Echter Kämpfer

Porträt Orlando Cruz kämpfte seinen härtesten Kampf nicht im Ring, sondern darum, seine Homosexualität nicht verstecken zu müssen
Sein Ziel ist es, der erste schwule Boxweltmeister zu werden. Seinen ersten Kampf nach seinem Bekenntnis hat Orlando Cruz schon gewonnen
Sein Ziel ist es, der erste schwule Boxweltmeister zu werden. Seinen ersten Kampf nach seinem Bekenntnis hat Orlando Cruz schon gewonnen

Foto: J. Meric/Getty Images

„Ich habe mich entschlossen, frei zu sein“, sagt Orlando Cruz mit fester Stimme. Dabei lässt er den Blick über seine Heimatstadt San Juan schweifen. Der Puerto-Ricaner, der sich Anfang Oktober als erster Profiboxer öffentlich zu seiner Homosexualität bekannte, steht auf dem Balkon seiner Wohnung. Der Himmel verdunkelt sich, aber Cruz ignoriert den Nieselregen, der auf seinen nackten Oberkörper fällt. Er pfeift nach seinem Dackel Bam-Bam, der angerannt kommt und ihm auf den Schoß springt. „Sie nennen mich Schwuchtel“, sagt Cruz. „Das ist mir egal. Sie können mich damit nicht verletzen. Aber es der ganzen Welt zu offenbaren, hat viel Kraft gebraucht.“

Er hält Bam-Bam davon ab, ihm das Gesicht abzulecken. Man kann sich vorstellen, wie er sonst mit dem Dackel herumalbert, aber jetzt wirkt Cruz sehr ernst. Wir treffen uns wenige Tage, bevor er in Kissimmee, Florida, den wichtigsten Kampf seiner Karriere kämpft, einen WBO-Ausscheidungsfight um den Weltmeistertitel im Federgewicht. Der erste Kampf nach seinem Coming-out. Vor 3.000 Zuschauern wird er den Mexikaner Jorge Pazos nach Punkten besiegen. Ein großer Schritt auf dem Weg zu seinem Ziel, „erster schwuler Weltmeister“ zu werden. Aber an diesem Nachmittag in San Juan will er über einen noch schwierigeren Kampf sprechen – den Kampf gegen Angst und Vorurteile.

„Ich bin ein erfolgreicher Boxer“, sagt er auf Englisch, bevor er lieber kurz ins Spanische wechselt. „Ich hab nur zwei Kämpfe verloren. Aber die ganze Zeit hatte ich diesen Stachel in meinem Inneren. Ich wollte ihn herausreißen, um Frieden zu finden.“

Er klopft sich auf die Brust und erinnert sich an die Zeit, in der es ihm am schlechtesten ging. „Es gibt Leute, die haben deswegen ihr Leben verloren“, sagt er über die Homophobie in Puerto Rico. „Ich bin ebenso stolz, Puerto-Ricaner zu sein, wie ich stolz darauf bin, ein schwuler Mann zu sein. Aber lange war ich traurig und wütend, weil schwule Männer hier immer noch nicht akzeptiert werden und sich deswegen das Leben nehmen oder von Schwulenhassern ermordet werden. Ich will dazu beitragen, dass sich das ändert.“

Wütend auf sich selbst

Hat er selbst eine solche Tragödie erlebt? „Si, si“, murmelt er. „Ich habe einen Freund verloren. Er wurde von Leuten getötet, die Schwule hassen. Ich war sehr wütend, weil sein Leben so brutal endete. Aber ich war auch wütend auf mich selbst, weil ich mein Geheimnis damals noch für mich behalten habe.“

Der Regen wird stärker. Cruz steht auf, beinahe widerwillig, als fürchte er, die Stimmung des Moments zu verderben. „Lassen Sie uns reingehen, sonst denken die Leute noch, wir seien verrückt, weil wir im Regen sitzen.“ Er sammelt seine Boxsachen zusammen und setzt sich in der Küche auf die Arbeitsplatte. Er könne noch nicht genau sagen, wie sein Leben sich in den vergangenen Tagen verändert hat. „Es nimmt mich emotional sehr mit, aber ich bin froh. Ich denke, ich kann ein Vorbild für Menschen sein, die sich in der gleichen Situation befinden. Leute haben mir geschrieben, sie hätten Angst davor gehabt, was ihre Familien von ihnen denken, wenn sie sich outen. Meine Entscheidung habe ihnen Mut gegeben.“

Hat ihm auch jemand geholfen? „Es gibt einen Menschen, der sehr wichtig für mich ist. Ich kenne ihn seit vier Jahren, und er hat mir beigebracht, mich selbst wertzuschätzen. Ich werde seinen Namen nicht nennen, aber er ist für mich wie ein Engel. Wir haben die Situation besprochen, und er machte mir klar, wie gut es mir tun würde, offen zu sein. Beim Boxen war es großartig, und auch in Puerto Rico waren die Reaktionen bisher zu 90 Prozent positiv.“

Während Bam-Bam laut aus seinem Wassernapf schlabbert, leckt Cruz sich über seine trockenen Lippen. Nur wenige Tage vor dem Kampf muss er sich auf das zulässige Maximalgewicht von 57 Kilo bringen und jeden Bissen streng rationieren. Um während des Trainings später noch mehr Gewicht zu verlieren, wird er sich einen dicken Trainingsanzug anziehen, um so mehr zu schwitzen und abzunehmen.

