Ein Außenseiter erzählt

Heldengeschichten Yanis Varoufakis Memoiren sind nun auch auf Deutsch erschienen
Ausgabe 19/2017
Cooler Typ oder abgehobener Theoretiker?
Cooler Typ oder abgehobener Theoretiker?

Foto: Christopher Furlong/Getty Images

Yanis Varoufakis hat mir einmal einen Gin Tonic ausgegeben. Von seiner Frau habe ich einmal einen Tee bekommen. Auch wenn er meinen Fragen stets auswich, wie Finanzminister es eben tun müssen, hat er mich nicht ein einziges Mal offen angelogen. Und ich habe ihn bei zwei öffentlichen Veranstaltungen als Gast empfangen. Der Grund für die Auflistung dieser Transaktionen ist folgender: Varoufakis hat nun seine Memoiren veröffentlicht. Und sie zählen zu den besten politischen Memoiren, die je geschrieben wurden. Es sind Erinnerungen, die vor Offenheit und Angriffen auf ehemalige Verbündete nur so strotzen. Und wenn man sie als Handbuch für die Auslotung der Gefahren der Staatskunst liest – was man durchaus tun sollte –, dann werden sie eines Tages wohl die gleiche Bedeutung erreichen, die Robert Caros Biografie des ehemaligen US-Präsidenten Lyndon B. Johnson zuteil geworden ist.

Zwei Seiten des Apparats

Gleichzeitig bildet Varoufakis’ Darstellung der Krise, die Griechenland von 2010 bis heute so gezeichnet hat, eine Kategorie für sich: Es ist ein Insiderbericht aus der Spitzenpolitik – erzählt von einem Außenseiter. Als solcher hat Varoufakis einst angefangen, er gehörte weder der politischen Elite noch der extremen Linken in Griechenland an. Zwar wechselte er dann auf die Innenseite des politischen Apparats, kehrte diesem aber nach kurzer Zeit wieder den Rücken, nachdem sein ehemaliger Verbündeter, der griechische Premierminister Alexis Tsipras, ihn im Juli 2015 feuerte.

Diese einzigartige Position beleuchtet Varoufakis in seinem Buch mit einer vielsagenden Anekdote: Bei einem Treffen mit dem ehemaligen US-Finanzminister Larry Summers in Washington fragte dieser ihn: „Willst du drinnen sein oder draußen?“ Der US-Polit-Profi warnte den Griechen: „Outsider ziehen die Freiheit vor, ihre Version der Wahrheit offen aussprechen zu können. Der Preis dafür ist, dass sie von den Insidern, die die wichtigen Entscheidungen treffen, ignoriert werden.“

Allerdings: Auch gewählte Politiker haben vergleichsweise wenig Macht. Die wirkliche Macht liegt in den Händen der Wall Street, bei Netzwerken aus Hedgefonds, Milliardären und Medieninhabern. Die Kunst der Politik besteht darin, dies als Tatsache des Lebens anzuerkennen und zu vermitteln und dabei zu erreichen, was möglich ist, ohne das System ernsthaft zu stören. So lautet das herkömmliche Angebot. Varoufakis lehnt dieses nicht nur ab – indem er es nun so offen beschreibt, kämpft er auch gegen die Dummheit so mancher linker Fantasie, das System des Neoliberalismus werde sich unserem Verlangen nach sozialer Gerechtigkeit schon noch irgendwie beugen.

