Ein Haufen Dreck

Sechs Stunden Lennon solo: In einem verschollen geglaubtem Interview von 1968 wehrt sich der Beatle gegen den Vorwurf der Anpassung

Nach über 40 Jahren ist es John Lennon nun doch noch vergönnt, dass seine wütende Reaktion auf die Behauptung, der berühmte Beatles-Song Revolution sei nicht revolutionärer als das damals BBC-Hörspiel Mrs Dale`s Diary, das Licht der Öffentlichkeit erblickt.

Die spöttische Bemerkung, die Beatles hätten sich an das Establishment verkauft, wurde 1968 in einem in Tariq Alis radikalem Journal Black Dwarf veröffentlichtem Leserbrief erhoben, der damit schloss, der radikale Anspruch der Erzfeinde von den Rolling Stones sei glaubwürdiger als der der Beatles.

Nun offenbart ein anscheinend in Vergessenheit geratenes Interview, wie John Lennon diese Kritik damals empfand. „Es bringt nichts, ein paar verdammten Tories eine reinzuhauen“, regte Lennon sich gegen Ende eines Jahres auf, in dem Demonstrationen und Streiks von Studenten, Gewerkschaften und politischen Organisationen Europa erschüttert hatten. „Das System ist ein Haufen Dreck. Aber wir erreichen nichts, wenn wir es einfach kapttschlagen.“

Musikfans von heute werden sich über die Umstände wundern, unter denen das Interview zustande kam und geführt wurde: Lennon redete sechs Stunden lang in seiner Wohnung in Surrey mit einem eingeschüchterten Studienanfänger, der hunderte Meilen zu Lennon getrampt war, nachdem er in einem Brief an ein Fanzine um ein Interview gebeten hatte. Zu essen gab es dabei lediglich makrobiotisches Brot und von Yoko Ono selbstgemachte Marmelade.

Ein kleiner Ausschnitt wurde im Studentenmagazin der Keele University veröffentlicht, der Großteil blieb aber in den Unterlagen von Maurice Hindle. Der Student von damals arbeitet heute an der Open University und ist gerade dabei, ein Buch über John Lennon fertig zu stellen. Den gesamten Text hat er heute im New Statesman veröffentlicht.

Makrobiotisches Brot und Marmelade

„Vor dem Bahnhof in Weybridge hielt ein Mini Cooper mit getönten Scheiben an, der aussah, als sei er dem Film The Italian Job entsprungen. Am Steuer saß Lennon. Er sah aus wie auf dem Farbbild, das auf dem Weißen Album der Beatles von 1968 zu sehen ist: ausgewaschene Levi`s-Jacke, weißes T-Shirt und Jeans, schmutzige weiße Turnschuhe. Sein schulterlanges Haar war in der Mitte gescheitelt und er trug die heute berühmte Oma-Brille.

Wir Studenten quetschten uns auf den Rücksitz des Mini und John fuhr uns die holprige Privatstraße hinauf, die zu seinem Haus in Kenwood führte. In einem Wohnzimmer im hinteren Teil des Hauses setzten wir uns im Schneidersitz auf dicke indische Teppiche an niedrige Tische. Yoko redete nur sehr wenig, denn wir alle wussten, dass dies Johns Tag war – und er redete eine ganze Menge: abgesehen von einer kurzen Pause, in der Yoko uns makrobiotisches Brot und selbstgemachte Marmelade zu essen gab, sechs Stunden lang.

Er war erzürnt über den offenen Brief von John Holyland in Black Dwarf. „Natürlich gab es Millionen von Veränderungen, aber ich mache immer noch genau das Gleiche, was ich in der Schule und als Beatle getan habe. „Ich habe nicht vor, zum Märtyrer zu werden, wenn es sich vermeiden lässt, daher bin ich Kompromisse eingegangen. Aber man soll mir denjenigen zeigen, der das nicht getan hat und noch am Leben ist.“ „Ich hab immer gesagt: „Steig nicht aus, Mann – verändere die Gesellschaft von innen!“ .

John Lennon wurde am achten Dezember 1980 auf der Schwelle des Dakota Building in New York, in dem er ein Apartment besaß, von Mark Chapman erschossen. Damals hatte er aber schon lange seinen Frieden mit Tariq Ali gemacht und seine revolutionären Lorbeeren zurückerlangt. Vor vier Jahren veröffentlichte das US-amerikanische Journal Counterpunchin ganzer Länge ein ausführliches, von Ali und Robin Blackburn ursprünglich für die trotzkistische Red Mole geführtes Interview, in dem Lennon mit Ali darin übereinstimmte, er werde „zunehmend radikaler und politischer“.

Lennon betonte, dass daran nichts Neues sei: „Ich war schon immer ein politischer Mensch und gegen den Status Quo. Das ist recht elementar, wenn man wie ich dazu erzogen wurde, die Polizei als natürlichen Feind zu betrachten und die Armee als etwas zu verachten, das alle wegholt, um sie dann irgendwo tot zurückzulassen.“


Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Maev Kennedy, The Guardian | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

The Guardian

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden