Ein bisschen überreagiert

Analyse Assanges Asylantrag ist ebenso hysterisch wie einst die Reaktion Washingtons auf die Wikileaks-Veröffentlichungen. Denn eines ist sicher: Er wird nicht in den USA landen
Für Assange wäre eine kurze Haft in Schweden womöglich vorteilhafter, als ein längere Aufenthalt in der Botschaft Ecuadors
Für Assange wäre eine kurze Haft in Schweden womöglich vorteilhafter, als ein längere Aufenthalt in der Botschaft Ecuadors

Foto: Geoff Caddick

Sollte Ecuador Julian Assange in seiner Botschaft in London Asyl gewähren, könnte er dort viel länger festsitzen, als wenn er nach Schweden gehen, um sich dort den Fragen und möglichen Anklagepunkten gegen ihn zu stellen.

Die Länder Südamerikas haben eine lange Geschichte, was das Gewähren politischen Asyls in Botschaften anbelangt. Lange Zeit erfolgte politischer Wandel auf dem südamerikanischen Kontinent für gewöhnlich auf dem Weg eines Staatsstreiches oder einer Revolution. Wer die Macht übernahm, sicherte sich künftige Exit-Optionen. Ein abgelöstes Staatsoberhaupt, das es in eine verbündete Botschaft schaffte, wurde ein sicherer Abgang ins Exils gewährt.

Außerhalb Südamerikas gibt es keine derartige Tradition. Der Kardinal Mindszenty kam während des Aufstands von 1956 in der US-Gesandtschaft in Budapest unter und verbrachte die folgenden 15 Jahre in einer engen Wohnung, bevor ihm die Abreise ins Exil gestattet wurde.

Die Behörden des Vereinigten Königreichs werden Assange wohl kaum erlauben, die ecuadorianische Botschaft zu verlassen, damit die in London ansässigen Botschaften nicht zum Anziehungspunkt für andere Unterschlupfsuchende werden. Die skandinavischen Gefängnisse stehen im Ruf, sehr human zu sein – keine Gitterstäbe, schöne Räumlichkeiten, Freigänge, Besuche von Ehefrauen. Für Assange wäre eine kurze Haft dort womöglich vorteilhafter, als ein Aufenthalt von unabsehbarer Dauer in der meiner Einschätzung nach recht beengten Botschaft Ecuadors.

Der Anwalt Julian Assanges hat gesagt, seinen Klienten sorgten nicht die Vorwürfe wegen Sexualdelikten, die in Schweden gegen ihn erhoben werden, sondern die Aussicht, Schweden könne ihn an die USA ausliefern. Dort stehe ihm, so sein Verteidiger, möglicherweise die Todesstrafe wegen Spionage und Hochverrat bevor. Ich bin zwar kein Experte, was die schwedischen und britischen Auslieferungsgesetze betrifft. Aber Schweden ist ein neutrales Land mit einer langen Tradition, amerikanische Wehrdienstverweigerer und Deserteure zu beherbergen. Ich habe nie verstanden, warum es Assange eher an die USA ausliefern sollte als Großbritannien. Letzteres ist immerhin ein treuer Verbündeter der USA. Und die britischen Gesetze erlauben die Strafverfolgung von Journalisten, die Amtsgeheimnisse verraten haben, in einem Maße, in dem es weder in Schweden, noch den USA möglich wäre.

In den USA herrscht laut Verfassung ein beinahe absoluter Schutz der Pressefreiheit, wodurch es fast unmöglich ist, jemanden strafrechtlich zu belangen, der Geheiminformationen veröffentlicht hat. Anfang diesen Monats brachte die New York Times einen Artikel, in dem Details über gegenwärtig laufende Geheimoperationen zu erfahren waren – unter anderem über Cyberangriffe auf das iranische Atomprogramm und die gezielte Tötung von Al-Kaida-Mitgliedern.

Diese Enthüllungen beeinträchtigen eindeutig die nationale Sicherheit der USA – der Iran, wie auch Al-Kaida werden nun wohl Maßnahmen zur Abwehr ergreifen. Dennoch verlangt niemand, dass der Reporter David Sanger oder die NYT angeklagt werden. Vielmehr wird Sanger im US-amerikanischen Fernsehen gefeiert und das Buch, das er auf Grundlage dessen verfasst hat, was er über die geheimdienstlichen Aktivitäten der USA erfahren hat, wird mit einiger Sicherheit ein Bestseller werden.