War es schwer, sich so kurz vor einem wichtigen Kampf zu outen? „Nein“, sagt Cruz. „Ich wollte, dass die ganze Welt die Wahrheit über mich erfährt. Ich bin seit zwölf Jahren Profiboxer, und ich habe seit elf Jahren über diesen Augenblick nachgedacht. Die ganze Zeit habe ich gekämpft und überlegt, wann wohl der beste Zeitpunkt wäre, mein wahres Ich zu zeigen. Es fing 2001 an – damals habe ich es meinen Eltern gesagt.“ Cruz lacht, um die Situation ein wenig aufzulockern. Dann fährt er fort: „Ich habe geweint, als ich es meiner Mutter sagte. Ich bin ein sehr emotionaler Mensch. Sie sagte nur: ‚Das macht nichts. Du bist mein Sohn. Ich liebe dich.‘ Daraufhin habe ich noch mehr geweint.“

Er macht eine Pause, bevor er über die Reaktion seines Vaters spricht. Er seufzt. „Mit meinem Vater ist es schwieriger, die Macho-Kultur. Mittlerweile ist es besser. Er unterstützt mich, aber es gibt immer auch ein ‚Aber‘.“ Er blickt auf. „Meine Eltern sind getrennt. Mein Vater lebt in Miami, aber ich bin froh, dass er beim Kampf dabei sein wird, um mich zu unterstützen. Und meine Mutter fliegt mit mir zusammen nach Orlando. Sie war immer verständnisvoller.“

Sein Telefon klingelt, aber Cruz ist so vertieft in seine Erzählung, dass er es ignoriert. Erst als der Anrufer es das vierte Mal versucht, geht er ran. „Es ist mein Trainer“, entschuldigt er sich. An diesem Tag ist in Puerto Rico Feiertag. Das Fitnessstudio, in dem Cruz normalerweise trainiert, hat geschlossen. Trotzdem ist er morgens um halb fünf aufgestanden und ist dreißig Minuten später in die schwüle Dunkelheit San Juans hinausgerannt. „Manchmal läuft mein Trainingsteam mit mir. Aber heute Morgen war ich allein. So konnte ich über alles nachdenken. Vor zwei Jahren bin ich nach New Jersey gezogen, weil mein Trainer wollte, dass ich disziplinierter werde. In Puerto Rico gibt es zu viele Dinge, die mich ablenken. In New Jersey begann dann der psychologische Prozess, der mir das Coming-out ermöglicht hat.“

Er erzählt von dem mühsamen, langsamen Weg dorthin. „Nach einer Weile fragen einen die Psychologen: ‚Sind Sie bereit?‘ Ich habe gesagt: ‚Nein, noch nicht.‘ Ein paar Monate später fragten sie mich noch mal. Ich schüttelte den Kopf. Ich war lange zu nervös. Es ist ein großes Ding, der erste in der Geschichte zu sein.“ Für viele im Boxsport sei sein Bekenntnis eine große Überraschung gewesen, erzählt Cruz. Aber Miguel Cotto, der große puerto-ricanische Halbmittelgewichtler, der so alt ist wie Cruz ist und früher mit ihm in der Box-Nationalmannschaft kämpfte, hat seine Unterstützung bekundet. „Miguel hatte vermutet, dass ich schwul sei, aber ich konnte nie mit ihm darüber reden. Ich wusste aber immer, dass er mich unterstützen würde. Daran hatte ich nie einen Zweifel.“

Glaubt er, dass sein Beispiel anderen schwulen Boxern helfen wird, sich zu outen? „Ich weiß nicht. Wahrscheinlich eher in anderen Sportarten. Im Boxen ist es sehr schwierig, weil es so ein Macho-Sport ist.“ Als ich ihn frage, ob er die Geschichte von Emile Griffith und Benny Paret kennt, nickt er traurig. „Natürlich.“ Im April 1962 nannte Paret Griffith beim Wiegen vor dem Kampf „Schwuchtel“, woraufhin Griffith ihn im Ring so zusammendrosch, dass der Kubaner in der zwölften Runde nur noch als Boxsack fungierte und 29 Schläge ohne Gegenwehr einsteckte. Paret fiel ins Koma und starb zehn Tage später. Griffith ging die Sache jahrzehntelang nach. „Griffith war schwul“, sagt Cruz, „aber er konnte nicht tun, was ich getan habe. Erst Jahre später konnte er zugeben, dass er bisexuell ist. Ich verstehe das.“

