Chruschtschow und Kennedy bei einem Treffen in Wien 1961, ein Jahr vor Beginn der Kuba-Krise
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Wer gehofft hatte, Wladimir Putin würde irgendwann einen Sieg in der Ukraine verkünden und seine gescheiterten Truppen abziehen, muss sehen: Das ist weitab einer vorstellbaren Realität. Putin hat das gerade wieder auf aufschlussreiche Weise kundgetan, bei der Waldai-Konferenz mit etwa hundert Akademikern aus 40 Ländern in Moskau. Fjodor Lukjanow, hoch angesehener Vertreter eines Thinktanks, der das Treffen moderierte, hatte den Mut, den russischen Präsidenten zu fragen, ob er sich in der Rolle eines Führers wie Nikita Chruschtschow in der Kubakrise 1962 vorstellen könne, jetzt, fast auf den Tag genau 60 Jahre nach dessen Entscheidung, zurückzuweichen. „Sicher nicht“, antwortete Putin. Unter allgemeinem Gelächter, so die Kreml-Mitschr
62 vorstellen könne, jetzt, fast auf den Tag genau 60 Jahre nach dessen Entscheidung, zurückzuweichen. „Sicher nicht“, antwortete Putin. Unter allgemeinem Gelächter, so die Kreml-Mitschrift, fuhr er fort: „Ich kann mich mir nicht in der Rolle Chruschtschows vorstellen. Auf keinen Fall.“Grund für die Heiterkeit war wohl nicht nur der physische wie mentale Kontrast zwischen Putin, dem kalten Disziplinierer und Fitnessfreak, und Chruschtschow, dem so dickbäuchigem wie fröhlichem Reformer, der die Sowjetunion nach Stalins Tod mit großer Unberechenbarkeit regierte. Jeder weiß, wie Chruschtschow zwei Jahre nach dem Kuba-Abenteuer entmachtet wurde.Putins Fehler der AnnexionenPutins Äußerung stellt uns vor das düsterste Szenario von allen. Ein einseitiger Rückzug Russlands ist nicht in Sicht. Dass es keine Grundlage für Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine gibt, seit Putin im September den dummen Fehler beging und vier ukrainische Provinzen annektierte, ist ebenso düstere Realität. Dass das russische Parlament die Regionen nun als Teil Russlands betrachtet, nimmt jede Chance auf gegenseitige Zugeständnisse und die Vereinbarung eines Rückzugs.In dem Maße, wie sich die Kämpfe auf dem Schlachtfeld zugespitzt haben, haben beide Seiten ihre Forderungen heraufgeschraubt und ihre Positionen verhärtet. Noch im März, einen Monat nach der russischen Invasion, war eine Einigung möglich. Putin hatte erkannt, dass seine Truppenentsendung zur Besetzung Kiews und zum Regimewechsel gescheitert war. Berichten zufolge wollte Putin vor allem, dass die Ukraine ihre Ambitionen auf einen NATO-Beitritt aufgibt und eine Autonomie für Donezk und Luhansk akzeptiert, wie es in den Minsker Vereinbarungen von 2015 vorgesehen war. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj war bereit, auf die russischen Forderungen im Gegenzug für einen Waffenstillstand und einen russischen Rückzug einzugehen, über den Status der Krim sollte zu einem späteren Zeitpunkt gesprochen werden.Wie der Friedensschluss scheiterteDazu ist es nicht gekommen. Auftritt Joe Biden und Boris Johnson, ihre Interventionen und das Gefühl, dass aus dem, was ein Krieg zur Verteidigung und Wiederherstellung der Souveränität der Ukraine gewesen war, ein Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und Russland geworden war. (Dieser Analyse nach waren weder die amerikanische Regierung noch weitere westliche Staaten bereit, Kiew für den Fall eines neuerlichen russischen Angriffs Beistandsgarantien ähnlich dem Artikel 5 des NATO-Vertrags zu geben, zudem habe sich Putin einem Treffen mit Selenskyj verwehrt; Anmerkung der Redaktion, der Freitag)Hinter all dem scheint gefährlich der Atompilz auf. Seit 1962 war die Welt nicht mehr in solcher Gefahr. Die Krise vom Oktober 1962 war in einem entscheidenden Punkt schlimmer als die heutige Konfrontation. Man ging davon aus, dass jede Gewaltanwendung des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, um