Das strategische Leaken – selbst der heikelsten Staatsgeheimnisse – hat in Washington Tradition. Während die Republikaner behaupten, diese jüngsten Leaks seien mit dem Ziel gestreut worden, Präsident Obama gut aussehen zu lassen (der hinsichtlich des Iran und der Bekämpfung des Terrorismus tatsächlich sehr viel aggressiver erscheint, als sein Vorgänger), nutzte auch die Bush-Regierung leichtfertig Geheimdienstinformationen zu eigenen Zwecken.

Zu Gute zu halten ist der Obama-Regierung, dass sie die Verfolgung von Geheiminformanten ernst nimmt. Sie hat nicht nur Anklage gegen den Gefreiten Bradley Manning (Assanges mutmaßliche Quelle) erhoben, sondern auch ein Ermittlungsverfahren bezüglich der jüngsten Leaks eingeleitet und sich willens gezeigt, Journalisten zu zwingen, über ihre Quellen auszusagen.

Das von Wikileaks veröffentlichte Material ist zwar mit Millionen von Seiten geheimer Depeschen des Außenministeriums enorm umfangreich, enthält aber keine Geheimdienstberichte und nur sehr wenig wirklich sensible Informationen. (Um nichts zu verschweigen: Auch von mir während meiner Zeit als Botschafter in Kroatien verfasste Kabel waren dabei.) Botschafter nutzen für politische Empfehlungen, Erörterungen von Geheimdienstaktivitäten und Berichte über heikle Treffen mit hohen Staatsvertretern in der Regel besondere Kanäle. Zu Depeschen oder Geheimdienstberichten, die über solche Kanäle laufen, hatte Manning keinen Zugriff.

Washington hat bezogen auf die tatsächliche Sensibilität des veröffentlichten Materials höchst unverhältnismäßig auf Wikileaks reagiert. Auch wenn ein republikanischer Kongressabgeordneter gar die Todesstrafe verlangt hat (wie die Republikaner es über die Jahre übrigens für so ziemlich alles außer das Überziehen von Bibliotheksleihfristen getan haben), findet die Strafverfolgung auf Grundlage des Gesetzes statt. Die Veröffentlichung geheimer Dokumente verstößt nicht gegen das Gesetz, andere vorgeschlagene Anklagepunkte – wie die Verschwörung zum Diebstahl von Eigentum der US-Regierung – sind bislang niemals gegen Medienorganisationen erhoben worden und würden mit annähernder Gewissheit auch in einem Verfahren gegen Assange scheitern.

Die WikiLeaks-Depeschen haben ein paar Botschafterlaufbahnen verkürzt und einige peinliche Entschuldigungen an ausländische Staatschefs erzwungen. Sie haben darüber hinaus gezeigt, dass die amerikanischen Diplomaten die Szenerien im Ausland mit Scharfsinn beobachten und Auto- oder Kleptokraten (auch befreundeter Länder) nicht gerne hinnehmen. In Tunesien trugen Depeschen, die die Korruption innerhalb des Ben Ali-Regimes schilderten, zu den Aufständen bei, die den Arabischen Frühling auslösten.

Julian Assange bleibt vielleicht in der ecuadorianischen Botschaft, vielleicht wird er sich auch in Schweden den gegen ihn erhobenen Vorwürfen stellen. In den USA wird er aber nicht landen. So gerne US-Politiker ihn auch im Gefängnis sehen mögen, wären die juristischen und verfassungsrechtlichen Hürden für eine erfolgreiche Anklage doch unüberwindbar. Für eine Auslieferung gibt es keine Grundlage.

Sehr wohl hingegen verfügt das Außenministerium über Ermessen bei der Visa-Vergabe. Assange würde wohl keins kriegen.

Peter Galbraith war lange im diplomatischen Dienst der USA tätig. Er war von 1993 bis 1998 der erste US-Botschafter in Kroatien und zuletzt der stellvertretende Sondergesandte der Vereinten Nationen in Afghanistan.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Peter Galbraith | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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