Ein Krieg der Konfessionen

Naher Osten Der syrische Bürgerkrieg wird immer unübersichtlicher. Wie sehr befeuern eigentlich die religiösen Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten diesen Konflikt?
Ausgabe 25/2013

Am 31. Mai beschimpfte der einflussreiche sunnitische Geistliche Yusuf al-Qaradawi die libanesisch-schiitische Hisbollah als die „Partei des Satans“. Deren Kämpfer hatten Baschar al-Assad dabei unterstützt, die syrische Stadt al-Kusair einzunehmen. Der Prediger, der kurz zuvor in Doha sprach und dessen Predigten von Millionen gehört werden, ging sogar noch einen riskanten Schritt weiter: Er forderte jene sunnitischen Moslems, die eine Militärausbildung haben, auf, sich dem Aufstand gegen Assad anzuschließen. Dieser Auftritt hat gezeigt, dass nicht nur die konfessionellen Spannungen im Nahen Osten zunehmen, sondern auch die Rhetorik selbst an Schärfe gewinnt.

Als ich Al-Qaradawi im Herbst 2012 in der vollen Al-Azhar-Moschee in Kairo predigen hörte, verurteilte er zwar das Assad-Regime, ging aber noch nicht soweit, zum Dschihad aufzurufen. In Doha hingegen prägte ein gefährlich sektiererischer Tonfall seine Rede: „Der Anführer der Partei des Satans kommt, um die Sunniten zu bekämpfen. Nun wissen wir, was die Iraner wollen... Sie wollen, dass weiterhin Massaker stattfinden, bei denen Sunniten getötet werden. Wie konnten hundert Millionen Schiiten 1,7 Milliarden Sunniten besiegen? Weil die sunnitischen Muslime schwach sind.“

Syrien: wie ein Magnet

Al-Qaradawis Bemerkungen, denen der saudische Großmufti Abdullah Al asch-Schaich beipflichtete, kamen keineswegs aus dem Nichts. Sie waren vielmehr als Replik auf jene Ansprache gedacht, die kurz zuvor Hassan Nasrallah in Beirut gehalten hatte. Der Hisbollah-Generalsekretär bestätigte darin nicht nur, dass seine Kämpfer in Syrien präsent sind – er schwor auch, sie würden Präsident Assad, der schiitischer Alawit ist, zum endgültigen Sieg verhelfen.

Wenn man überhaupt Belege dafür braucht, dass die Region in eine wachsende Instabilität gerät, dass der syrische Bürgerkrieg daran großen Anteil hat und dass alles eine immer stärker sektiererische Dimension annimmt – dann hat es diese in den vergangenen Wochen gegeben. Etwa in den Trümmern al-Kusairs, das von einer Allianz aus Truppen der Hisbollah und Assads eingenommen wurde. Oder in der libanesischen Küstenstadt Tripoli, in der sich alawitische und sunnitische Milizen weiter Gefechte liefern.

Man kann das auch im Irak beobachten. Dort folgt im Wochentakt eine tödliche Konfrontation der anderen, angefeuert von der Eskalation in Syrien ebenso wie den internen Spannungen. Im Mai kamen dort über eintausend Menschen ums Leben – innerhalb eines Monats so viel wie seit dem Jahr 2008 nicht mehr. Syrien jedoch bleibt der Schmelztiegel. Wie ein Magnet zieht das Land Kampfwillige an, sunnitische Dschihadisten ebenso wie irakische und libanesische Schiiten.

Immer wieder ist dabei von der unlösbaren religiösen Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten – eben jenem Schisma, das seit 1.400 Jahren im Islam besteht – die Rede, dass es schon wie ein Klischee klingt. Tatsächlich äußert sich in den Spannungen, wie sie im Augenblick den Nahen Osten in Schach halten, nicht allein religiöser Hass. Das Konflikttableau ist sehr viel komplexer und erfasst eben auch das Ringen um Macht, kulturelle Rechte und Identitäten, das sich durch den Krieg im Irak und den Arabischen Frühling weiter verschärft hat.

Im Kern geht es um die Fragen: Wie sehr befeuern die religiösen Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten die neuen Konflikte? Oder werden sie für lokale und regionale Rivalitäten vereinnahmt, bei denen es weniger um Religion als um Macht, Politik und Ressourcen geht?