Cruz kennt sich in der Geschichte des Boxens gut aus. Muhammad Ali ist für ihn der Größte. Peinlich berührt verdeckt er sein Gesicht, als ich sage, dass er auf seine eigene Weise zur Boxgeschichte beigetragen hat, wie dies sonst nur so gewaltigen Kämpfern wie Ali vorbehalten ist. Cruz hat nicht riskiert, ins Gefängnis zu gehen, wie Ali dies tat, als er sich weigerte, in der US-Armee in Vietnam zu dienen, aber er hat das letzte große Tabu im Boxen gebrochen. „Danke“, sagt er, bevor er die Situation mit einem Scherz auflockert. „Hier in Puerto Rico waren sogar die Frauen überrascht. Früher sagten sie: ‚Oh, du bist so schön!‘ Jetzt sagen sie: ‚Oh, mein Gott! Du bist schwul?! Das tut mir aber leid!‘ Aber sie sind immer noch nett und herzlich.“

Vor und nach Sydney

Wann merkte er, dass er schwul ist? „Vor den Olympischen Spielen 2000 in Sydney habe ich noch versucht, es vor mir selbst zu leugnen. Ich bin mit Mädchen ausgegangen, hatte Sex mit ihnen. Erst nachdem ich von den Spielen zurückgekehrt war, änderte sich bei mir etwas, und ich schlug einen anderen Weg ein.“

Es klingelt an der Tür, Cruz springt auf. „Sie werden jetzt meinen Schwiegervater kennenlernen.“ Jim Pagán ist ein Ring-Veteran, der seit Jahren puerto-ricanische Kämpfer trainiert. Sein Gesicht ist vom Leben gezeichnet, er strahlt eine ruhige Würde aus. Cruz erzählt, dass Pagán ihn schon trainiert, seit er sieben Jahre alt war. „24 Jahre“, entfährt es ihm erstaunt, als er über die Verbundenheit zu seinem Trainer spricht. Doch nicht nur die Zeit verbindet die beiden Männer. „Ich war fünf Jahre lang mit Jims Tochter zusammen“, sagt Cruz. „Sie heißt Daisy-Karen und unterstützt mich sehr. Genau wie Jim.“

Pagán spricht kaum Englisch, Cruz übersetzt. Ich frage den Trainer, wie er dazu steht, dass der Ex-Freund seiner Tochter sich als homosexuell geoutet hat. „Wir haben großen Respekt voreinander“, sagt Pagán mit rauer, aber sanfter Stimme. „Ich wusste immer, dass Orlando ein guter Mensch ist.“ „Immer nicht“, sagt Cruz und lacht laut. „Einmal hat er mich aus seinem Boxstudio geworfen. Ich war als Kind disziplinlos. Aber ich bin immer zu ihm zurück gekommen. Er ist mein zweiter Vater.“

Mit Pagáns zwei jungen Söhnen im Schlepptau – von denen einer Profiboxer und der andere Basketballer werden will – laufen wir zu einem Trainingsraum ganz am Ende der Wohnanlage. Hier ist es im Gegensatz zu Pagáns Boxclub im Zentrum San Juans ordentlich und sauber. Cruz trainiert mit dem Springseil und schmettert dann mit den Fäusten auf die Pratzen ein, die Pagán hochhält. Das Tageslicht schwindet. Die gleichmäßigen Schlaggeräusche erzählen von der Hingabe und der Liebe fürs Boxen, die die beiden nun schon so lang teilen. Cruz ist jetzt einfach ein Boxer, der sich auf einen gefährlichen Kampf vorbereitet.

Dann blickt Cruz auf, sein Gesicht ist schweißüberströmt. Er sieht glücklich aus, und er sagt: „Egal, ob im Ring oder draußen – ich will einfach nur ich selbst sein. Ich bin froh, dass ich das nun kann. Ich kann zu mir stehen.“

Donald McRae schreibt für den Guardian vor allem über Sport.

Orlando Cruz war bis zum 4. Oktober 2012 nur ausgewiesenen Box-Kennern ein Begriff. Dann sorgte er mit einer Pressemitteilung, in der er sich zu seiner Homosexualität bekannte, weltweit für Aufsehen. Er ist der erste offen homosexuelle Profiboxer. Und anders als einige Sportler, die sich geoutet haben, wartete er nicht bis zum Ende der Karriere, sondern hatte sein Coming-out zwei Wochen vor einem wichtigen Kampf. Er fügte hinzu, sein Ziel sei es, der „erste schwule Boxweltmeister“ zu werden.

Cruz wurde am 1. Juli 1981 in der Kleinstadt Yabucoa auf Puerto Rico geboren. Als Box-Amateur nahm er 2000 an den Olympischen Spielen teil. Im Dezember 2000 gab er sein Debüt als Profi. Bisher hat er 22 Profi-Kämpfe absolviert (20 gewonnen, 2 verloren). Die World Boxing Organisation (WBO) führt ihn im Federgewicht in ihrer Rangliste zurzeit auf Platz 4. Seinen ersten Kampf nach dem Coming-out gewann Cruz am 19. Oktober gegen den Mexikaner Jorge Pazos. In der Halle in Florida wurde er dabei von vielen puerto-ricanischen Fans angefeuert. „Das Publikum war klasse, hat mich respektiert, und genau darauf habe ich gehofft“, sagte Cruz nach dem Kampf. jap

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Zilla Hofman, Holger Hutt
Geschrieben von

Donald McRae | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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