Ein Hauch von Vanille

Gewalt Als Studentin wird sie vergewaltigt. Mehr als 20 Jahre später bekommt sie einen parfümierten Brief von ihrem Peiniger – und antwortet ihm

Es war im Spätsommer 2005, wir wollten gerade mit unserer zwei Jahre alten Tochter in den Urlaub fahren, als mein Mann rief: „Hey, du hast ’nen Brief gekriegt“, und mir den Umschlag zuwarf wie eine Frisbee. Das Papier verströmte einen leichten Vanillegeruch. Ich riss ihn auf und fing an, die beinahe feminin geschwungene Schrift zu lesen:

Liebe Elizabeth,
im Oktober 1984 habe ich dich verletzt. Ich kann kaum erfassen, was meine Handlungen aus deiner Sicht angerichtet haben. Aber ich bin bereit zu hören, wie und in welcher Weise du durch mich zu Schaden gekommen bist, sowie anzufangen, das Unrecht, das ich begangen habe, wiedergutzumachen – auf welche Weise du es auch für angebracht hältst. Mit den allerbesten Grüßen,
Will

Die Verbindungsparty

1984 hatte ich gerade mein Studium an der Universität von Virginia in Charlottesville begonnen. Ich war ein Einzelkind und die Erste aus meiner Familie, die studierte. Ich hatte meinen Schulabschluss als Klassenbeste gemacht und hatte vor, es weit zu bringen. Dieser Traum sollte fünf Wochen später schlagartig zerstört werden. Ein Bekannter flehte mich an, ihn zu einer Party in den wuchtigen Ziegelbau mit weißen Säulen zu begleiten, der den Mitgliedern von Phi Kappa Psi als Verbindungshaus diente. Widerwillig zog ich meine Jogginghose aus und einen Jeans-Minirock an, dazu einen Pullover mit Rundhalsausschnitt, flache blaue Schuhe und eine Perlenkette.

Als wir ankamen, war die Party bereits im Gang – Live-Musik, Bier, Studenten. Nichts Ungewöhnliches, bis auf die Tatsache, dass mein Begleiter schwul war, was damals noch nicht so akzeptiert war. Also hielt ich mich an seiner Seite, während wir durch das Haus zogen und uns anhörten, wie die Brüder von Tradition sprachen und davon, welche Ehre es sei, als Mitglied ausgewählt zu werden.

Irgendwann wurde mein Begleiter eingeladen, Hasch zu rauchen. Ich wollte nicht damit anfangen, also entschied ich mich, im zweiten Stock zu warten. Das, so dachte ich, sei sicherer, als allein nach Hause zu laufen. Ich setzte mich auf ein Sofa in der Nähe einer Bar, an der zwei Brüder Barkeeper spielten. „Die Spezialität des Hauses – bitte sehr!“ Mit diesen Worten boten sie mir ein grünes Getränk in einem Plastikbecher an. Ich nahm an, lehnte mich zurück, nippte und wartete.

Plötzlich bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte. Erst konnte ich meine Hände und Füße nicht spüren, bald auch Arme und Beine nicht mehr. Da kam ein sehr großer, eulenhaft aussehender Mann mit Brille herein und fragte mich, woher ich käme, was mein Hauptfach sei und wo ich wohnte. Ich antwortete schmallippig und wünschte mir nur, bald nach Hause gehen zu können, weil ich sehr müde war.

Dann packte mich der Mann am Arm und sagte laut: „Ich will dir etwas zeigen!“ Ich sagte Nein. Ich konnte nicht richtig laufen, aber der Fremde zerrte mich wie eine Stoffpuppe den Flur hinunter in einen Raum und dort auf seinen Schoß. Er begann, mir etwas aus einem Gedichtband vorzulesen. Ich versuchte, mich zu befreien. Er steckte mir seine Zunge ins Ohr und sagte, ich solle stillsitzen. Da schoss das Adrenalin in mir hoch, ich riss mich los und rannte schreiend auf den Flur. Genau in diesem Augenblick wurde die Musik lauter gedreht und einer der Typen von der Bar kam ruhig zu mir herüber und beförderte mich zurück in die Arme des bebrillten Fremden.

Was dann passierte, ist unaussprechlich. Er vergewaltigte mich mehrfach, obwohl ich schrie. Immer wieder wachte ich in dieser Nacht auf, hörte Stimmen, fühlte Hände auf mir. Ich konnte mich nicht bewegen. Endlich wurde es hell. Ich bemerkte, dass ich auf einem orangefarbenen Sofa lag und mit einer schmutzigen, blutbefleckten Decke zugedeckt war. Als ich mich aufsetzte, stellte ich entsetzt fest, dass Blut an meinen Beinen heruntergelaufen und getrocknet war. Nachdem ich es abgewischt und meine Kleider gefunden hatte, ging ich die Treppe hinunter und trat hinaus in einen sonnigen Oktobermorgen.