Der Bruch zwischen den zwei Strömungen des Islam ist beinahe so alt wie die Religion selbst. Er resultiert aus dem Streit im 7. Jahrhundert um die Führung nach dem Tod des Propheten. Es entstanden Deutungen der mohammedanischen Lehren, die teils subtil, teils radikal voneinander abwichen. Dennoch gibt es in der islamischen Geschichte kein Äquivalent zum Dreißigjährigen Krieg, in dem sich in Europa Protestanten und Katholiken gegenüberstanden. Vielmehr haben Schiiten und Sunniten lange Zeit und vielerorts – ungeachtet der jetzigen Probleme im Irak und in Syrien – nicht nur zusammengelebt, sondern oft auch untereinander geheiratet.

Marc Lynch leitet das Institute for Middle East Studies an der George Washington University. Er warnte kürzlich im US-Magazin Foreign Policy, die alleinige Betonung des Sektierertums sei nicht hilfreich. „Das dominierende Narrativ vom Kampf zwischen den konfessionellen Ausrichtungen des Islam“, schrieb er, „verdeckt die wichtigsten Konfliktlinien im Nahen Osten eher, als sie aufzuzeigen. Die Zukunft wird von der Konkurrenz zwischen (vornehmlich sunnitischen) Machtaspiranten arabischer Transformationsstaaten wie Ägypten, in denen radikale Ungewissheit herrscht, und (vornehmlich sunnitischen) Anwärtern auf die regionale panarabische Führung geprägt sein. Anti-Schiitismus garantiert die sunnitische Einheit genauso wenig, wie der Panarabismus in den fünfziger Jahren zur arabischen Einheit geführt hat.“

Mit anderen Worten, die aufkommenden Konflikte spielen sich größtenteils mehr zwischen Sunniten – statt zwischen Sunniten und Schiiten – ab. Lynch verweist auch auf die Rivalität zwischen Katar und Saudi-Arabien, die in Syrien jeweils verschiedene Rebellenfraktionen bewaffnet haben. Dies, meint er, habe die Einheit des Anti-Assad-Lagers untergraben.

„Ziemlich pessimistisch“ beurteilt hingegen Geneive Abdo vom Thinktank Stimson Center – sie ist Autorin des Buches The New Sectarianism – das gegenwärtige Verhältnis zwischen Sunniten und Schiiten. Dessen Kontext sei eine „Intensivierung“ der religiösen Identität im gesamten Nahen Osten, die sich nicht so einfach mit Bezug auf soziale, ökonomische oder politische Kontexte erklären ließe. „Man darf nicht vergessen – das erneute Aufbrechen innerislamischer Konflikte nahm seinen Anfang teilweise im Irak nach der US-Invasion. Der Sturz autoritärer Regime während des Arabischen Frühlings fiel zusammen mit einem erhöhten Interesse an Identitätspolitik jeder Art – auch der konfessionellen.“

Das heißt, Abdo und andere Analysten verorten die Ursprünge momentaner Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten weniger in einer weit zurückliegenden Vergangenheit als vielmehr in den sechziger und siebziger Jahren. Damals entstand im Libanon die schiitische Wiedererweckungsbewegung, die sich – wie die syrische Opposition heute – für das Recht auf Gleichheit und Inklusion von Schiiten in sunnitisch regierten Ländern einsetzte. Abdo erkennt hinter dem neuen Sektierertum verschiedene Faktoren. Sie zählt dazu die Art des Engagements sunnitischer und schiitischer Staaten in Syrien ebenso wie den religiösen Hader dort selbst. Eine Rolle spiele aber auch die Lage in Ländern wie Bahrain, wo eine sunnitische Monarchie mit einer schiitischen Bevölkerungsmehrheit um politische Rechte ringt und der Eindruck herrscht, die Rivalität sei religiöser Natur. Das Ganze sei eine sich selbsterfüllende Prophezeiung.

Zynisch missbraucht

Die Frage, inwieweit Konfessionszugehörigkeiten bei Konflikten wie in Syrien ausschlaggebend sind, wird noch durch einen anderen Umstand verkompliziert: Das Gespenst eines Krieges der Konfessionen zwischen Sunniten und Schiiten werde auf zynische Weise benutzt, schrieb etwa der irakische Gelehrte Harith al-Qarawee Anfang 2013 über den Irak. Dort würden „politische Akteure konfessionelle Identitäten instrumentalisieren, um politische Ziele zu erreichen. Auch wenn kultureller Symbolismus und kollektive Narrative einen Anteil an diesem Prozess haben, sind die wirklichen Ziele politisch – und sehr kalkuliert.“

Darüber hinaus verweist Al-Qarawee auf eine derzeit stattfindende „Sunnifizierung“. Im Irak zum Beispiel habe dies dazu geführt, dass sich die Minderheit der Sunniten – die das Land einst dominierte, im schiitisch beherrschten Irak nach Saddam Hussein aber politisch und wirtschaftlich marginalisiert ist – zunehmend ihrer konfessionellen Identität zuwendet. Mit weitaus weniger gefährlichen Konsequenzen fiel diese „Bewusstwerdung“ mit dem Aufstieg neuer islamistischer Regierungen in der ganzen Region zusammen, die in enger Verbindung zur Muslim-Bruderschaft stehen.