Tatsächlich liefert Varoufakis einen akkuraten Bericht über die heutigen Mechanismen und Ausprägungen von Macht. Mit der Erschöpfung, die aus Nächten in seelenlosen Hotels und brutal beleuchteten Konferenzräumen resultiert, erklärt er detailgenau den Aufbau heutiger Netzwerke. Zum Beispiel so: Aris erhält ein Darlehen von Zorbas Bank. Zorba schreibt das Darlehen ab, sein Bauunternehmen erhält aber einen Auftrag von Aris’ Ministerium. Aris’ Sohn kriegt einen Job bei Zorbas Fernsehsender, der aus irgendwelchen Gründen immer pleite ist und nie Steuern zahlen kann – und so weiter. „Ausschluss und Intransparenz“ seien die Schlüssel, schreibt Varoufakis. Mit vertraulichen Informationen werde Tauschhandel betrieben: „Die Verschwörer konspirieren de facto, ohne bewusst Verschwörer zu sein.“

Saftige Enthüllungen

Nicht nur solche Geschichten erzählt Varoufakis, er serviert auch die eine oder andere saftige Enthüllung. Die Erste lautet, dass Griechenland im Jahr 2010, zur Zeit des sogenannten EU-Rettungspakets, nicht nur bankrott war und mit dem Bail-Out die französischen und deutschen Banken gerettet werden sollten, sondern dass Angela Merkel und Nicolas Sarkozy dies auch ganz genau wussten. Dieser Vorwurf ist nicht neu, linke Aktivisten und rechte Ökonomen haben ihn seither immer wieder angebracht. Varoufakis untermauert den Vorwurf jetzt mit vielen Zitaten – von denen einige aus Unterhaltungen und Telefonaten stammen, die er ohne Wissen der anderen Teilnehmer mitgeschnitten hat. Auch heute, zwei Jahre nach der letzten Wahl in Griechenland, ist dies von mehr als akademischen Interesse. Griechenland leidet weiterhin unter Schulden in Milliardenhöhe, die das Land nicht begleichen kann. Es sind deutsche und französische Steuerzahler, die die sogenannten Rettungsmaßnahmen bezahlen werden müssen, wenn die griechischen Schulden irgendwann notgedrungen abgeschrieben werden.

Die zweite Enthüllung ist, dass enge Familienmitglieder von Varoufakis bedroht wurden, als er, zur Zeit, da die Massen die Straßen und Plätze beherrschten, begann, sich auf die Seite der Bail-Out-Kritiker zu stellen. In jenen Tagen erhielt er Drohungen, meist wurden sie durch anonyme Anrufe übermittelt. Daraufhin verließ er Griechenland und ging in die USA. Nach seiner Rückkehr wurde er zum aktiven Unterstützer der linken Syriza. Er wurde gebeten, vor der Menge zu sprechen, die von Mai bis Juni 2011 den Syntagma-Platz besetzte, seine Erinnerung daran liest sich so: „Das letzte Mal, dass ich bei einer Demonstration eine Rede gehalten habe, war in Nottinghamshire, bei einer Streikpostenkette beim Bergarbeiterstreik 1984.“

Varoufakis war also drauf und dran, sich einem Stab linker Polit-Funktionäre unter Führung von Tsipras und dessen Stabschef Nikos Pappas anzuschließen, um für das Ende des Neoliberalismus zu kämpfen. Doch er hatte kaum Erfahrungen mit der organisierten griechischen Linken – einem Lager, in dem viele ausgerechnet in ihm, Varoufakis, einen Neoliberalen sahen. Denn Seine akademische Leistung bestand vor allem in der Übertragung der Spieltheorie auf die Ökonomie. Er machte deutlich: Der Feind musste glauben, dass Syriza den Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen wollte und bereit war, sich vom Euro loszusagen. So sollten die EU-Mächte überzeugt werden, fällig werdende Kredite zu verlängern und den Kollaps des griechischen Bankensystems zu verhindern.