Dekan und Unipolizei bleiben untätig

Ich machte mich auf den Weg in das medizinische Zentrum der Uni. Nachdem ich dort stundenlang gewartet und mich anstarren lassen hatte, wurde mir gesagt, dass man die nötigen Untersuchungen vor Ort nicht machen könne und ich in das Krankenhaus einer größeren Stadt gehen solle, um mich dort gerichtsfesten Tests zu unterziehen.

Ich ging zurück in mein Wohnheim und erzählte meinen Mitbewohnern und dem Vertrauensstudenten im Wohnheim, was mir widerfahren war. Einige waren sehr mitfühlend, andere verdrehten die Augen. Viele gingen einfach weg. Mein Körper war mit blauen Flecken übersät – an Kopf, Wangenknochen, Füßen, Rippen, Beinen und natürlich auch im Intimbereich. Endlich konnte ich duschen, aß ein wenig Suppe und schlief anschließend zwölf Stunden.

Am folgenden Montag traf ich mich mit dem Dekan. Noch immer unter Schmerzen berichtete ich, was bei Phi Kappa Pi passiert war. Er fragte mich verblüfft: „Sind Sie sich sicher, dass sie nicht freiwillig mit diesem Mann geschlafen haben? Oder wollen sie nur nicht zugeben, dass Sie kein braves Mädchen sind?“ – „Nein, es ist, wie ich sage: Ich wurde vergewaltigt.“

Der Dekan erklärte mir, dass man nicht die örtliche Polizei rufen könne, da das Haus der Verbindung unter „die Zuständigkeit der Hochschule“ falle und ich die Sache der Unipolizei melden solle. Zuvor noch hatte er mir angeboten, mich aufgrund meiner „misslichen Lage“ an eine andere Hochschule zu vermitteln. Ich sagte Nein.

Die Universitätspolizei fand nie etwas heraus. Immer wenn ich anrief, bekam ich zu hören: „Sie werden zurückgerufen.“ Das geschah aber nie. Die Unileitung sagte mir, sie hätte sich mit dem Mann unterhalten und der habe gesagt, die Sache sei einvernehmlich geschehen. Er verlasse die Uni und stelle somit „keine Gefahr mehr“ dar. Eines Nachts holte ich die Tüte mit den Kleidern, die ich in jener Nacht getragen hatte und verbrannte sie auf dem Friedhof. Ich hatte verloren.

Ein Brief und die Aufarbeitung

Doch dann schrieb mir mein Vergewaltiger einen Brief, um sich zu entschuldigen.

Nach einer schlaflosen Nacht beschloss ich, ihm zu antworten. Ich musste sicher sein, dass er wirklich in Las Vegas war, wie auf dem Absender vermerkt und nicht um mein Haus herumschlich. So saß ich am Pool, zog verstohlen an einer Zigarette, obwohl ich schon vor Jahren aufgehört hatte, und verfasste auf meinem Blackberry eine Antwort.

Ich habe Ihren Brief erhalten, mein Leben wurde durch die Tatsache, dass sie mich ver-gewaltigt haben, auf furchtbare Weise beeinträchtigt, und ich will wissen, warum Sie das getan haben und warum Sie sich nun mit mir in Verbindung setzen. Jede Entscheidung meines Lebens ist von dem Bedürfnis beeinflusst worden, mich sicher zu fühlen. Nun fühle ich mich wieder unsicher. Wie können Sie mit sich selbst leben?

Ich unterschrieb nicht. Er würde schon wissen, von wem der Brief war. Während unseres Urlaubs schaute ich nun immer wieder auf meinen Blackberry. Dann ging eine neue Nachricht mit seinem Namen ein. Er beschrieb die Selbstsucht seiner Jugend, damals habe er kaum über seine Handlungen nachgedacht, vor allem nicht, wenn er getrunken habe. Er sei inzwischen den Anonymen Alkoholikern beigetreten. Er wolle die Fehler der Vergangenheit wiedergutmachen. Sein Verbrechen schien er als einen Kollateralschaden seines Lebens als Trunkenbold zu betrachten. Er schrieb, er bete für mich.

Es war wie eine Folter, ich konnte das nicht als letztes Wort stehenlassen. In dieser Nacht schrieb ich zurück:

Sind Sie verheiratet? Weiß Ihre Frau, was Sie getan haben? Mein Leben war die Hölle nach der Vergewaltigung.