Andere Analysten sind der Ansicht, der Eindruck einer konfessionellen Krise, die sich vor allem in Syrien zeige, sei von der Assad-Regierung geschürt worden. „Das sektiererische Element wurde im März 2011 von den Assad-Leuten selbst in die Revolution hineingetragen“, sagt die syrische Autorin Rime Allaf. „Man hat sich auf diese Vorstellung gestürzt, da sie Angst auslöst. Das Regime und seine Alliierten bei der Hisbollah versuchen, den Eindruck zu erwecken, sie seien in der Defensive. Aber die Leute nehmen ihnen das nicht ab.“ Assads Zusammenarbeit mit der Hisbollah sei auf sein Misstrauen gegenüber Teilen der eigenen Streitkräfte zurückzuführen wie auf eine regional übergreifende strategische Allianz vom Iran bis zum Libanon.

Wie zu erwarten, hat die offene Beteiligung der Hisbollah an den Kämpfen in al-Kusair die Alarmglocken schrillen lassen. Dazu sollte jedoch angemerkt werden, dass das Interesse dieser Schiiten-Milizen gar nicht so viel mit dem Schicksal ihrer alawitischen Glaubensbrüder in Damaskus zu tun hat: Der Hisbollah geht es vor allem um ihr Überleben und die eigenen Interessen. Der Günstling des Iran im Libanon konnte sich lange darauf verlassen, dass Syrien als Transitland für hoch entwickelte Waffen und anderen Beistand fungierte, die es der Bewegung erlaubten, in der Zedern-Republik einen unverhältnismäßig großen Einfluss auszuüben.

Kein Afghanistan

Vali Nasr aus dem Beraterstab des US-Außenministeriums hat in einem Buch mit dem Titel The Shia Revival die wachsende Bedeutung des schiitischen Einflusses nach dem Sturz Saddam Husseins nachgezeichnet. Er meint zu der Aussage des Predigers Al-Qaradawi, Sunniten könnten nur besiegt werden, wenn sie „schwach“ seien: „Hisbollah und der Iran haben nun einmal etwas richtig Großes abgezogen. In al-Kusair haben sie gezeigt, dass sie besser kämpfen können als die Sunniten. Für Leute wie den Prediger Al-Qaradawi, die der wahren Religion zu einer Vormachtstellung verhelfen wollen, darf es nicht sein, dass die Sunniten als schwach vorgeführt werden.“

Nasr prognostiziert schon seit langem eine maßgebliche Verlagerung des nahöstlichen Gravitationszentrums zum schiitischen Irak und Iran. Er widerspricht aber der These, ein neuer „schiitischer Dschihadismus“ sei im Entstehen. Vielmehr müsse man unterscheiden zwischen einzelnen schiitischen Kämpfern, die aus dem Irak nach Syrien kämen, und sunnitischen Dschihadisten, die anreisen, um für dschihadistische Sunniten-Gruppen wie Jabhat al-Nusra zu kämpfen. „Für Schiiten ist Syrien nicht der Spanische Bürgerkrieg oder Afghanistan. Viele der Schiiten, die aus Ländern wie dem Libanon oder dem Irak zum Kämpfen kommen, tun das in dem Glauben, sie stritten für sich selbst.“ Er fügt hinzu: „All diesen Leuten ist Syrien nicht unbedingt wichtig, weil es ihnen um die Syrer geht. Es geht ihnen um ihre eigenen Kämpfe.“

Vali Nasr ist optimistischer als die meisten anderen Beobachter. Er glaubt, bei den derzeitigen Unruhen kündige sich die letztendliche Entwirrung des regionalen Gefüges an, wie es dem Sykes-Picot-Abkommen zu verdanken sei, das 1916 die Zerschlagung des Osmanischen Reiches vorweggenommen habe. „Diese Strukturen lösen sich nun auf: erst unter den Stiefeln der US-Soldaten nach der Irak-Intervention, nun unter den Sohlen derjenigen, die im Arabischen Frühling für Demokratie und Gerechtigkeit demonstrieren.“

Peter Beaumont ist Guardian -Kolumnist Übersetzung: Zilla Hofman

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Peter Beaumont | The Guardian

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