Dieser Plan ging zunächst auf – auch wenn Syriza im Februar 2015 einen Rückzieher machen musste, sowohl rhetorisch als auch bei den innenpolitischen Plänen, soziale Einschnitte ließen sich nicht vermeiden. Wenige Monate später, im Juli, scheiterte die Taktik dann. Die Kampagne für ein Referendum über die Verhandlungen mit den Gläubigern war hoch emotional – und schließlich entschied sich Tsipras für einen Kompromiss, statt einen griechischen Bürgerkrieg zu riskieren. Ich habe Varoufakis in der Nacht des Referendums interviewt. Damals wirkte er verblüfft über den Ausgang. Und er schien sicher, dass Tsipras damit die Munition erhalten hatte, um der sogenannten Troika der Kreditgeber entgegenzutreten. Inzwischen ist indes klar geworden, dass beide Männer sich verkalkuliert haben. Varoufakis ging davon aus, dass Deutschland nicht versuchen würde, Griechenland aus dem Euro zu zwingen. Doch dann geschah genau das: Zwei Wochen nach den Bankenschließungen und dem Zusammenbruch der Wirtschaft ging es um alles oder nichts.

Die Aufgabe seines Postens ermöglichte es Varoufakis, eine weiße Weste zu behalten. Sollte die Situation sich, was durchaus denkbar ist, von jetzt an bis zum völligen ökonomischen Untergang weiter verschlechtern, wird Varoufakis’ Stimme – gemeinsam mit jenen der altgedienten Anti-Euro-Kommunisten, die sich von Syriza abgespalten haben – womöglich das Einzige sein, was die Linke in Griechenland zu einem letzten Kampf gegen Faschismus und Diktatur zusammentrommeln könnte.

Ich allerdings glaube weiterhin, dass Tsipras richtig daran getan hat, angesichts des Ultimatums der EU klein beizugeben, und dass Varoufakis mit seiner Spiel-Strategie falschlag. Tsipras und die ältere Generation ehemaliger Inhaftierter und Folteropfer, die die griechische Linke nach 1974 wiederaufgebaut hatten, zogen es vor, als Schutzschild gegen die Austeritätspolitik an der Macht zu bleiben, wenn auch angeschlagen. Immer noch besser, als die Macht wieder einem Haufen politischer Mafiosi und Superreicher auszuhändigen.

Letztlich erwies sich die Regierung Tsipras nicht als effektiver Schutz für die griechischen Arbeiter. Aber sie sollte ein effektiver Schutz für die über eine Million syrischen Flüchtlinge sein, die in den Wochen nach der ökonomischen Kapitulation an den griechischen Küsten landeten. Der Umgang Syrizas mit der massenhaften Migration mag zuweilen unbeholfen sein. Doch im entscheidenden Augenblick – zwischen Juli und Dezember 2015 – war das linksregierte Griechenland ein wichtiger Durchgangs- und Zufluchtsort für Menschen, die vor Terror und Zerstörung geflohen waren. Eine rechtskonservative Regierung hätte die Syrer auf ganz andere und unschönere Weise empfangen.

In diesem Kontext ist Varoufakis’ Version der Tsipras-Geschichte zu hinterfragen. Er wirft Tsipras Leichtfertigkeit, Melancholie und Unentschlossenheit vor. Doch im Gegensatz zu Varoufakis hat Tsipras eine Partei aufgebaut, der es gelang, die Politikerelite, die Griechenland seit Generationen des Wohlstands und der Glaubwürdigkeit beraubt hat, zu zerschlagen. Varoufakis hat sich einen Ruf geschaffen – aber keine Partei. Die Welt der Flugblätter, Streiks oder antifaschistischen Demos kommt in seinen Memoiren nicht vor. Wenn die globale Linke wieder in Schwung kommen will, braucht sie vermutlich beide: Tatkräftige Anführer wie Tsipras – die verwegene Denker wie Varoufakis finden und fördern.

Info

Die ganze Geschichte: Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment Yanis Varoufakis Ursel Schäfer, Anne Emmert (Übers.), Kunstmann, ab 20.9. 2017, 360 S., 28 €

Paul Mason beschäftigt sich als Buch- und als Guardian-Autor mit Wirtschaft und Gesellschaft Übersetzung: Zilla Hofman

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Geschrieben von

Paul Mason | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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