Beinahe 24 Stunden später summte mein Blackberry erneut. Wieder schrieb er nur von sich selbst. Er schwafelte über sein „spirituelles Erwachen“ und verschiedene Reha-Maßnahmen. Auf meine Fragen ging er nicht ein, gab nur zu, das er nie verheiratet gewesen sei, weil er „nie wahre Einheit mit einer Frau finden konnte“. An einer Stelle schrieb er: „Ich erinnere mich, dass Sie naturblond waren.“ Als ich das las, hätte ich den Blackberry beinahe in den Pool fallen lassen.

Anzeige nach 20 Jahren

Anfang Dezember dann griff ich zum Telefon, wählte nach kurzem Zögern die Nummer der Polizei von Charlottesville und hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter des obersten Beamten:

Hi, Sie kennen mich nicht, aber ich habe an der Universität studiert und wurde 1984 im Phi Kappa Psi-Haus von einem Mitstudenten vergewaltigt. Ich habe dem Dekan und der Universitätspolizei davon berichtet, doch es wurde nichts unternommen. Dieser Mensch hat Kontakt zu mir aufgenommen und weiß, wo ich wohne. Sir, ich glaube, ich brauche Ihre Hilfe.

Schon nach 45 Minuten rief der Chief zurück. Er war höflich und sachlich und erklärte mir, dass das Verbindungshaus sehr wohl der Zuständigkeit der Polizei von Charlottesville unterliege und das auch schon immer so gewesen sei. Mein Gehirn blockierte. War ich belogen worden? Der Chief sagte außerdem, dass Vergewaltigung in Virginia nicht verjährt und der Täter für sein Verbrechen immer noch angeklagt werden könne.

Am nächsten Nachmittag klingelte das Telefon. Ein Kriminalpolizist fragte, ob ich bereit sei, nach Charlottesville zu kommen und eine Aussage zu machen. Am Abend des 10. Dezember 2005 zeigte ich zwei Polizisten aus dem Auto heraus das lachsfarbene Gebäude, in dem sich damals die Universitätspolizei befand. Ich zeigte ihnen auch das Phi Kappa Psi-Haus. „Dort wurde ich vergewaltigt“, sagte ich und deutete auf das Fenster ganz rechts im zweiten Stock. „Es gibt dort ein Fenster zur Straße raus und davor stand ein Bett.“

Endlich fuhren wir zurück zur Wache. Ich bat um ein Blatt Papier und fertigte eine Zeichnung von dem Raum, in dem alles geschehen war – inklusive mir als Strichmännchen auf Bett und Sofa. Ich hörte, wie die Uhr an der Wand leise tickte. Dann kamen wir zu der Stelle, an der ich die eigentliche Vergewaltigung schildern musste. Die Geschichte, die ich so lange in mir begraben hatte, strömte aus mir heraus. Meine Aussage dauerte mehr als zwei Stunden. Man hörte mir zu, hörte mich an und ich würde nie wieder schweigen. „Ich denke, wir haben genug“, sagte der eine Polizist und stoppte die Aufnahme. Ich fragte mich: Genug wofür?

„Möchten Sie Anzeige wegen Vergewaltigung im Oktober 1984 erstatten?“ Ich fing an zu schluchzen. „Ja“, sagte ich, „ich möchte bitte Anzeige erstatten.“

Am 4. Januar 2006 wurde mein Vergewaltiger festgenommen. Mir wurde berichtet, dass bei der Verhaftung ein gepackter Koffer und ein Pass in der Diele seines Hauses gefunden wurden, er aber keinen Widerstand geleistet habe. Es stellte sich heraus, dass er, um meine Adresse herauszufinden, nur das Ehemaligenbüro der Universität hatte anrufen müssen – dort hatte er sie ohne Nachfrage erhalten.

Ich war, wie ich vermutet hatte, Opfer einer Gruppenvergewaltigung geworden. Die Beweise reichten für eine Anklage der anderen Beteiligten aber nicht aus. Mein Vergewaltiger bestellte ein teures Anwaltsteam und plädierte schließlich auf schuldig. Sein Plädoyer dauerte zwei Stunden und er starrte mich dabei die ganze Zeit an, so dass der Richter ihm schließlich verbot, mich anzusehen.

Er wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt, siebeneinhalb davon zur Bewährung. Insgesamt saß er weniger als sechs Monate ab. Später wurde mir gesagt, er sei durch einen Fehler nicht als Gewalttäter eingestuft worden.

Liz Seccuro hat ihre Erlebnisse im Guardian und in dem Buch Crash Into Me veröffentlicht.

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Mit Lust am guten Argument

Übersetzung der gekürzten Fassung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Liz Seccuro | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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