnis, aber auch um großen Respekt und Freundschaft.“Der Tod ihrer Großmutter, nur zwei Jahre nach dem der Mutter, hätte für die kleine Sophia ein fürchterlicher Schlag sein können, doch sie sagt: „Ich hatte eine ausgesprochen glückliche Kindheit. Wir waren eine Familie, in der viel gescherzt wurde. Wir hatten viel Spaß – das gilt auch für die Erwachsenen. Über Gefühle wurde kaum geredet, doch sie wurden stillschweigend verstanden.“So verhalte es sich auch mit Toves Büchern und oft auch mit ihrer Kunst, betont Roleff Krakstrom, Geschäftsführer der Moomin Company und ein langjähriger Bekannter der Familie. „Die Leerstellen haben ihre eigene Kraft“, sagt er. Insbesondere das Sommerbuch sei „ein Meisterwerk des Unausgesprochenen. Über den Vater wird kaum etwas gesagt, über die (tote) Mutter redet keiner, trotzdem sind sie omnipräsent.“Mit 17 jedoch brach Sophia das Schweigen. „Ich erkannte plötzlich, dass meine Familie nicht normal war. Später habe ich erfahren, dass Tove meinen Vater anrief und sagte: ‚Sie stellt unangenehme Fragen – was soll ich ihr sagen?‘ Ich begann plötzlich zu denken: Meine Mutter starb so jung und niemand spricht darüber – warum?“ Welche Antwort bekam sie? „Sie kam aus tragischen Verhältnissen. Dann kam der Krieg. Sie begann zu trinken und starb jung. In dieser wunderbaren Mumin-Welt fiel es allen schwer, über jemanden zu sprechen, der so unglücklich war.“Und Sophia machte sich über Tove und Tooti so ihre Gedanken: „Sie waren für mich wie zwei feste Stützen, aber weshalb lebten diese beiden Damen zusammen?“ Darauf sollte sie keine direkte Antwort bekommen. „Sie brachten mich dazu, es selbst auszusprechen und dann bestätigten sie, ja, genau so sei es ... aber das Wort lesbisch benutzte niemand.“ Nicht, dass die beiden prüde gewesen wären. Homosexualität war in Finnland bis 1971 illegal, bis 1981 wurde sie als Krankheit eingestuft.Ein Leben als KünstlerinSophia denkt, dass lesbisch für Tove so oder so nicht ganz das richtige Wort gewesen wäre. „Sie entschloss sich sehr bestimmt dazu, nicht zu heiraten und keine Familie zu haben.“ Beide Brüder hatten im Krieg gekämpft, viele ihrer männlichen Freunde fielen. „Sie entschied sich bewusst dafür, keine Kinder in die Welt zu setzen. Für sie war klar, dass sie Künstlerin sein wollte und sie war bereit, dafür alles andere aufzugeben. Tooti traf dieselbe Entscheidung.“In den Mumin-Büchern stößt man auf viele Figuren, die ziemlich androgyn sind. Sophia erzählt, dass die Familie unzählige Anfragen bekommt, was das Geschlecht der Mumins betrifft. „Das ist nicht wichtig“, sagt sie. „Tove war das Geschlecht egal, sie interessierte sich für das Individuum.„Tooti war keine einfache Persönlichkeit“, erzählt Sophie. „Viele Leute kamen mit ihr nicht klar, ich hingegen schon. Viele fanden, sie sei schwierig und übertrieben beschützerisch, was Tove betraf. Aber sie gab ihre Karriere auf, um Tove zu helfen, wie mein Vater es auch tat. Beider Unterstützung war für sie sehr wichtig.“Sophia hatte ursprünglich wenig Interesse, ins Mumin-Business einzusteigen, solange ihr Vater und Tooti es fest in den Händen hielten. Stattdessen studierte sie Kunst und moderne Sprachen. Sie spielte mit dem Gedanken, Malerin zu werden, doch „die Familie seufzte“, wie sie lachend sagt. „Ich war anders als sie. Meine Entscheidungen waren viel emotionsgesteuerter. Und ich wollte Kinder haben. Tove sagte immer, man müsse sich überlegen, was man wirklich wolle. Man solle nur die Dinge wirklich wollen, ohne die man sterben würde.“Sophia lebte eine zeitlang in Spanien, dann heiratete sie einen Engländer und bekam zwei Söhne, die heute 18 und 21 Jahre alt sind. Der jüngere ist gerade mitten im Militärdienst, der andere studiert Kunst. Als die Jungen etwa acht und sechs Jahre alt waren, trennten sich die Eltern, zeitgleich erkrankte Sophias Vater an Krebs. Da sie nun nicht länger an England gebunden war und wollte, dass ihre Söhne ihren Großvater kennenlernen sollten, bevor er starb, zog sie zurück nach Finnland. Sophia stieg in den Familienbetrieb ein und war nun wieder tagtäglich von Toves berühmtesten Figuren umgeben. Lars und Tove starben 2000 und 2001 kurz nacheinander. Toves Tod löste eine Flut an Angeboten für die „Marke“ Mumin aus. Doch die Familie hatte das Gefühl, es sei besser, die Kontrolle über Toves Erbe zu behalten, und so entschied sie sich, ob das nun richtig war oder falsch, gegen den Verkauf.Sophia hat immer noch gemischte Gefühle. Kommt es vor, dass ihr die Mumins auf die Nerven gehen? „Oh ja. Ziemlich oft.“ Sie lacht und seufzt gleichzeitig. „Es ist wunderbar, Teil dieser Welt zu sein, doch wenn man mit ihr arbeitet – wie Tooti, mein Vater und ich – reißen diese Trolle das Regiment an sich. Ich hätte gerne ein Leben außerhalb des Mumintals.“Mittlerweile ist Sophia mit Roleff Krakstrom, dem Geschäftsführer von Oy Moomin Characters, verlobt. Ist das wirklich schlau, wenn sie Zeit ohne die Mumins braucht? „Er schafft das,“ sagt sie grinsend. „Er ist jung und voller Energie. Ich hoffe, dass ich bald nur noch eine Aufgabe haben werde: mich um meine zukünftigen Enkel zu kümmern!“ Doch sie ist auch dankbar für die Mumins: „Ich führe das hier schon aus Gewissensgründen fort. Für die nächste Generation wird es einfacher, sie wird emotional nicht so stark involviert sein.“Juliet Rix ist freie Autorin und befragt für den Guardian in der Rubrik My family values regelmäßig bekannte Persönlichkeiten.
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