sowjetische Schiffe zu stoppen, die Atomraketen nach Kuba brachten, schnell zu einem Abschuss von Atomwaffen auf amerikanische und sowjetische Städte führen würde. Beide Supermächte versetzten ihre Arsenale in höchste Alarmbereitschaft. Die Welt stand vor der existenziellen Gefahr eines globalen Suizids.Joe Bidens Atom-DoktrinIn der heutigen Krise ist vom Einsatz so genannter taktischer Atomwaffen die Rede. Taktisch ist ein dehnbarer Begriff, und die heutigen US-Atombomben wie die B61, die Biden zu den US-Basen in Großbritannien schickt, sind 30-mal so stark wie die auf Hiroshima abgeworfenen Bomben. Das Pentagon hat Teile des später als erwartet fertiggestellten „Nuclear Posture Review“ jüngst öffentlich gemacht. Mit einem solchen Dokument legt jeder neu gewählte US-Präsident seine Leitlinien für den Umgang mit dem Kernwaffenarsenal des Landes dar. Aus dem Veröffentlichten der Biden-Regierung geht hervor, dass alle Bemühungen von Rüstungskontrollexperten um eine Selbstverpflichtung der USA, keinen nuklearen Erstschlag zu führen, gescheitert sind. Die USA werden ihre seit langem bestehende Bereitschaft zur nuklearen Eskalation und dazu, auf einen nichtnuklearen konventionellen Angriff mit Atomwaffen zu reagieren, nicht aufgeben. Die russische Doktrin ist dem deprimierend ähnlich; Putin hat erklärt, er werde alle erforderlichen Waffen einsetzen, wenn russisches Gebiet angegriffen wird.US-Präsident Joe Biden hat durchaus eine gewisse Zurückhaltung an den Tag gelegt. Er widersetzte sich ukrainischen Anfragen um Langstreckenraketen, die russische Städte treffen und einen totalen Krieg zwischen russischen und NATO-Truppen auslösen könnten. Er hat Selenskyjs Forderung nach einer von der NATO durchgesetzten Flugverbotszone über der Ukraine abgelehnt. Er hat keine US-Truppen in die Ukraine geschickt und dafür gesorgt, dass auch kein anderes NATO-Land Truppen entsendet.Doch auch wenn die Risiken eines schnellen Abgleitens in einen totalen Atomkrieg heute geringer sind als 1962, gibt es andere Gefahren, die die heutige Krise wiederum alarmierender machen.Vor allem fehlt es an einem Verhandlungsforum und auch an einer vorstellbaren Agenda für gegenseitige Zugeständnisse. Beide Seiten wollen den militärischen Sieg und erliegen den Lockungen der Illusion, er sei erreichbar. Es gibt nicht einmal eine Grundlage für einen Waffenstillstand, da jede Seite sicher ist, dass der Gegner einen Waffenstillstand nutzen wird, um mehr Truppen vorzubereiten, mehr Waffen zu beschaffen und mittels Umgruppierungen seine Streitkräfte in bessere Stellung bringen zu können.Wie die Kuba-Krise endete1962 gab es eine relativ einfache Grundlage für eine schnelle Deeskalation und Lösung der Krise. Chruschtschows Entsendung von Atomraketen nach Kuba war nicht durch eine strategische Notwendigkeit oder die Notwendigkeit, sowjetisches Territorium zu verteidigen, motiviert. Es war ein Glücksspiel und ein Versuch, auf billige Weise strategische Parität mit der US-Macht zu erreichen. Angesichts der Entschlossenheit Kennedys, Gewalt anzuwenden, konnte Chruschtschow eine Kehrtwende machen und tat dies auch. Um den Grad seiner Demütigung abzumildern und den Eindruck gegenseitiger Zugeständnisse zu erwecken, verpflichtete sich Kennedy öffentlich, nicht in Kuba einzumarschieren. Außerdem erklärte er sich bereit, die veralteten Jupiter-Mittelstreckenraketen, die nahe der sowjetischen Grenze in der Türkei stationiert waren, abzuziehen. Als Geste des guten Willens bot Chruschtschow an, dieses Zugeständnis der USA nicht öffentlich zu machen.Nach 13 Tagen nervenaufreibender Spannung endete die Krise von 1962 mit einem Hauch von gesundem Menschenverstand und Staatskunst auf beiden Seiten. Könnte man diese Qualitäten doch nur heute in der Ukraine wieder aufleben lassen.
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